Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 17, 2023
Die Entwicklungspsychologin Bonnitta Roy übt und vermittelt Praktiken, die zu Weisheit führen können. Aber sie selbst sieht sich als Lernende von der jungen Generation. Wir sprachen mit ihr über verkörperte Formen der Weisheit und die neuen alten Weisen.
evolve: Eine einfache Art, Weisheit zu beschreiben, stammt von dem Kognitionswissenschaftler John Vervaeke: So wie das Verhältnis des Kindes zum Erwachsenen, so sei das Verhältnis des Erwachsenen zum Weisen. Das gibt uns ein erstes einfaches Verständnis von dem, worüber wir sprechen. Nun leben wir in besonderen Zeiten, mitten in einer zivilisatorischen Krise, zu deren Bewältigung Weisheit dringend notwendig ist. Wie können wir in diesem Zusammenhang Weisheit erlernen?
Bonnitta Roy: Man kann Weisheit nicht direkt lehren, sie ist ein Prinzip, das einer bestimmten Qualität der Teilhabe zugrunde liegt. Menschen, die wir als weise bezeichnen, haben sich über einen langen Zeitraum hinweg tief und innig mit etwas beschäftigt. Es ist eine erfahrungsbasierte, lebenslange Entfaltung. Zum Beispiel entwickeln Menschen, die viele Jahre lang dasselbe Stück Land bearbeiten, eine bestimmte Art von Weisheit in Verbindung mit diesem Land.
Ich engagiere mich seit 30 Jahren in meiner Arbeit als Entwicklungspsychologin, so dass ich heute mehr anbieten kann als vor 30 Jahren. Außerdem arbeite ich seit vielen Jahren mit Pferden und in meinem Garten. Was ich in diesen Bereichen beizutragen habe, kommt von der Hingabe an diese Tätigkeiten.
Weil Weisheit auf diese Weise wächst, kann ich sie nicht schnell in einem Gespräch auf jemanden übertragen. Es gibt keine Abkürzung. Es gibt etwas an der Weisheit, das sich in dem Maße zurückzieht, wie sie wächst. Man wird besser in der Gartenarbeit, aber man spricht weniger über die Prinzipien der Weisheit der Gartenarbeit. Es ist nicht so, dass du Weisheit machen kannst, du wirst weise.
Eine tiefe Wechselbeziehung
e: Kommt der Weisheit in dieser Krisenzeit eine besondere Rolle zu?
BR: Als Antwort möchte ich eine daoistische Geschichte erzählen. Ein Weiser unterrichtet junge Männer, und sie sind sehr stolz auf sich, weil sie all diese klugen Dinge sagen können. Und er sagt: »Ihr denkt, ihr seid klug, weil ihr die Sprache so klug benutzen könnt. Aber die alten Weisen haben die Sprache erfunden. Ihr denkt, ihr seid so schnell beim Laufen, aber die alten Weisen haben das Gehen auf zwei Beinen erfunden.« Die Formulierung die alten Weisen könnten wir heute als den Prozess der Evolution interpretieren. Diese Geschichte gibt uns Anlass zu fragen, was sich in unserer Zeit entwickeln könnte.
Heute arbeiten die alten Weisen vielleicht an ebenso großen Veränderungen wie dem Erlernen der Sprache. Wir wissen nicht, wie wir sprechen lernen. Niemand weiß, wie es passiert ist, und doch ist es etwas, das wir gelernt haben. In meiner Arbeit versuche ich, solche Transformationen zu verstehen. Es gibt Qualitäten, die sich in uns entwickeln, die uns zu alten Weisen machen, aber wir wissen nicht, wie es geschieht. Ich interessiere mich also nicht für die oberflächlichen Arten des Lernens, sondern ich frage: Was ist es, von dem wir nicht wissen, wie es geht, und das wir dennoch lernen und das uns zu solchen alten Weisen machen kann?
e: Du sagst, dass du nicht an einer oberflächlichen Art von Wissen interessiert bist, sondern an etwas anderem. Was ist dieser andere Aspekt?
BR: Weisheit entsteht aus der freiwilligen Verpflichtung gegenüber einem einzigen, tiefen Interesse. Eine freiwillige Verpflichtung ist wie ein Gelöbnis. Man bewegt sich weg vom Ansammeln bloßen Wissens hin zu einer tiefen Innerlichkeit, zu einer tiefen Wechselbeziehung mit dem System, innerhalb dessen man arbeitet. Es ist nicht länger eine einseitige Unternehmung.
»Weisheit entsteht aus der freiwilligen Verpflichtung gegenüber einem einzigen, tiefen Interesse.«
Anstatt zu planen, wo du die Pflanzen in deinem Garten setzen willst, fordern die Pflanzen dich auf, sie an einem bestimmten Ort zu pflanzen. Es ist ein tief verankertes Verständnis, wie ein neuer Instinkt. Deine Füße bewegen sich einfach dorthin, wo die Pflanzen wachsen wollen. Deine Hände spüren den genauen Standort. Das Verständnis ist implizit, es lebt in deinem Körper, nicht in deinem Verstand.
Um es weniger mysteriös zu machen: es bedeutet, zu dem zu erwachen, was tatsächlich geschieht. Das kann in unserer Welt unerträglich schmerzhaft sein, denn es gibt ein enormes Maß an Leid. Wir erdulden Leid und fügen Leid zu. Wir müssen uns vor Augen halten können, was tatsächlich in der Welt geschieht. Ich arbeite mit vielen jungen Menschen, und mit dieser erwachenden Weisheit, wie ich sie nenne, beginnen sie zu sehen, wie maschinenhaft und todbringend die Welt ist, in der wir Kinder leben lassen. Ein Mädchen sagte mir, dass sie es in ihrem Körper spüren kann, dass sie darauf konditioniert wurde, sich selbst als Maschine zu sehen.
Deshalb ist in einem zweiten Schritt die befreiende Weisheit so wichtig. Es ist die Erkenntnis, dass es genug Raum für machbare, weitreichende Wahlmöglichkeiten gibt. Wenn man erwachende und befreiende Weisheit zusammenbringt, sieht man die ursächlichen Beschaffenheiten der lebendigen Welt. Dann wird man handlungsfähig und beginnt, mit den tieferen Mustern zu arbeiten. Die alten Weisen, die gesehen haben, wie Menschen sterben und geboren werden, sehen nicht mehr nur diese kleinen Lebenszeiten kommen und gehen. Sie sehen tiefere Rhythmen. Sie sehen die kausalen Eigenschaften, die universellen Prinzipien hinter dem, was ist.
Rückkehr zur Verkörperung
e: Das Mädchen, das du beschrieben hast, erlebte ihren Körper als eine Maschine. Das ist eine Erkenntnis, die sie auf nicht-kognitive, verkörperte Weise hatte. Das spricht von tieferen, verkörperten Ebenen des Sehens dessen, was ist. Beschreibst du hier diese Art von präkognitiver Einsicht?
BR: Ja. Wenn man junge Menschen fragt, warum sie die Schule abgebrochen haben, warum sie mit dem Drogenkonsum begonnen haben oder warum sie meditieren, dann ist der Grund dafür in derartigen Einsichten zu suchen. Diese Erfahrungen der jungen Menschen sind ein Zeichen dafür, dass wir als Spezies etwas Neues lernen. Als Lehrer sollten wir aufmerksam sein, zuhören und erkennen, dass sich hier eine neue Art von Geist und Psyche entwickelt.
Hier entsteht Weisheit. Diese jungen Menschen sind die neuen alten Weisen, die etwas in die menschliche Spezies einbringen, was es vorher nicht gab. Ich unterrichte junge Menschen schon seit Langem und sehe, dass dieser Wandel auf einer tiefen tektonischen Ebene stattfindet und alles darauf abgestimmt sein sollte, ihn zur Welt zu bringen.
e: Es ist interessant, dass du dies eine tektonische Ebene nennst. Denn so, wie ich dein Modell verstehe, gibt es einerseits ein Entwicklungsmodell, das sich des Hineinwachsens in die Komplexität und der Vielfalt der Perspektiven bewusst ist. Aber es hat auch diese andere Seite, die ich als Verwurzelung in unserer Körperlichkeit und in unserer animalischen Realität bezeichnen würde. Es gibt tiefere Schichten in uns, die auf die Maschinenwelt reagieren. Kinder werden in dieses System hineingeboren, aber sie werden nicht wie Erwachsene dadurch geformt. Es eröffnet sich ein Wissen, eine Weisheit, die aus einer anderen Dimension kommt. Und du sagst, wir müssen genau hinhören, was das für tektonische Reaktionen sind?
BR: Ja, die Weisheit kommt auch aus dem Körper. Und wenn das der Fall ist, brauchen wir eine neue Theorie des Körpers, um das zu berücksichtigen. Wenn wir über unsere animalische Natur sprechen, kann das sehr reduktionistisch daherkommen. Aber ich möchte darum bitten, dies nicht als eine Einschränkung des menschlichen Daseins zu betrachten. Wenn wir uns wirklich in einer Zeit zwischen den Welten befinden, in der sich die Veränderungen entwickeln wie das Sprechenlernen, müssen wir zu unserer animalischen Natur zurückkehren und sie in neuer Weise integrieren.
Angenommen, du studierst und willst Physiker werden. Du belegst Mathe, aber richtig gut bist du nicht darin. Dann lernst du Physik, aber ab einem bestimmten Punkt schränken dich die fehlenden Mathe-Kenntnisse ein. Dann musst du wieder auf ein Niveau zurückgehen, auf dem du in Mathe gut warst, und dann wieder vorwärts gehen. Bei jeder Entwicklung gibt es diese Dynamik, bei der eine Fähigkeit problematisch werden kann, weil sie einen ursprünglichen Fehler verschlimmert hat. Man muss also dorthin zurückkehren, wo die ursprüngliche Verknüpfung ist. Und in Zeiten zwischen den Welten müssen wir den ganzen Weg zurück zu unserer tierischen Natur gehen.
Die Pfadfinder des Neuen
e: Was du sagst, deutet auf etwas hin, was ich so in der Beziehung zur Weisheit noch nicht gesehen habe. Um in deinem Beispiel der Physik und Mathematik zu sprechen: Unsere Krisensituation fällt mit diesem Moment zusammen, in dem wir als Kultur erkennen, dass wir die Physik nicht beherrschen. Wir müssen zu etwas zurückkehren, das uns befähigt, diese Krise auf eine andere Weise zu betrachten. Es ist nicht nur die Entwicklung des Menschen in dem Sinne, dass wir traditionelle, moderne, postmoderne und metamoderne Formen der Komplexität ausbilden. Es bedeutet auch, dass wir uns auf unsere Wurzeln besinnen, und zwar nicht auf eine mentale Art und Weise, sondern indem wir erfahren, dass unser Geist aus unserer tierischen Natur, unserer verkörperten Natur stammt. Das ist eine Rückkehr wie im Mathematik-Physik-Beispiel in dem Sinne, wie es weise Menschen immer wieder getan haben. In einem traditionellen Kontext war das einfacher, in unserer komplexen Gesellschaft allerdings ist es viel leichter, sich zu verirren.
BR: In einem traditionellen Kontext war es einfacher, weil sie nicht über unsere modernen Vorurteile verfügten. Das ist auch das Problem mit der Theorie der Entwicklungsstufen. Der moderne Verstand denkt, dass der Fortschritt in der Zukunft liegt und das Primitive in der Vergangenheit. Aber in den indigenen Kulturen sagten sie, die alten Weisen und all die Informationen, die Erleuchtung, lägen in der Vergangenheit.
»Die jungen Menschen sind die neuen alten Weisen, die etwas in die menschliche Spezies einbringen, was es vorher nicht gab.«
Man könnte sagen, dass dies wissenschaftlich fundierter ist. Es gibt mehr Intelligenz und Informationen in meinem Unbewussten als in dem, was ich bewusst aufnehmen kann. Etwa 11 Millionen Informationsbits pro Sekunde strömen durch mein neurochemisches Körperhirn, aber ich kann nur etwa 14 Bits an Informationen in meinem Bewusstsein zu einem bestimmten Zeitpunkt speichern. Und alles, was wir studieren oder woran wir interessiert sind, sind diese 14 Informationsbits.
Die Frage ist: Wie weit müssen wir zurückgehen, um im System den nötigen Freiraum zu schaffen, damit wir wieder vorwärts gehen können? An der jetzigen Stelle bedeutet das eine Menge Experimente und verschiedene Arten von Zukünften, bis es wieder zusammenfinden kann. Diese Vielfalt an Möglichkeiten des Verständnisses dieser neuen Ausprägung des menschlichen Tiers oder des menschlichen Instinkts ist ein sehr fruchtbarer Rahmen für das, was ich Weisheitsgespräche nennen würde.
e: Es gibt ein neues Interesse an indigener Spiritualität. Einerseits kann man das als eine Art romantische Regression oder als Flucht vor der Komplexität unserer Zeit sehen. Man kann es aber auch als ein Zeichen dafür sehen, dass es von enormer Bedeutung ist, sich wieder auf unsere ursprünglichen Formen der Weisheit zu besinnen. Und es scheint, dass die jungen Menschen darauf auch eingehen.
BR: Ja, ich glaube, viele junge Menschen sehen sich in dieser Weise angesprochen. Sie erforschen die Frage: Was ist die Weisheit, auf der alles gründet? Es ist eine neue Frage, denn wir haben einen anderen Verstand, wir sind nicht die Indigenen, die sie zuerst gestellt haben.
Ich sage zu den jungen Menschen: »Ich bin eine Älteste, aber ihr seid meine Pfadfinder.« Die Älteren müssen verstehen, dass wir als Generationen wie verschiedene Wahrnehmungsorgane funktionieren. Älter zu sein bedeutet nicht, dass man glaubt, über die Jugend hinausgehen und sie gleichzeitig mit einbeziehen zu können, denn die Generationenwechsel sind zu schnell. Wie können wir also andere Wahrnehmungsorgane zwischen den Generationen sein und dafür sorgen, dass diese intergenerationelle Übertragung funktioniert?
Wenn du eine weise Älteste bist, dann kannst du diese beständigen, tiefen kosmologischen Muster weitergeben. Aber das Gebiet der Jüngeren sind eher die spezifischen Formen. Und von dieser wunderbaren und frühentwickelten Weisheit gibt es sehr viel. Wir sind von ihr umgeben, aber wir müssen den jungen Menschen auch erlauben, Wahrnehmungsorgane für uns zu sein. Das heißt nicht, dass sie in jedem Fall Recht haben, denn es gibt eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten in ihrem Verhalten. Es ist eine sehr belastende und verwirrende Realität und Situation, in die sie hineingestellt wurden. Sie können also auch einiges an Disziplin brauchen. Aber unsere generelle Haltung oder Einstellung zu ihnen könnte die Frage sein: Woher kommt die Weisheit? Wenn die Weisheit in dieser Zeit zwischen den Welten Einzug halten soll, muss man Ausschau halten, wo sie in der jüngeren Generation verborgen liegt. Genau dort zeigt sich der evolutionäre Wandel.