Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 2, 2021
Mit ihrem Ansatz der Donut-Ökonomie hat die Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth vielen Menschen veranschaulicht, dass ein ökologischer und sozialer Wandel möglich ist. Beides, eine gesunde Umwelt und soziale Gerechtigkeit, ist ihrer Ansicht nach nicht voneinander zu trennen. Wir sprachen mit ihr über die Macht der Bilder und ein neues Bild der Wirtschaft.
evolve: Sie betonen, wie wichtig die Bilder, Modelle und Geschichten sind, die wir verwenden, um über die Wirtschaft zu kommunizieren und zu lernen. Wie kamen Sie dazu, sich mit der Bedeutung solcher Bilder zu beschäftigen?
Kate Raworth: Früher habe ich immer Ideen für mich selbst in Form von Zeichnungen skizziert. Als ich zum ersten Mal ein Diagramm sah, das Erdsystemwissenschaftler von den planetarischen Grenzen erstellt hatten, war ich berührt. Es zeigte unsere planetarischen und wirtschaftlichen Grenzen. In dieses Diagramm zeichnete ich einen weiteren Kreis innerhalb des vorhandenen Kreises. Das war die erste Version des Donuts, und wenn ich sie anderen zeigte, fanden sie die Idee sehr hilfreich. Sie meinten: »Dieses Donut-Diagramm bringt die soziale und ökologische Dimension zusammen. Beides ist wichtig, aber bis jetzt konnte ich das nicht in einem einzigen Bild darstellen.« Es schien viele Menschen zu ermutigen, die über neue Visionen für die Wirtschaft sprechen wollten.
Grenzen setzen unsere Kreativität frei.
Das hat mein Interesse an der Macht der Bilder geweckt, und ich habe gelesen, dass über die Hälfte der Nervenfasern in unserem Gehirn mit unserem Sehvermögen verbunden sind. Wir werden als »Mustersucher« geboren; wir spüren visuelle Muster auf. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis schaute ich mir die Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaften an, mit denen ich viele Jahre zuvor unterrichtet worden war. Viele Wirtschaftswissenschaftler sind der Meinung, dass bildhafte Darstellungen in den Wirtschaftswissenschaften nur eine illustrierende Funktion am Rande haben, aber eigentlich der Text und die Gleichungen im Mittelpunkt stehen. Aber wenn wir begreifen, wie unser Gehirn funktioniert, verstehen wir, dass in Wirklichkeit die Bilder von zentraler Bedeutung sind. Sie prägen, was wir sehen, und das, was wir sehen, ist entscheidend dafür, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.
Als ich mir dann die Bilder und Diagramme der Wirtschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts ansah, wurde mir klar, dass sie die zugrunde liegende Weltsicht widerspiegeln. Sie erschienen mir wie intellektuelles Graffiti im Denken. Graffitis lassen sich nur schwer entfernen, gleichermaßen ist es auch sehr schwer, ein einmal gesehenes Bild wieder loszuwerden. Konstruktiver ist es dann, es mit einem neuen Bild zu übermalen.
Ich beschloss, einige zentrale Diagramme des wirtschaftlichen Denkens des 20. Jahrhunderts auszuwählen und zu erläutern, warum sie eine so starke Wirkung haben. Ausgehend davon wollte ich neue Diagramme vorschlagen, die sie ersetzen. Das ist der Kern des Projekts der Donut-Ökonomie.
e: Welche generelle Idee steckt hinter Ihrem Ansatz, die Wirtschaft durch das Bild eines Donuts zu betrachten?
KR: Dieses Bild erfasst eine veränderte Form von Fortschritt. Der Fortschritt des 20. Jahrhunderts, der in jeder Politikerrede und jedem Wirtschaftsvortrag beschworen wird, heißt endloses Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Es ist eine endlose exponentielle Wachstumslinie, die nur aufwärts weist. Die Metaphern, die die Fortschrittsvorstellungen des 20. Jahrhunderts vermitteln, drehen sich um Wachstum, Zunahme, Akkumulation und Expansion. Das Donut-Diagramm führt demgegenüber ein Bild ein, das eine ganz andere Vorstellung von der Form des Fortschritts transportiert.
In der Mitte des Donuts befindet sich das soziale Fundament und an der Peripherie die ökologische Grenze. Wir müssen einen Weg finden, um jedem Menschen ein Leben in Würde, mit Chancen und in Gemeinschaft zu ermöglichen, bei dem gleichzeitig die planetarischen Grenzen nicht überschritten werden. Es gibt diese beiden Seiten einer Medaille, und wir müssen für ein dynamisches Gleichgewicht zwischen ihnen sorgen: den sicheren und gerechten Raum für die Menschheit finden. Diese Art des Fortschritts zeichnet sich also nicht durch ständig steigendes Wachstum, sondern durch ein dynamisches Gleichgewicht aus. Und das ist die Dynamik des Lebens. Die Gesundheit lebender Systeme entsteht aus ihrem Gleichgewicht. Und eigentlich wissen wir das auch ganz genau aus den Erfahrungen mit unserem eigenen Körper. Wir wissen, dass unsere körperliche Gesundheit durch ein Gleichgewicht aus ausreichend – aber nicht zu viel – Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Bewegung, Wärme und Salz entsteht. Und wenn wir uns von der Metapher des menschlichen Körpers hin zum planetarischen Körper bewegen, verstehen wir neu, was es für die Menschen und den Planeten bedeutet, zu gedeihen, sich zu entfalten.
Das ist eine der großen Veränderungen, die das Bild des Donuts bewirkt. Wir leben zwischen zwei Arten von Grenzen: den sozialen Grenzen und den ökologischen. Aber ich glaube, dass Grenzen unsere Kreativität freisetzen. Stellen Sie sich Mozarts Musik auf einem Klavier mit einem Tonumfang von nur fünf Oktaven vor. Es sind die Grenzen des Klaviers, die uns anspornen, innerhalb dieser Grenzen kreativ zu werden. Und es sind die Torpfosten, die Fußball zu einem großartigen Spiel machen.
e: Der Donut stellt die sozialen Grundlagen der Wirtschaft in den Mittelpunkt. Warum ist das ein blinder Fleck im ökonomischen Mainstream-Denken?
KR: Jeder Studierende, den ich frage: »Welches ist das erste Diagramm aus der Volkswirtschaft, das Sie kennengelernt haben?", antwortet, dass es das von Angebot und Nachfrage ist. Wenn wir mit Angebot und Nachfrage beginnen, ist der Markt unser Ausgangspunkt. Vom ersten Tag des Wirtschaftsstudiums an stellen wir den Markt in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen; der Preis wird zum Maßstab unserer gesamten Überlegungen. Alles, was außerhalb des Marktvertrages liegt, wird als Externalität bezeichnet. Ich glaube nicht, dass uns dieses Rahmenkonzept im 21. Jahrhundert weiterhilft. Denn wenn Sie einen Wirtschaftswissenschaftler fragen: »Wie beschreiben Sie den Zusammenbruch der lebendigen Welt?«, dann wird er sagen, dass es sich um eine die Umwelt betreffende Externalität handelt. Ich glaube nicht, dass wir der Zerstörung unseres Planeten gerecht werden, wenn wir ihn als ökologische Externalität bezeichnen. Stattdessen müssen wir von den grundlegenden Werten ausgehen, die wir für jeden Menschen und für den lebenden Planeten gelten lassen, und sie in den Mittelpunkt unserer Vision stellen.
Wir beginnen mit dem, worauf jeder Mensch einen Anspruch im Leben hat. Der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen beschrieb in seinem Ansatz über die Fähigkeiten von Menschen, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben soll, ein Leben in Würde, mit Chancen und in Gemeinschaft zu führen. Die sozialen Grundlagen entnehme ich den von den Vereinten Nationen definierten Nachhaltigen Entwicklungszielen, was bedeutet, dass sich alle Regierungen der Welt bereits darauf geeinigt haben, dass jeder Mensch einen Anspruch auf die Erfüllung dieser sozialen Grundlagen hat. Beginnen wir also mit der Essenz dessen, worauf wir uns gemeinsam geeinigt haben.
e: Der »Markt« ist ein Konzept, das größtenteils mit Abstraktionen arbeitet. Inwieweit beeinträchtigt dies unser Verständnis für die Lebendigkeit sozialer und ökologischer Lebensbereiche und deren Verflechtung – oder führt es sogar in die Irre?
KR: Die sozialen Auswirkungen dieser Herangehensweise bestehen darin, dass man uns sagt, wir seien ein rational handelnder Akteur der Wirtschaft. Dieser Menschentypus steht im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Denkens des 20. Jahrhunderts. Würden wir ein Porträt von ihm zeichnen, wäre er ein Mann, allein, mit Geld in der Hand, ein Ego im Herzen, eine Rechenmaschine im Kopf und die Natur zu seinen Füßen. Uns wird beigebracht, dass er durch Eigeninteresse, Konkurrenzbewusstsein und Kalkül erfolgreich geworden ist. Das Schockierende daran ist, dass Untersuchungen gezeigt haben, dass je mehr Studenten in ihrem Studium über diese Persönlichkeitsmerkmale des rationalen Wirtschaftsmenschen erfahren, desto mehr schätzen sie nach eigenen Aussagen diesem zugeschriebene Eigenschaften wie Eigennützigkeit oder Konkurrenzdenken und desto weniger finden Qualitäten wie Kooperationsfähigkeit oder Altruismus ihre Anerkennung. Die Modelle, die wir schaffen, formen uns also tatsächlich um. Wenn wir vom Marktdenken ausgehen, identifizieren wir uns mit Eigenschaften wie wettbewerbs-orientiert und eigennützig. Wenn wir aber von Mitmenschlichkeit als Ausgangspunkt ausgehen, dann erkennen wir, dass wir das sozialste aller Säugetiere sind. Wir kooperieren, wir sind empathisch, wir teilen, wir arbeiten zusammen und – natürlich – konkurrieren wir auch, aber diese Eigenschaft ist dann eine unter vielen weiteren. Deshalb ist es so wichtig, die menschliche Natur zu kultivieren. Die erste Möglichkeit, das zu tun, besteht darin, unsere prosozialen Verhaltensweisen anzuerkennen.
In einem weiteren Diagramm, das ich erstellt habe, sehen Sie neben dem Markt auch den Staat, die Familie und die Allmende. Die Mainstream-Ökonomie sagt uns, dass wir Verbraucher oder Produzenten, Arbeiter oder Kapitaleigner sind. Das drängt uns in die Rolle des Konkurrenten und des Eigennützigen. Aber im Staat sind wir auch Einwohner, Beamte, Wähler und Protestler. Und im Haushalt sind wir Eltern, Kinder, Erziehungsberechtigte oder Betreuende. Und in der Allmende sind wir Mitgestaltende, Teilende, Instandsetzende und Begleitende.
Der Ausgangspunkt des Marktes schränkt also unsere Fähigkeit ein, uns in all diesen wertvollen Rollen wahrzunehmen. Wenn wir Workshops für Städte oder Gemeinden veranstalten, zeigen wir diese verschiedenen Rollen auf und laden die Menschen ein, sich selbst in ihrer ganzen Vielfalt zu beschreiben.
e: Wie versuchen Sie, die Grundsätze der -Donut-Ökonomie in die Tat umzusetzen?
KR: Unser erster Grundsatz ist, dorthin zu gehen, wo die Energie ist. Wir glauben, dass es überall Change Maker gibt, die den Kontext ihrer eigenen Situation gut kennen. Wenn sie sagen, dass unser Ansatz ein nützliches Instrument ist, um den Wandel in ihrem Kontext herbeizuführen, dann unterstützen wir sie. Wir haben das Donut-Konzept für die Anwendung in einer Nachbarschaft, einem Bezirk, einer Kleinstadt, einer Großstadt oder einer Nation heruntergebrochen. Wir laden zum Beispiel jede ehrgeizige Stadt ein, sich zu fragen: »Wie kann unsere Stadt ein Zuhause für gedeihende Menschen an einem florierenden Ort sein – und gleichzeitig das Wohlbefinden aller Menschen und die Gesundheit des gesamten Planeten respektieren?« Wir laden also zu einem ganzheitlichen Blick auf die Stadt ein. Der Rahmen gibt keine Antworten vor. Die Antwort entfaltet sich aus den Werten, der Kultur und dem Kontext des Ortes, aber der Donut sorgt dafür, eine Stadt oder einen Ort so zu gestalten, dass die Bedürfnisse aller im Rahmen der Möglichkeiten unseres lebendigen Planeten in den Blick genommen werden können.
e: Wie könnte es Ihrer Meinung nach gelingen, auch das wirtschaftliche Verhalten in großem Maßstab zu verändern?
KR: Wir betrachten diese Arbeit als fruchtbare Teamarbeit. Wir sehen das Doughnut Economics Action Lab als einen kleinen Akteur in einem Ökosystem von Change Makern. Wir sehen unsere Organisation als Aktionslabor. Es ist ein Experiment, das ausprobiert, wie und wo wir Tools schaffen können, die im Dienste der Change Maker stehen, die den Wandel herbeiführen wollen.
Ich weiß nicht, wie dieser Wandel zustande kommt und wo er beginnt. Aber Adam Smith wusste ja auch nicht, dass er sich mitten in einer industriellen Revolution befand. Vielleicht merken wir auch nicht, dass wir am Anfang einer wirtschaftlichen Transformation stehen.
Die Modelle, die wir schaffen, formen uns tatsächlich um.
e: Und wir brauchen einen sozialen und einen ökologischen Wandel, die gleichzeitig stattfinden. Wie können wir sicherstellen, dass sie sich nicht gegenseitig aufheben?
KR: Ja, es ist einer der Kernwerte des Donuts, dass es kein Entweder-oder gibt: Entweder man erreicht Umweltschutz oder man schafft soziale Gerechtigkeit. Wir brauchen beides, das ist der Ausgangspunkt. Um das zu ermöglichen, müssen wir die Wirtschaft umgestalten. Unsere gegenwärtige Wirtschaft ist von vornherein linear und degenerativ. Wir müssen sie regenerativ und kreislauforientiert gestalten. Wir haben eine Wirtschaft geerbt, die dazu neigt zu spalten und die Chancen und Werte in die Hände einiger weniger treibt.
Umwelt und Sozialwesen gedeihen gemeinsam. Wir können keine Entfaltung der Menschheit erreichen, wenn wir die lebenserhaltenden Systeme des Planeten Erde ausbeuten. Unsere Fähigkeit, Nahrung, sauberes Wasser, Gesundheit, sicheres Wohnen, gerechtes Einkommen, Frieden und Gerechtigkeit zu sichern, hängt von einem stabilen Klima, fruchtbaren Böden, frischem Wasser und einer reichhaltigen biologischen Vielfalt ab.
Wir müssen regenerative und distributive Konzepte entwickeln. Wir müssen die Art von Organisationen und Unternehmen entwerfen, die es bisher noch nicht gab, denn sie werden regenerativ und verteilungsorientiert sein. Ich sehe also eine Zukunft mit neuen Rechtsformen, neuen Arten von Unternehmen, die noch nicht erfunden worden sind. Ich sehe neue Arten von Städten und Stadtentwürfen sowie Strukturen, die in die lebendige Welt eingebettet sind.
Jedes Wirtschaftssystem und jede Technologie muss mit den Bedingungen, die Leben begünstigen, kompatibel sein. Wir brauchen eine Wirtschaft, die im Dienste der Menschheit steht. Wir brauchen Finanzsysteme, die dem Leben dienen und nicht sich selbst. Wir gehen also von einer ganz anderen Grundlage aus. Das erfordert ein radikales Umdenken bei den Wirtschaftssystemen, die wir schaffen. Aber das Schöne ist, dass die Wirtschaft ein soziales Konstrukt ist. Sie entsteht aus menschlichen Beziehungen, Bräuchen, Gesetzen und Kodizes und kann daher neu erschaffen und umgestaltet werden, um tatsächlich dem Leben zu dienen. Für manche Menschen ist das ein völlig überwältigender Gedanke, für andere aufregend und die Arbeit, die getan werden muss.
Das Gespräch führte Mike Kauschke.