Eine andere Art von Sangha

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 18, 2022

Featuring:
Stefan Brunnhuber
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Issue:
Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
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Neue Formen von Transzendenz und Gemeinschaftlichkeit

Die Idee der offenen Gesellschaft, wie sie Karl Popper formulierte, hat für Stefan Brunnhuber große Aktualität. Kann es in ihr auch eine neue Religiosität geben, in der unsere individuellen Freiheitsrechte im Mittelpunkt stehen? Wie könnte eine offene Gesellschaft und eine offene Spiritualität aussehen, in der Freiheit und Gemeinschaftlichkeit sich auf neue Weise finden?

evolve: Hat das Heilige Platz in der offenen Gesellschaft?

Stefan Brunnhuber: Das Heilige in der offenen Gesellschaft ist eine Formulierung, die mich sehr anspricht. Der Begriff »offene Gesellschaft« stammt von Karl Popper. Er hat ihn 1945 vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen mit dem Stalinismus und dem Faschismus in die Debatte eingebracht, in Abgrenzung zu dem, was er als »geschlossene Gesellschaften« bezeichnete. Der Begriff ist heute mehr als aktuell.

»Offene Gesellschaft« bedeutet nicht Willkür, kein »jeder macht, was er will«. Sie hat eine innere soziale und politische Architektur. Und natürlich gibt es in ihr auch Freiraum für religiöse und spirituelle Ausdrucksformen. Eigentlich orientiert sie sich an einer Ordnung der Freiheit, keine nur subjektiv erlebte Freiheit, sondern eine Freiheit, die uns mit vielen anderen Menschen in Einklang bringt, auch in Bezug auf zukünftige Generationen und in Bezug zur Natur und zu all jenen, die nicht in einer offenen Gesellschaft leben. Bei den Diskussionen im Umfeld der Pandemie sprach man ja von der Rechtsgüter-Abwägung von individuellen Freiheitsrechten, meine Freiheit der Gesundheit gegen deine Freiheit der Erwerbsfähigkeit oder Mobilität.

Die Ordnung der Freiheit lebt davon, dass Individuen sich selbst für Freiheitsgrade und deren Abwägung in einem kritischen öffentlichen Diskurs entscheiden. Wir sehen gerade in den Auseinandersetzungen um den Ukrainekrieg: Offene Gesellschaften haben etwas, das geschlossene Gesellschaften nicht kennen, nur dulden oder systematisch unterdrücken – eine lebendige Zivilgesellschaft. Hier entsteht die entscheidende Systemkonkurrenz zu digitalen Autokratien. Karl Popper würde diese auch den geschlossenen Gesellschaften zurechnen. Digitale Autokratien leben nicht aus einer Ordnung der Freiheit heraus, welche durch Kritik, Konkurrenz, Kreativität und die Koexistenz von diversen Lebensstilen, sondern viel eher durch Konformismus, Kontrolle und das Vermögen des Kopierens geprägt ist.

Zwei Formen von Sangha

e: In autokratischen Gesellschaften erleben wir heute eine Rückbesinnung auf ihre »heiligen Traditionen«, sei es der Islam oder das orthodoxe Christentum. Sie verstehen sich als eine Rebellion ihrer »heiligen Tradition« gegen den heillosen, hyper-individualisierten Westen.

SB: Wenn wir von Individualismus und Kollektivismus sprechen, sollten wir zwei Formen des Kollektivismus unterscheiden. In einem primären Kollektivismus haben die Gruppenzugehörigkeit und Gruppenidentität Vorrang vor allem. Diese Gesellschaften kennen noch keine hinreichende Ich-Entwicklung, keine individuellen Ausdrucksformen oder personale Identität in unserem Sinn. Dennoch gilt: Wenn wir die Geschichte der letzten 20.000 Jahre ansehen, dann kann die Gesamtentwicklung zwar immer wieder regressiv werden, aber insgesamt sehen wir eine Entwicklung hin zu mehr individuellen Freiheitsrechten. Minderheitenrechte, liberale Rechtsstaatsmechanismen, unternehmerische Haftung sind solche Beispiele. An dieser Stelle entstehen natürlich auch Übertreibungen wie die Hyper-Individualität und der Narzissmus unserer Zeit. Es gibt aber auch eine Entwicklung jenseits dieser Ich-Entwicklung, eine zweite Form des Kollektivismus, in der die Fähigkeit der kritischen, personalen Ich-Identität und des kritischen Verstandes selbst transzendiert wird. Dann entstehen Gesellschaften, welche individuelle Ausdrucksformen ehren und schützen, diese aber dann in einen Kollektivismus zweiter Ordnung einbinden.

¬ »OFFENE GESELLSCHAFT« BEDEUTET NICHT WILLKÜR, KEIN »JEDER MACHT, WAS ER WILL«. ¬

Das Gleiche erleben wir auch in der Spiritualität. Man könnte von einem primären und einem sekundären Sangha sprechen. Im primären Sangha sind die Menschen spirituell bzw. religiös, aber sie haben noch keine individuellen Ausdrucksformen ausgebildet. Wenn wir heute die Frage nach dem Heiligen, die Frage nach dem Spirituellen stellen, dann geht es um einen sekundären Sangha, in dem wir unsere individuellen spirituellen Ausdrucksformen der Transzendenz wieder in ein kollektives Erleben einbinden, aber diesmal unter Wertschätzung des Pluralismus, der individuellen Freiheitsrechte und auch des wissenschaftlichen Diskussionsstands.

Wenn das gelingt, wird die offene Gesellschaft selbst eine Form des Heiligen, ein Ort, wo ein sekundärer Kollektivismus entsteht, der den narzisstischen Hyper-Individualismus hinter sich lässt und wo wir unser eigenes Denken, die eigene Meditation, die eigenen Achtsamkeitsübungen in einen größeren Gesamtzusammenhang einbinden. Man könnte sagen: Das Ausmaß an gelebter Spiritualität und Religion in einer offenen Gesellschaft hängt weniger an der offenen Gesellschaft selbst als daran, wie offen, tolerant und selbstkritisch die spirituelle oder religiöse Praxis gegenüber sich selbst und anderen ist. Sekundäre Sanghas sind im Kern Gruppen, welche die mystischen Traditionen, wie wir sie in allen Religionen kennen, leben und weitertragen. Und offene Gesellschaften sind der beste Ort, jene Formen des Heiligen zu schützen und zu fördern.

e: Wir brauchen eine Antwort auf den ­Hyper-Individualismus, aber auch auf den regressiven Kollektivismus, der sich in den neuen Autokratien so stark zeigt. Wir sprechen in unserer Arbeit bei evolve von der Transindividuation, die auf unserem Individualismus aufbaut, aber ihn auch transzendiert.

SB: Das ist ein zentraler Punkt, welchen man soziologisch deutlich machen kann. Es geht um Gesellschaften, um Formen des Zusammenlebens, welche über das Individuelle hinausgehen, es aber hinreichend ehren und schützen. In der Debatte um Kontemplation, Religion und Spiritualität halte ich es für wichtig, darauf zu achten, dass diese transpersonalen Formen des sekundären Sangha oder des Heiligen in der offenen Gesellschaft eben einer Ordnung der Freiheit folgen. Wenn wir uns die Achtsamkeitsbewegung ansehen, dann sind Menschen darin als Peergroup immer in eine Tradition eingebunden, auch wenn es sich auf den ersten Blick um säkularisierte Formen handelt.

Gleichzeitig gibt es heute auch die wichtige Initiative der »Inner Development Goals«, die mittlerweile auch in der UN diskutiert werden. Hier wird deutlich, dass spirituelle Praxis in einen »Purpose«, in einen sekundären Sangha, in eine friedliche Zielsetzung eingebettet sein muss. Diese Ziele können wir allein individuell nicht erreichen, weil wir sonst die Last der Praxis allein auf den Schultern des Individuums austragen. Wenn dagegen Achtsamkeitsübungen keine weiterführende Zielsetzung haben, laufen sie Gefahr, den Hyperindividualismus in Form von Leistungs- und Umsatzsteigerungen zu fördern, statt zu transzendieren.

Neue Narrative des Heiligen

e: Müssen wir die Erfahrung des Heiligen nicht auch in gemeinsame Narrative einbringen? Vielleicht braucht es auch gemeinsame soziale Imaginative, man könnte auch sagen, gemeinsame Mythen? Traditionelle spirituelle Traditionen lebten immer auch in ihren mythologischen Narrativen. Es waren auch diese Narrative, die sie mit einer Dimension des Heiligen und Absoluten verbanden. Auch unser aufgeklärter wissenschaftlicher Diskurs braucht andere Storys und Bilder als unsere »individuellen Zweck-Nutzen-Verhältnisse«. Braucht die offene Gesellschaft auch einen gemeinsamen, erzählten Bezug zum Heiligen? Sind neue Narrative, neue Mythen nötig?

SB: Ja, mit Sicherheit, und das ist die große Frage: Wie sieht das Narrativ für das 21. Jahrhundert aus, welches die Idee eines sekundä­ren Sangha beinhaltet, die unsere individuelle Freiheit ehrt, sowie die Idee einer offenen Gesellschaft und des Heiligen abbildet? Es wäre eine Mythologie oder besser ein Narrativ, welches sich auch wissenschaftlich bestätigen oder widerlegen lassen muss. Jesus ging eben nicht tatsächlich über das Wasser, weil es so etwas wie Naturgesetze gibt.

e: Ja, der Wahrheitswert dieser Geschichte, symbolisch verstanden, besteht ja auch nicht darin, dass eine physikalische Leistung erbracht wird, sondern darin, was es seelisch bedeutet, »über Wasser zu gehen«. Vielleicht muss die offene Gesellschaft auch offen für einen anderen Wahrheitsbegriff sein. Die wissenschaftliche Vorstellung von Wahrheit hat enge Grenzen.


¬ ES GEHT UM FORMEN DES ZUSAMMENLEBENS, WELCHE ÜBER DAS INDIVIDUELLE HINAUSGEHEN, ES ABER HINREICHEND EHREN UND SCHÜTZEN. ¬


SB: Ja, absolut. Ich würde nicht von Mythologie sprechen, weil es für mich eher für etwas Prä-Rationales, Prä-Wissenschaftliches steht. Ich würde allgemeiner vom Narrativ sprechen. Aber der Begriff ist letztlich weniger wichtig, es geht um die Erzählung, die Geschichte darüber, wie wir im Rahmen eines sekundären Sangha und in Beziehung zum Heiligen in der offenen Gesellschaft zusammen leben wollen. Dabei wird es darum gehen, wie wir die Tradition würdigen und gleichzeitig auch auf wissenschaftliche Evidenz setzen. Es kann nicht jeder jeden Schwachsinn erzählen, der dann auf einmal als sekundäres Sangha gelten soll.

e: Gleichzeitig braucht es vielleicht auch eine neue Wertschätzung der Traditionen, die man als große soziale Experimentierfelder der menschlichen Beziehung zum Heiligen verstehen kann. Es sind Langzeitexperimente, in denen Kulturen versuchen, ihren Bezug zum Heiligen in sprachliche Formen zu fassen. Aber vielleicht hat die Offenheit einer Gesellschaft auch selber einen Bezug zum Heiligen. Wir verstehen, was die offene Gesellschaft ist, eigentlich immer nur säkular oder sogar wirtschaftsliberal definiert. Aber einander in tiefer Offenheit zu begegnen und sich zu verständigen, ist keine triviale Sache.

SB: Das Ausmaß an Religiosität in einer offenen Gesellschaft misst sich daran, wie weit Religionen offen, tolerant, (selbst-)kritisch, revisions-offen und fehlerfreundlich sind. Wir wissen alle viel zu wenig, um die Welt vollkommen abbilden zu können. Die Welt ist nach vorn hin eben auch offen, sie ist unbestimmt, unscharf, nicht determiniert.

Digitale Autokratien leben stattdessen von der Illusion des Wissens, dass irgendjemand da oben – ein Familienclan, ein Politbüro, eine Nomenklatura – irgendein Wissen hätte, welches man der ganzen Gesellschaft aufzwingen kann und in dessen Richtung sie sich entwickeln sollte. Das ist eine Illusion.

Ein neues Bewusstsein

e: Was hält eine offene Gesellschaft offen?

SB: Mit Popper würde ich sagen, zunächst einmal die Fähigkeit, gegenüber sich selber, gegenüber den Umständen und der Gesellschaft immer kritisch zu bleiben. Emotional würde man mehr Demut, Bescheidenheit und Nachsicht fordern müssen. Also Bewusstseinsschwerpunkte, denen es gelingt, Gegensatzbeziehungen in eine erweiterte Spannungs- und Ambivalenztoleranz einzubetten. Es ist wohl erst jenes Bewusstsein, welches durch Mut und Demut, Verzicht und Großzügigkeit, Warten und Entschlossenheit, Kontrolle und Hingabe, Wissen und Unentschiedenheit, Notwendigkeit und Zufall charakterisiert ist. Und wohl erst dann entstehen die richtigen Fragen, um die Beziehung des Heiligen in einer offenen Gesellschaft hinreichend richtig zu beantworten.

Zweitens die Unverhandelbarkeit von personalen Freiheitsrechten. Es gibt in diesem Sinne nichts Heiligeres als das Lebendige, welches immer eine singuläre, eben individuelle Form hat. Das ist bei einem Baum, einem Käfer, einer Kuh oder einem Kleinkind nicht grundlegend anders. Die Gruppenbildung, gewissermaßen die Soziologie ergibt sich idealtypisch erst im Nachgang aus dieser »Ehrfurcht vor dem Leben«, wie Albert Schweitzer es formuliert hat.

In den mystischen Traditionen aller Religionen geht es aber nicht um relative Formen von Freiheitsgraden oder um relative Empathie, Güte, Gnade oder Dankbarkeit, sondern es geht um die Erfahrung absoluter Transzendenz, um absolute und bedingungslose Liebe, absolutes Verständnis, Mut und Solidarität.

¬ WIR WISSEN ALLE VIEL ZU WENIG, UM DIE WELT VOLLKOMMEN ABBILDEN ZU KÖNNEN. ¬

e: Eröffnet diese Erfahrung der Transzendenz auch eine Sinnhaftigkeit des Lebens selbst?

SB: Ja, aber anders als das, was der primäre Kollektivismus uns als Sinn und Orientierung anbietet. Um in einer offenen Gesellschaft das Heilige zu ehren, müssen wir uns zutrauen, eine absolute Form von Wahrnehmung, von Transzendenz, von Rationalität, von Universalität zu entwickeln. Wenn wir uns das nicht zutrauen, wird der Unterschied zwischen einem Psychopathen und einem Jesuiten, zwischen Nobelpreis und Bullshit nicht mehr vermittelbar. Wir müssen uns eingestehen, dass wir die Fähigkeit haben, im Emotionalen, Intellektuellen, Sozialen und Spirituellen universelle, normative Wahrnehmungen zugänglich zu machen. Wenn wir uns das nicht zutrauen, wenn wir sagen, es gibt nur noch Kontexte und historische Zusammenhänge und alles ist konstruiert, dann bleiben uns die nächsten Entwicklungsschritte verwehrt.

Komplementäres Denken

e: Welche Entwicklungsschritte?

SB: Der nächste Entwicklungsschritt ist für mich das, was wir jetzt besprochen haben: offene Gesellschaften, die Kritik nach innen und nach außen zulassen, Individualität ehren und deren Ausdrucksformen schützen, und in denen wir uns eingestehen, dass wir alle viel zu wenig wissen.

Gleichzeitig wissen wir, dass jeder Einzelne unter der Annahme einer ganz spezifischen spirituellen Praxis – das können das Rosenkranzgebet, fernöstliche Mantras, das Kyrie Eleison sein, buddhistische Koans oder sufistische Tänze, es ist egal, welche Praxis Sie nehmen – im Prinzip die Erfahrung einer absoluten Transzendenzerfahrung machen kann.

e: Ist das mehr als eine individuelle Freiheitserfahrung? Welche Bedeutung hat so eine Erfahrung für die Art und Weise, wie wir gemeinsam Kultur und Gesellschaften schaffen?

SB: Das ist im Kern die Umweltdebatte des Anthropozäns. Alles ist mit allem vernetzt. Sie können heute nicht einmal mehr Ihr ­Auto volltanken, ohne von irgendeinem Krieg auf der Welt unmittelbar betroffen zu sein. Sie können nicht einmal zum Discounter fahren und sich sechs Eier kaufen, ohne dass Sie in irgendeiner Weise betroffen sind. Alles ist mit allem vernetzt, und alles findet innerhalb von planetarischen Grenzen statt.

Hier kann die Grundlage für ein neues Narrativ, für einen sekundären Sangha liegen, denn wir können unsere Freiheitsgrade nur vor dem Hintergrund von Inter-Konnektivität und planetarischen Grenzen leben. Die Erfahrung der Begrenztheit ist in diesem Sinne komplementär verbunden mit der individuellen Erfahrung des Unendlichen. Nur wenn wir Grenzen erfahren, erfahren wir auf einer anderen Ebene das Unendliche und Absolute. Das Transzendente im Immanenten finden wir nur in dieser Komplementarität. Und wenn wir diesen Gedanken weiterdenken, dann wird sichtbar, dass wir uns von einem konkretistischen über einen kausalen hin zu einem komplementären Bewusstseinsschwerpunkt weiterentwickeln können.

Das Konkretistische ist das mythologische, vorwissenschaftliche Denken, das Kausale geht mit dem wissenschaftlichen, dem analytischen und linearen Denken einher, und das komplementäre Denken ist im sekundären Sangha, im sekundären Kollektivismus zuhause. Wir werden lernen müssen, in Komplementaritäten zu denken. Dann werden das Begrenzte und das Unendliche, die Vernetztheit und die Vereinzelung nicht als Widerspruch sichtbar, sondern als etwas, das uns der Kosmos als Wahrnehmungsinhalt zur Verfügung stellt. Und dann kommen wir dem Ort des Heiligen in der offenen Gesellschaft ein Stück näher.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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