Wie nachhaltige Initiativen sichtbar werden
Durch die Kombination von digitaler und zwischenmenschlicher Vernetzung haben Helmut Wolman und sein Team eine »Suchmaschine« für wegweisende nachhaltige Projekte entwickelt. Damit wollen sie dem sozialen und ökologischen Wandel eine Landkarte und wachsende Plattform geben.
evolve: Wie bist du dazu gekommen, das Projekt »Karte von morgen« zu starten?
Helmut Wolman: Wir sind inzwischen ein Team und jeder von uns hat seinen eigenen Zugang gefunden. Bei mir war es so, dass ich 2010/11 als Freiwilliger in Brasilien war. Als junger Mensch mit 18, 19 Jahren wollte ich gerne reisen und Projekte suchen, die der Armut anders begegnen als durch das typische Spendenmodell; Projekte, in denen die Menschen z. B. durch Social Entrepreneurship ermächtigt werden. Um diese Projekte zu finden, habe ich eine Karte gesucht. Weil ich keine fand, begann ich, auf meinem Blog auf Google Maps einige Orte zu kartieren.
Zurück in Berlin war ich unter anderem auch als konsumkritischer Stadtführer unterwegs. Viele Touristen waren begeistert von den Unverpackt-Läden, Gemeinschaftsgärten, Repair-Cafés, Bioläden, Fair-Trade-Läden, die wir ihnen zeigten. Aber sie wussten nicht, wo es solche Initiativen in ihren eigenen Städten gibt. Deshalb haben wir angefangen, mit dem Etherpad, einem Open-Source-Dokument, für verschiedene Städte wie Berlin, München oder Hamburg Listen mit solchen Orten zu erstellen.
Ein weiterer Schritt entstand durch meine Aktivitäten bei Ideen³ e.V., bei dem ich im Vorstand bin. Jeden Sommer veranstalten wir Fahrradtouren und besuchen besonders wegweisende Projekte. Dabei tauchte die Frage auf, wie wir Projekte nicht nur in einer Stadt abbilden, sondern deutschlandweit, und dabei fokussiert die Pioniere, die ihre Initiativen aus Überzeugung heraus gegründet haben. All das zu kombinieren, war letztendlich der Schlüssel zur »Karte von morgen«. Die Karte wächst ständig durch die Regionalpiloten, die regional kartieren und Einträge anderer Nutzer prüfen. Und es gibt Themenpiloten, z.B. für das Grundeinkommen, für Transition-Town, für Unverpackt-Läden, für Umsonst-Läden. Dadurch können Interessenten schnell die Initiativen für ihr Thema finden. So wollen wir mit unserer Plattform Öl ins Feuer des Wandels gießen.
e: Ich möchte einen Schritt zurückgehen: Wie bist du überhaupt dazu gekommen, so jung nach diesen Projekten zu suchen?
HW: Es gab zwei Dinge, die mich da bewegt haben. Das eine war der Druck in der Schule, ich hatte überhaupt keinen Bock mehr auf Lernen und wollte wissen, was man eigentlich braucht in der Welt. Wir leben hier in Deutschland ja in einer Gesellschaft, in der kein Bedarf offen ist. Wir leben in einer Angebotswirtschaft, d.h. für alles, was ich brauche, gibt es zig Leute, die mir das anbieten. Deshalb war meine Frage, wo werde ich gebraucht.
Meine andere Frage war, was eigentlich wahr ist. Ich hatte mich während meiner Oberstufenzeit mit Klimawandel, mit Armut und globaler Ungerechtigkeit beschäftigt. Dazu gibt es ja verschiedene Erklärungsansätze, bis hin zu Verschwörungstheorien. Deshalb hatte ich das Bedürfnis, diese Dinge mit eigenen Augen zu sehen. Das brachte mich dazu, in einem Freiwilligendienst ein Jahr lang in einer Favela in Brasilen mitzuarbeiten.
e: Bist du in dieser Zeit in der Favela auch durch einen inneren Prozess gegangen? Ist dir dein weiterer Weg dabei klarer geworden?
HW: Innerlich ist mir während dieses Jahres erst einmal alles viel unklarer geworden. Ich bin verreist und dachte, ich werde entweder Ingenieur oder Journalist, ich wollte irgendetwas machen, was berechenbar und brauchbar ist. Damals hatte ich relativ wenig Verständnis für zwischenmenschliche Prozesse, für Emotionen und Motivation. Ich kam nach Brasilien und fiel in ein Loch, wo ich dachte, »Ich wollte doch die Welt retten und jetzt beschäftige ich mich mit überforderten Müttern und Kindern, die keine Eltern haben.« Das war meine Krise in dem Jahr, aber mit der Zeit habe ich angefangen, dem Zwischenmenschlichen mehr Raum zu geben. Das Lebensgefühl in Brasilien hat zur Offenheit füreinander und dem Gespür für andere Menschen beigetragen. Die Tätigkeit als Moderator für Begegnung, die ich heute im Rahmen von Ideen³ mache, ist nur möglich, weil ich diesen Freiwilligendienst geleistet habe. Dort habe ich verstanden, dass erst durch diese menschliche Dimension überhaupt Veränderung entstehen kann. Veränderung entsteht nicht so sehr durch Wissen, sondern vielmehr durch Begeisterung. Wenn man es schafft, andere Menschen zu begeistern und dass andere Menschen einen verstehen können.
e: Der Impuls, die »Karte von morgen« zu gestalten, kam sozusagen aus dem Wunsch, Möglichkeiten dafür zu geben, dass Menschen diese Verbindungen finden können, wenn sie einen nachhaltigen Lebensstil für sich entdecken oder ausbauen wollen?
HW: Ja, direkt nach meiner Rückkehr habe ich ein Bildungsnetzwerk gegründet: die Ideenwerkstatt von morgen, die mit der Karte gut zusammen geht. Ein Schwerpunkt ist Bildungsarbeit an Schulen. Dabei standen wir immer wieder vor einem Problem: Wenn ich zum Beispiel in Jena an einem Gymnasium einen Workshop über nachhaltige Transformation durchführe, kenne ich mich in Jena nicht aus. Der Workshop ist aber nur dann erfolgreich, nachhaltig und wirkungsvoll, wenn die Schüler die Chance haben, an das, was sie gelernt haben, anzuknüpfen und den nächsten Gemeinschaftsgarten oder den nächsten Unverpackt-Laden zu besuchen. Dafür ist die Karte sehr hilfreich.
In manchen Schulen entstehen aus solchen Workshops Schülerfirmen, die einen Kartoffelacker anlegen oder eine solidarische Landwirtschaft in ihrer Schule gründen oder ein Baumhaus bauen. Hier arbeite ich auch als Projektbegleiter, nicht nur für Schülerfirmen, sondern auch für NGOs oder kleine Startups.
VERÄNDERUNG ENTSTEHT NICHT SO SEHR DURCH WISSEN, SONDERN VIELMEHR DURCH BEGEISTERUNG.
e: Bei der »Karte von morgen« habt ihr Kategorien bzw. bestimmte Voraussetzungen, die Projekte erfüllen müssen, um auf diese Karte zu kommen. Kannst du dazu etwas sagen, wie ihr die Projekte auswählt?
HW: Es gibt keine Kriterien, sondern Positiv-Faktoren. Bei diesem Bewertungssystem kann jeder angeben, auf welche Weise eine Initiative nachhaltig ist. Dafür haben wir sechs Kategorien, sich an den drei Säulen der Nachhaltigkeit – Soziales (und Kultur), Ökologie und Wirtschaft – orientieren. Für jede positive Bewertung bekommt man einen Punkt und je mehr Punkte man hat, desto höher erscheint man in den Suchergebnissen. Dieses System wollen wir noch weiter ausarbeiten. Wir sind in Kontakt mit B-Corp und der Gemeinwohl-Ökonomie und wollen Schnittstellen zum Demeter-Verband und anderen Zertifizierungsstellen etablieren. Ein Ziel ist, dass sich die Karte langfristig über Beiträge von den kartierten Unternehmen finanziert. In allen Städten, wo die Karte gedruckt wird, zahlen die Unternehmen im Durchschnitt 300 Euro jährlich. Diese gedruckten Karten möchten wir für alle 80 Universitätsstädte produzieren.
e: Du hast von der Erfahrung in der Favela erzählt und jetzt bist du mitten im Wandel in unterschiedlichen Formen unterwegs. Ist dieser Prozess für dich ein Ausdruck einer inneren Suche, die für dich auch einen spirituellen Aspekt hat?
HW: Die Frage nach dem Sinn des Lebens stelle ich mir sehr oft. Aber ich bin vielleicht auch noch zu jung, um mir ernsthaft über spirituelle Wege Gedanken zu machen. Ich glaube aber fest daran, dass Gedanken die Welt verändern können. Und wenn man sie ehrlich und kraftvoll denkt, dann werden sie mehrere Menschen gleichzeitig denken. Das ist eine Kraft, durch die wir uns vernetzen und den Wandel in der Welt verwirklichen können.