Eine Zeit zwischen den Welten

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 24, 2022

Featuring:
Dr. Zak Stein
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Issue:
Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wir leben zwischen den Zeiten
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Wie uns etwas Neues gelingt

Der Entwicklungspsychologie und Bildungsexperte Zak Stein sieht unsere westlichen Gesellschaften in einer »Zeit zwischen den Welten«. Das Alte ist zunehmend disfunktional, aber das Neue ist noch nicht entstanden. Was ist das Wesen diese Übergangsphase? Wie können wir sie erfolgreich gestalten?

evolve: Sie sprechen davon, dass wir uns in einer Zeit zwischen den Welten befinden. Welche Fähigkeiten sind erforderlich, um in dieser Zeit des Übergangs zu bestehen?

Zak Stein: In meiner psychologischen Arbeit breche ich es auf drei große Kategorien von Entwicklung herunter. Erstens die Entwicklung der kognitiven Komplexität und der Fähigkeit zu angemessenem Verhalten. Bei der zweiten Art der Entwicklung geht es um die Persönlichkeit oder die »Durchseelung«, also um psychologische Dynamiken, Emotionen und zwischenmenschliche Beziehungen. Und drittens geht es um Transzendenz, das heißt, um Bewusstsein, Bewusstheit und die Fähigkeit, sich emotional selbst zu regulieren.

Es gibt die Forderung, dass wir die kognitive Komplexität allgemein steigern müssen, also eine vertikale Entwicklung unterstützen sollten. Wenn wir uns die Anforderungen der zu lösenden technologischen Probleme und der Koordinationsprobleme ansehen, übersteigt die Komplexität dieser Aufgaben unsere Kapazitäten. Es handelt sich um eine offenkundige Bildungskrise im Bereich der menschlichen Entwicklung. Es braucht eine vertikale Entwicklungsbewegung, durch die mehr Menschen befähigt werden, über viele komplexe Bereiche hinweg mehr­perspektivisch zu reflektieren.

In der Persönlichkeitsentwicklung oder Durchseelung (engl. ensoulment) geht die Bewegung nicht »nach oben«, um mehr Komplexität zu erreichen, sondern »nach unten« in eine verbundenere Wirklichkeit, um ein tieferes Verständnis von Menschsein zu erreichen. Diese Art von Entwicklung zeigt sich in kollaborativen Eigenschaften wie radikaler Empathie, tiefem Vertrauen und zwischenmenschlicher Verbindlichkeit.

¬ EINE PROFITORIENTIERTE ZIVILISATION KANN NICHT EWIG WEITERBESTEHEN. ¬

Dazu gehört insbesondere auch die Thematisierung des Todes. In Bezug auf die Bereiche von Persönlichkeit und Durchseelung sprechen wir auch über unser Verhältnis zum Tod und die Bilder, die wir uns vor diesem Hintergrund voneinander machen. Im Bereich der Durchseelung beginnen wir, uns mit religiösen oder existenziellen Fragen zu befassen.

Es ist notwendig, in mehr Komplexität aufsteigen zu können und gleichermaßen können wir uns tiefer in die menschliche Bezogenheit und eine Verbundenheit mit dem Heiligen hinabsinken lassen. Dazu gehört, Beziehungen zu schaffen, in denen Vertrauen, Zusammenarbeit und Empathie lebendig sind. Es bedeutet auch, uns auf ein Miteinander bei Fragen im Zusammenhang mit Tod und Sterben einzulassen.

Auf dem Gebiet der Transzendenz müssen wir in der Lage sein, radikale Ungewissheit auszuhalten und uns in Zustände zu begeben, in denen wir ein Gewahrsein unseres Gewahrseins erfahren – dazu gehört auch das Gewahrsein unserer eigenen Denkmuster. Insbesondere die meditativen und kontemplativen Gebetstraditionen konzentrieren sich auf Transzendenz. Wenn wir unsere kontemplative Praxis vertiefen und uns auf unsere Unsterblichkeit beziehen, die in tiefen Zuständen der Meditation erfahren werden kann, lindert dies Neurosen und eröffnet Fähigkeiten für Entwicklung und Durchseelung in eine größere Tiefe und Komplexität. Man kann diese Türen nur öffnen, wenn man durch die Praxis eine Beziehung zu seinem eigenen Bewusstsein, seinem Körper und seiner Fähigkeit zur Selbstregulierung entwickelt hat.

Wir müssen also alle drei Faktoren stärken. Wenn wir nur einen davon fördern und die anderen außer Acht lassen, kommen wir nicht weiter. Wenn man nur die Wahrnehmung von Komplexität fördert und den Schatten und die Fähigkeit zur Kontemplation vernachlässigt, dann bleiben wir die, die wir sind: ein Haufen Nerds, die außer Kontrolle geraten sind, mit hohen IQs und großen technischen Fähigkeiten, aber ­ohne Herz und ohne Sinn für Transzendenz. Und wenn man nur die Persönlichkeit und die Durchseelung stärkt, dreht man sich endlos im Kreis, macht Schattenarbeit und kann in der Tragik stecken bleiben. Wir missverstehen dann die Bedeutung der Wissenschaft. Oder man betreibt spirituelles Bypassing, wenn man sich nur auf den Bereich der Transzendenz konzentriert und sich aus der globalen Katastrophe heraus in die Einheit meditiert.

Zu viele Entwicklungsforscher fokussieren sich auf die kognitive Entwicklung und sagen, wir müssen die Menschen in eine postformale operative Kognition bringen. Das stimmt, aber es gibt noch die zwei anderen wichtigen Bereiche mit den Fähigkeiten zu Kooperationsfähigkeit, Empathie, Selbsterkenntnis und Kontemplation. Das heißt aber nicht, dass ich die Notwendigkeit ignorieren würde, Atomwissenschaftler und Menschen mit einer Expertise in KI-Technologie und der Neugestaltung der Infrastruktur auszubilden. Wir brauchen eine Arbeitsteilung zwischen Ausbildern und Entwicklungsexperten in diesen drei Bereichen.

Eine neue Beziehung zum Tod

e: Was wäre die Motivation für eine Beschleunigung der Entwicklung in diesen drei Bereichen?

ZS: Die Motivation hängt mit der Neugestaltung unserer Beziehung zum Tod zusammen. Bei meiner Arbeit in der Erwachsenenbildung habe ich die Erfahrung gemacht, dass es bei verhärteten Persönlichkeitsstrukturen und festgefahrenen Menschen oft etwas Tragisches braucht, um diese festgefahrenen Muster aufzulösen. In unserer Konfrontation mit dem existenziellen Risiko und dem drohenden zivilisatorischen Zusammenbruch fangen wir an, diese Art von Tragik zu erfahren, aber wir leugnen sie immer noch.

¬ DIE IMMER DEUTLICHER WERDENDE KULTURELLE KONFRONTATION MIT DEM EXISTENZIELLEN RISIKO WIRD DAS MOTIV FÜR EINEN TIEFGREIFENDEN BILDUNGSWANDEL SEIN. ¬

Im Center for Integral Wisdom sprechen wir über den ersten und zweiten Schock der Existenz. Der erste Schock der Existenz ereignete sich, als die Menschen der Antike dem individuellen Tod begegneten und religiöse Rituale schufen, um damit umzugehen. Der zweite Schock der Existenz ereignete sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Kalten Krieg. Hier ging es nicht nur um meinen individuellen Tod, sondern um den Tod der Menschheit, um das Ende der Welt durch einen Atomkrieg, menschliche Fehler oder menschliche Gier. Der zweite Schock der Existenz ist das selbstverschuldete Aussterben. Als Antwort darauf schaffen wir langsam kulturelle Innovationen von religiöser Tiefe.

Die immer deutlicher werdende kulturelle Konfrontation mit dem existenziellen Risiko wird das Motiv für einen breiten, tiefgreifenden Bildungswandel sein. Und ich habe den Eindruck, dass es noch härtere Lektionen als die Pandemie brauchen wird, um diese Motivation zu erschließen. Es gibt sehr beängstigende und sehr wahrscheinliche Szenarien von waffenfähiger künstlicher Intelligenz, weit verbreiteten Biotechnologien auf der Grundlage von künstlicher Intelligenz und geopolitischen Situationen, die uns zu einer kinetischen Kriegsführung zurückführen könnten. In dieser Situation wird wahrscheinlich etwas auftauchen, das wie eine Religion aussieht, aber keine Religion ist; etwas, das neue Formen der Liebe oder des Eros erschließt und die Motivation für ein breit angelegtes Umdenken von Bildung über alle Bereiche hinweg entstehen lässt.

Es könnte das Ende der Schulen sein und ein grundlegendes Neuverstehen von Gesellschaft bedeuten, in der sich im Wesentlichen alles um Bildung dreht. Wir könnten die gesamte Stadt in eine Schule verwandeln und Bildung im Verhältnis zu anderen sozialen Gütern und Werten neu positionieren und ihr eine andere Priorität einräumen. Es könnte eine bildungszentrierte Gesellschaft sein, in der die Entwicklung und die Fähigkeiten der Menschen im Mittelpunkt stehen.

Der beste Ansatz für eine Zivilisation zur Verhinderung ihrer Selbstzerstörung besteht in der kontinuierlichen Verbesserung ihres eigenen Lernvermögens und der ständigen Erneuerung ihrer Fähigkeit zum adaptiven Lernen. Das wäre eine Konzentration auf die menschliche Dimension der Zivilisation. Eine profitorientierte Zivilisation oder eine herrschaftszentrierte Zivilisation kann nicht ewig weiterbestehen. Sie wird ihre Ressourcen erschöpfen oder die Bevölkerung radikal polarisieren, sodass Gewalt unvermeidlich wird. Aber eine Zivilisation, die ihre eigene Lernfähigkeit steigert, könnte man als meta-­stabile Zivilisation bezeichnen. Anpassungsfähigkeit ist die einzige Antwort auf die Klimaschwankungen, die wir erleben werden. Und damit meine ich nicht Geo-Engineering. Es geht darum, dass die Menschen anpassungsfähig, intelligent und flexibel genug sein können, um ihre Technologien so einzusetzen, dass sie die Zivilisation nach Bedarf im Kontext der sich verändernden Biosphäre umgestalten können.

Ein sozialer Körper der Liebe

e: Können Sie die Rolle eines neuen Eros oder einer neuen Liebe als Teil einer Religion, die keine Religion ist, erklären?

ZS: Die Evolution der Liebe ist eine Möglichkeit, über die Evolution im Allgemeinen und die soziokulturelle Evolution im Besonderen nachzudenken. Das klingt nach New-Age-Gesäusel, aber ich habe den Begriff von Charles Sanders Peirce übernommen. Ende des 19. Jahrhunderts war er einer der ersten, der eine umfassende evolutionäre Kosmologie formulierte, die sich auf die dynamische Selbstorganisation konzentrierte, die ein Tanz zwischen Verschiedenheit und Einheit ist, der zur Entwicklung größerer Ganzheiten, größerer Intimität, Nähe, Tiefe, Bewusstsein und Komplexität führt. Peirce erkannte, dass dies dem Eros ähnlich ist. Diese für die Evolution charakteristischen Bahnen, die Peirce voraussah, gehen weit über die sogenannte neodarwinistische Synthese hinaus.

¬ ES GIBT EIN BEDÜRFNIS FÜR EINE NEUE EMERGENTE FORM DER SOZIALEN FÜRSORGE. ¬

Wenn ich vom Ende einer sozialen Ordnung und der Emergenz einer neuen sozialen Ordnung gesprochen habe, kann man das auch mit der Erschöpfung einer Form der Liebe und der Emergenz einer neuen Form der Liebe vergleichen. In seinem neuen Buch »Anfänge« argumentiert David Graeber, dass Herrschaft aus einer Perversion der Fürsorge hervorgeht. Der moderne Staat entstand aus dem starken Wunsch, die Menschen durch eine Armee und ein Rechtssystem zu schützen. Unsere kapitalistischen Wirtschaftssysteme und Staaten mit geopolitischen Grenzen, die eingerichtet wurden, um die Menschen zu schützen, stehen heute der Fähigkeit der Menschen, füreinander zu sorgen, im Weg. Denn wenn man an einer früheren Form der Liebe festhält, wird sie verdreht und verkehrt sich in ihr Gegenteil.

Die Pandemie und vor allem die politische Polarisierung haben uns voneinander entfernt. Es gibt ein Bedürfnis für eine neue emergente Form der sozialen Fürsorge, einen neuen sozialen Körper der Liebe. Es besteht die Hoffnung, dass wir die Perversionen der Liebe überwinden und uns wieder daran erinnern können, was es bedeutet, sich umeinander zu kümmern und einander zu schützen. Vielleicht erinnern wir uns erst nach einer viel größeren Katastrophe daran, wie wertvoll das ist.

Bedingungen für Emergenz

e: Emergenz entsteht aus Elementen, die nicht die Eigenschaften dessen besitzen, was neu entsteht. Wie schaffen wir also die Bedingungen für Emergenz?

ZS: Heute sind wir uns unserer selbst so bewusst geworden, und die Komplexitäts- und Sozialwissenschaften gelangen zunehmend an einen Punkt, an dem es eine wirklich neue und spontane Emergenz braucht. Aber wir haben auch eine neurotische Scheu davor, die Kontrolle über wesentliche Elemente unseres Lebens zu verlieren. Hier kommen wir wieder auf die menschliche Entwicklung zurück, weil uns bewusst wird, dass wir nicht wirklich kontrollieren oder vorhersagen können, wie die Zukunft sein wird. Weil diese Situation sehr riskant ist, zeigen sich viele psychologische Verteidigungsmechanismen und Verzerrungen.

Eine Reaktion darauf ist die Annahme, dass wir uns grundlegend von der Natur unterscheiden, die unvorhersehbar und chaotisch ist. Wir müssen unsere Zukunft selbst gestalten, damit sie vorhersagbar und geordnet ist und darin über die Natur hinausgehen. Nach dieser Überzeugung sollten wir uns für unser Überleben nicht auf die selbstorganisierenden Prozesse verlassen, die uns erschaffen haben. Wir verstehen uns nicht mehr als Teil eines selbstorganisierenden Prozesses, der uns in die Zukunft führen könnte, sondern wir kontrollieren alle Variablen und sagen die Zukunft voraus, indem wir sie gestalten.

Eine andere Antwort geht davon aus, die Erkenntnisse der Komplexitätswissenschaften ernst zu nehmen und Allwissenheits- und Allmachtsbestrebungen hinter uns zu lassen, um uns in den Strom selbstorganisierender Prozesse zu begeben, derer wir uns kaum bewusst sind. Diese Haltung wird als negative Fähigkeit bezeichnet, als die Fähigkeit, ein Problem zu betrachten, die Antwort nicht zu kennen und damit einverstanden zu sein. Es ist die Fähigkeit, Nichtwissen und Unsicherheit auszuhalten. Und die gilt es in großem Stil zu kultivieren, was aber sehr schwierig ist, wenn es um Leben und Tod geht. Und da sind wir wieder bei der Religion, die keine Religion ist und bei der Vertiefung von Verbindungen, von verkörperten Erfahrungen, von symbolischer Unsterblichkeit und einer Durchseelung, die unsere Neurosen in Bezug auf Tod und Kontrolle abschwächt.

Ich spreche von einem anderen seelischen Zustand, den Menschen, die wichtige Entscheidungen treffen, einnehmen müssen. Dabei geht es nicht um die Aufgabe von Wissenschaft und Vernunft, sondern darum, sie in den Kontext anderer emotionaler und bewusstseinsbezogener Fähigkeiten zu stellen. Wir müssen uns für die Emergenz vorbereiten.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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