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Werte sind nichts für trockene Diskussionen, sie müssen lebendig werden. Das ist das Anliegen des Museums für Werte. Jan Stassen ist Mitbegründer des Projekts, das Menschen durch ein ästhetisches, verkörpertes Erleben von Werten in den Dialog bringt.
evolve: Was ist eure Intention mit dem Museum für Werte?
Jan Stassen: Wir haben im Freundeskreis vor einigen Jahren festgestellt, dass es eigentlich keine Orte der Begegnung mehr gibt. Früher waren Marktplätze oder Kirchen solche Orte, an denen die Gesellschaft ihr Leben miteinander verhandelt hat. Deshalb wollten wir Orte schaffen, wo Begegnungen auf einer tieferen Ebene möglich werden. Wir haben in einer Galerie in der Nachbarschaft angefangen und seit fünf Jahren an verschiedensten Orten gearbeitet. Im Laufe der Zeit fanden wir eine Metapher für unsere Arbeit: »Wir sind eine Mischung aus Jeansladen und Kloster.« Unsere Orte haben etwas Sakrales, ohne dogmatisch zu sein. Sie ermöglichen einen Moment, wo du du selbst sein darfst und dir Fragen stellst. Gleichzeitig werden Getränke angeboten, es läuft Musik im Hintergrund, es hat etwas Lockeres.
Unser Ziel und unsere Hoffnung ist, Menschen durch individuelle, persönliche Geschichten zu verbinden. Dabei sind Werte für uns eine Einflugschneise zur inneren Welt. Jeder, egal mit welchem Hintergrund, Bildungsgrad, sozialen Status, hat eine Idee davon, welche Werte ihm wichtig sind. Das ist ein guter Gesprächsauslöser.
e: Wie sehen diese Begegnungsorte aus und womit bringt ihr diese Fragen ins Gespräch?
JS: Wir bauen temporäre Orte des Begegnens. Wenn wir eine Ausstellung vorbereiten, entscheiden wir mit der Gemeinschaft, in der wir das tun, welche Werte für sie wichtig sind. Wir bitten dann die Leute zu jedem Wert eine Geschichte einzureichen und einen Gegenstand, der damit in Verbindung steht.
So entstehen Mikro-Narrative, die wir ausstellen. Man kann den Gegenstand sehen, die Geschichte lesen und hören, manchmal machen wir auch Filme. So bekommt man viele Mikro-Narrative zu bestimmten Werten, ohne dass einem gesagt wird, was z. B. Respekt ist und was nicht. Stattdessen bieten wir einen Erfahrungsraum mit verschiedenen Perspektiven zu diesem Wert.
¬ WERTE SIND FÜR UNS EINE EINFLUGSCHNEISE ZUR INNEREN WELT. ¬
Diese Geschichten bilden dann auch eine Anregung zum Gespräch, das wir mit unterschiedlichen Formaten unterstützen. Wir bieten Dinner in der Ausstellung an, es gibt Vorträge oder Impro-Theater. Vor Kurzem haben wir mit Jugendlichen und einem Street-Art-Künstler eine Aktion zur Selbstverwirklichung gemacht. Dabei haben sie ihr eigenes Skateboard bemalt und daran diesen Wert verhandelt. Durch solche Formate werden die Orte für einen Zeitraum zwischen zwei, drei Wochen und drei, vier Monaten zum gesellschaftlichen Treffpunkt, wo Menschen gemeinsam Werte verhandeln.
e: Wie wählt ihr die Orte, an denen ihr das macht, und wie gestaltet sich die Zusammenar-beit mit den Men-schen und Orga-nisati-onen,die euch einladen?
JS: Wir arbeiten an ganz unterschiedlichen Orten. Das kann eine Kirche sein, die zum Kulturort gestaltet wurde, ein Museum, ein Einkaufszentrum, ein Bahnhof, ein leerstehendes Schwimmbad. Manchmal auch Orte, wo eine Zwischenraum-Nutzung möglich ist. Angefragt werden wir von Städten und Gemeinden und deren Vereinen und Initiativen. Manchmal auch von einer Kunstgesellschaft oder einem Museum.
e: Wie ist der Prozess, in dem solch eine Ausstellung entsteht?
JS: Es ist ein co-kreativer Prozess in enger Zusammenarbeit mit dem lokalen Partner. Wir wollen nicht die Externen sein, die coole Sachen machen und dann wieder verschwinden. Dieser Prozess hat vier Elemente. Als Erstes finden wir miteinander heraus, was die Stadt oder die lokale Gemeinschaft braucht, das ist die Konzeptphase. Die zweite Phase nennen wir Share & Collect. Wir entwickeln Workshop-Formate oder Angebote, durch die man mit Werten ins Gespräch kommen kann. Wir bieten Workshops an Orten, wo die Leute vielleicht nicht selbst auf die Idee kommen würden, über Werte ins Gespräch zu kommen. Wir waren in einem Hospiz, in einer Jugendhilfe-Einrichtung, in einem Altenheim und einer evangelischen Kirchengemeinde.
Wir gehen auch an Orte, wo sich die Gesellschaft sowieso schon trifft. Wir haben z. B. dialogauslösende Materialien bei Friseuren ausgelegt, kleine Handouts, mit denen die Friseure die Leute fragen: »Was ist dir eigentlich wichtig und warum?« Das ist ein total charmanter Moment, denn beide Seiten sind ein bisschen unerfahren damit, sich so etwas zu fragen. Auch in Cafés und Restaurants oder Kultureinrichtungen wie Bibliotheken können solche Gespräche ausgelöst werden. Bei einem Projekt in Lübeck schicken wir auch Redakteurinnen los, die ältere Menschen interviewen, die nicht mehr selber schreiben können.
Dann laden wir auch Perspektiven von außen ein. Bei einem Projekt in Lübeck haben wir Künstler angefragt, und sie geben den Geschichten noch eine Abstraktion durch ein Kunstwerk, das sie konzipieren.
Wenn wir all diese Informationen gesammelt und Gespräche geführt haben, bauen wir die Ausstellungen. Die Geschichten werden so aufbereitet, dass sie lesbar sind, und werden von professionellen Sprecherinnen eingesprochen. Manchmal wird ein Kunstwerk gestaltet und wir entwickeln Begleitveranstaltungen, zum Beispiel ein Poetry Slam, wo die Leute sich gegenseitig die Geschichten erzählen. Die Ausstellung wird von verschiedenen Formaten begleitet, und wir finden einen Weg, dass die Geschichten vor Ort bleiben und weiterwirken.
e: Gibt es bestimmte Grundprinzipien, die eure Arbeit leiten?
JS: Wir haben vier Grundpfeiler, auf denen wir alle Projekte aufbauen: aesthetic, embodied, narrative, relational. Wir wollen ein ästhetisches Erleben vermitteln: Welche sinnliche Erfahrung mache ich eigentlich? Ästhetische Erfahrungen helfen einem dabei, die Welt anders zu sehen. Wir wollen Orte des ästhetischen Berührens schaffen. Dabei soll der Körper beteiligt sein: Welche Rolle spielt darin meine eigene Wahrnehmung des Körpers? Es geht um Beziehung: Wie gehen wir miteinander um? Und es soll eine Geschichte erzählt werden: Welche Erzählungen kann ich eigentlich teilen? Wie kann ich durch Erzählungen im Moment sein und nicht alles auf eine intellektuelle Ebene heben? Denn wenn wir uns über eine persönlich gemachte Erfahrung austauschen, bewegen sich alle auf Augenhöhe.
Unsere Ausstellungen haben immer drei Elemente. Wir nennen sie: Open your mind – Explore with your feet – Reflect from your heart. Also, öffne deinen Geist, erforsche mit deinen Füßen, reflektiere aus dem Herzen heraus. Eine Ausstellung hat den Vorteil, dass man sie mit allen Sinnen erfahren kann. Da ist einfach ein Raum, in dem du deine Erfahrung selbst gestaltest. Du lässt dich von bestimmten Objekten anziehen, kannst zehnmal durchgehen und jedes Mal ist es eine andere Erfahrung. Es ist ein offener, freier Raum, in dem du selbst zum Akteur, zur Akteurin deiner eigenen Reise wirst. Deshalb haben wir dieses Format gewählt und entwickeln es ständig weiter: Open your mind – du lässt den Stress des Alltags hinter dir, Explore with your feet – du wirst Akteurin deiner eigenen Reise, und Reflect from your heart – durch Installationen, Kunst, Impro-Theater wirst du in Gespräche eingeladen.
Author:
Mike Kauschke
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