Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 11, 2022
Wir leben in einer Zeit der vielfachen Spannungen und Spaltungen, sowohl kulturell als auch ideell, im Politisch-Gesellschaftlichen, als auch gespiegelt in unserer Psyche. Zerrissenheit herrscht oft auch in den Menschen selbst, Werte und Positionen prallen selbst innerhalb unseres eigenen Denkens und Fühlens aufeinander, Fragen bleiben unbeantwortet. Falls es uns so geht: Was ist es, was uns verloren gegangen ist? Eine Antwort könnte lauten: der Kohärenzsinn, ein bekanntes Konzept aus der Salutogenese, welches die Bedingungen zu fassen versucht, die es braucht, um psychisch gesund zu bleiben. Wenn dieser Kohärenzsinn verloren geht, dann schwindet auch die Freude, die Zuversicht, die Motivation, die Leichtigkeit des Seins und vieles mehr.
Der Kohärenzsinn, also das Zusammenhängen oder das Übereinstimmen zwischen uns selbst und unserer Umwelt, bezieht sich auf drei Aspekte, nämlich die Verstehbarkeit, die Bewältigbarkeit und die Sinnhaftigkeit. Das bedeutet, wenn die äußeren Bedingungen, Vorgänge und Regeln mit unseren inneren Werten und Denkmustern übereinstimmen, dann verstehen wir die Welt. Um unsere Aufgaben bewältigen zu können, müssen unsere Fähigkeiten und Ressourcen daran angepasst sein. Und wenn wir unsere Werte und Ideale nicht mehr leben können, dann erscheint uns das Leben als sinnlos. Es kann recht hilfreich sein, den eigenen Kohärenzsinn zu analysieren, um daraus zumindest ein Verstehen um die eigene Situation zu fördern. Vielmehr geht es jedoch um die Frage, wodurch und ob ein verloren gegangener Kohärenzsinn wiedergefunden werden kann, speziell, wenn sich die äußere Situation nicht einfach ändern lässt. Wie gehe ich mit Widersprüchen um? Wie mit Unversöhnlichkeiten? Welche Rolle spielen meine Gefühle dabei? Wodurch entsteht eine konstruktive Resonanz in Begegnungen oder in Auseinandersetzungen? Und schließlich: Können wir trotz vielfacher Widersprüche in einer wohlwollenden Akzeptanz in die Welt treten?
¬ IM UNVERFÜGBAREN LIEGEN DAS WUNDER, DIE SCHÖNHEIT UND DAS GEHEIMNIS DES LEBENDIGEN. ¬
So betrachtet scheint der Kohärenzsinn derzeit eine der größten Herausforderungen für viele Menschen zu sein. Und doch möchte ich weitergehen und fragen, ob es nicht sogar eine Alternative zum Kohärenzsinn gibt. Liegt nicht die eitle Forderung nach dem Verstehen und dem Beherrschen der Welt im Trend der Zeit, einer Zeit, die uns genau mit dieser Strategie ihre Grenzen aufzeigt? Wissenschaftsgläubigkeit und Machbarkeitswahn haben Großartiges vollbracht und uns in den letzten vielleicht hundert Jahren eine neue Sicherheit der menschlichen Existenz versprochen und teilweise auch gegeben. So mag es uns psychisch gut gehen, wenn wir unser Leben im Griff haben, es bewältigen können und wir im Verständnis und Konsens mit unseren Mitmenschen sind. Doch was, wenn genau das nicht möglich erscheint? Wenn wir erkennen, dass wir nicht mehr Herr der Dinge sind, dass das, was uns umgibt, vielleicht irrational erscheint und plötzlich Probleme auftauchen, die wir, egal wie wir’s drehen und wenden, kognitiv nicht zu lösen imstande sind? Muss es uns dann zwangsläufig schlecht gehen? Schließlich kommen wir so auf die Welt: ohne Verstehen, ohne die Fähigkeit, für uns sorgen zu können und ohne die Frage nach einem Sinn. Und auch darin kann im Schutz der Eltern Glück und Zufriedenheit empfunden werden. Müssen wir daher psychisch daran scheitern, wenn sich keine Lösung einstellt?
Vielleicht waren hier die Menschen früher schon einmal weiter. Denn schon immer war das Leben für viele schwer verstehbar und mühsam zu meistern. Wer hier glücklich geworden ist, wusste um die Unverfügbarkeit des Lebens. In diesem Wissen haben diese Menschen ihre Kraft aus dem Vertrauen und der Hingabe ans Leben geschöpft. Ihnen gelang es, mit leichtem Herzen das Nichtwissen und Unverständnis anzunehmen, es nicht zu verbannen, sondern in den Lebensprozess mit einzubeziehen. Auch kannten die Glücklichen die Grenzen ihrer Macht und durchwirkten die Mühsal mit ihrer Lebendigkeit.
Mir geht es hier nicht um die Verherrlichung dieser oft sehr dunklen Zeiten, sondern vielmehr um das Erahnen einer geheimen Kraftquelle, die uns jenseits einer überlegenheitsorientierten Lebensweise zuteilwerden kann. Spirituelle Traditionen weisen vielfach auf das allumfassende Potenzial hin, das uns aus den Bereichen des Unverfügbaren entgegenströmen kann, indem es ohne unser Wissen und Zutun seine Wirkung entfalten kann. Aus dem Unverfügbaren entspringen unsere Kreativität, unsere Zuversicht und Gelassenheit, unser Staunen und der intrinsische Lebenswille jenseits der Frage nach Sinn, Ziel, Handhabbarkeit und Verstehen. Im Unverfügbaren liegen das Wunder, die Schönheit und das Geheimnis des Lebendigen. Vielleicht braucht es wieder vermehrt den Einbezug des Unverfügbaren in unsere Lebensweise, als eine komplementäre, transrationale Antwort auf den Verlust des Kohärenzsinns.