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April 17, 2018
Der deutsche Soziologe Hans Joas tritt in seinem neuen Buch »Die Macht des Heiligen« einer der Großerzählungen der modernen Soziologie entgegen – Max Webers These von der »Entzauberung der Welt«. Mit dieser berühmten These diagnostizierte Max Weber, einer der Väter der modernen Soziologie, den unaufhaltsamen Prozess der Säkularisierung unserer Welt.
Gegen diese verbreitete These wendet sich Hans Joas, selbst ein anerkannter Soziologe aber auch gläubiger Katholik, in seinem anspruchsvollen Buch. Er wendet sich nicht gegen die Säkularisierung selbst, doch Max Webers Geschichte scheint ihm viel zu einseitig, viel zu linear.
Seine Gegengeschichte nennt Joas eine Geschichte »der Macht des Heiligen«. Er führt den Leser in groß ausgelegten Details durch die Denkgeschichte der europäischen Aufklärung und zeigt, wie einige ihrer zentralen Denker über die Religion und das Heilige nachdachten. Den Anfang bilden die religionsskeptischen Universalhistoriker David Hume und Johann Gottfried Herder, doch den Schwerpunkt des Buches bildet Max Weber und seine These der Entzauberung der Welt.
Hans Joas bezieht sein eigenes Verständnis des Heiligen in großem Maße von William James. Der amerikanische Mitbegründer des Pragmatismus und Psychologe hatte Anfang des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal versucht, das Phänomen des Heiligen nicht metaphysisch, sondern aus psychologischer Sicht zu verstehen. Sein Buch »Die Vielfalt religiöser Erfahrung« ist bis jetzt ein Meilenstein im modernen Verständnis spiritueller Erfahrungen. Auf diesen Überlegungen aufbauend entwickelt Joas seine Gegengeschichte zu dem Bild der Säkularisierung und Entzauberung der Welt, das wir alle kennen und das seit dem Wiederaufleben der Religionen in den letzten Jahrzehnten viel an Überzeugungskraft verloren hat.
Der heilige Zauber großer Ideale, die uns tief ergreifen, ist eine nicht zu leugnende Wirklichkeit.
Es geht Joas darum, den ambivalenten Zusammenhang zwischen Heiligkeit und Macht zu zeigen: Der »Leitfaden für die Entwicklung einer Alternative zur Geschichte der Entzauberung muss das Wechselspiel von vielfältigen Prozessen der Sakralisierung mit vielfältigen Prozessen der Machtbildung sein und nicht etwa die Geschichte der Wissenschaft oder des Erkenntnisfortschrittes der Menschheit.« Joas schreibt seine Geschichte als eine Geschichte der »Macht des Heiligen«. Und diese »Macht« meint er durchaus wörtlich. Das Heilige hatte schon immer Macht. Es hat schon in der menschlichen Vorgeschichte z.B. in rituellen Erfahrungen der Selbstentgrenzung direkt Macht entfaltet. Das Heilige ist gerade durch seinen ergreifenden und bedeutungsvollen Charakter eine machtvolle Kraft. Die andere Seite der Geschichte ist, dass sich das Heilige immer auch mit Formen gesellschaftlichter Macht verbunden hat. »Die Sakralisierung von Königen oder anderen Herrschergestalten scheint der offensichtliche Ausgangspunkt für eine historische Skizze des Verhältnisses zwischen Macht und Heiligkeit.« In einer heiligen Königsherrschaft oder bei Völkern, die sich selbst als das heilige Volk empfanden, kam es immer wieder zu Verbindungen des Heiligen mit gesellschaftlicher Macht.
Einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte des Heiligen sieht Hans Joas, als die Erlösungsreligionen in der Achsenzeit vor 2500 Jahren mit Religionsgründern von Buddha bis Jesus eine neue transzendente Dimension entdeckten. »Das Maß, in dem Erlösung als Erlösung von der Welt und nicht in der Welt gedacht wurde, variiert dabei in den behandelten Religionen. Wichtig an dieser Stelle ist vor allem der Gedanke eines fundamentalen geschichtlichen Einschnittes hin zur Entstehung von ›Erlösungsreligionen‹.« Mit diesem Gedanken der Erlösung von der Welt entstand, so Joas, eine neue reflexive, erstmals auf Vorstellungen von Transzendenz bezogene Sakralität. Sie veränderte auch das Verhältnis des Heiligen zur Macht. Wenn ein transzendenter Gott im Himmel thront, wird es für irdische Herrscher schwieriger, selbst göttlich zu sein. Mit den Religionen der Achsenzeit entsteht ein neuer Universalismus und ein neues Verständnis des Heiligen.
In dieser Darstellung kommt Joas auch zum Grundargument seines Gegenentwurfs: Zwar ist Religion nicht unbedingt eine menschliche universelle Erfahrung, aber die »Erfahrung der Selbsttranszendenz« und mit ihr die Erfahrung des Heiligen ist universell. Und diese Erfahrung existiert bis heute, selbst in unserer säkularen Zeit. Joas zeigt, wie die Aura des Heiligen auch Teil des 20. Jahrhunderts ist, bis zu den kommunistischen Parteien, aber auch Vorstellungen über das »Volk« oder die »Nation«. Das sind vielleicht problematische, aber eben doch Formen der Selbsttranszendenz und Sakralisierung. In einem früheren Buch über »Sakralität der Person« beschrieb Joas, wie in den westlichen Demokratien selbst die Menschenwürde und die Menschenrechte einen heiligen Charakter bekommen haben.
Religion ist nicht unbedingt eine menschliche universelle Erfahrung, aber die »Erfahrung der Selbsttranszendenz« ist universell.
Joas untersucht in diesem Buch die »Idealbildungen« in den unterschiedlichen religiösen Traditionen, aber auch in der Geschichte der westlichen Aufklärung. In der »intensiven affektiven Bindung an solche Ideale« sieht er bis heute eine lebendige »Macht des Heiligen«. Sakralisierung wird so zu einem universellen Phänomen.
Wahrscheinlich ist dies die Stärke aber auch die Schwäche dieses Buches. Joas erweitert den Begriff des Sakralen. Im Gegensatz zu Webers These der Entzauberung der Welt zeigt er, dass es den Zauber des Sakralen bis in unser Verständnis der allgemeinen Menschenrechte gibt. Wir können die Menschenrechte auf eine rationale Argumentation reduzieren. Aber auch unsere fundamentalen säkularen Werte haben eine tief ergreifende Kraft. Der heilige Zauber großer Ideale, die uns tief ergreifen, ist eine nicht zu leugnende Wirklichkeit. Damit öffnet Hans Joas die Tür, um auch mit einem humanistischen Skeptiker neu über das Heilige sprechen zu können. Gleichzeitig lässt er offen, ob das Heilige nicht doch mehr ist als säkulare Ideale »mit einer intensiven affektiven Kraft«. Diese Unklarheit ist aber vielleicht auch der Preis, den man dafür zahlen muss, um die Tür für dieses so wichtige Gespräch über das Heilige weit offen zu halten.