Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
July 17, 2023
In seinem Buch »NichtDenken« weist der TV-Journalist, Philosoph und Zen-Praktizierende Gert Scobel auf die Bedeutung von Erfahrungen des Erwachens hin, wie sie in spirituellen Traditionen vermittelt und gepflegt werden. Für ihn haben sie auch eine große Relevanz für die vielen gesellschaftlichen Transformationen, vor denen wir heute stehen.
evolve: In Ihrem neuen Buch »NichtDenken« reflektieren Sie über den Zustand unserer säkularen Gesellschaft und die notwendigen Transformationen, vor denen wir stehen. Darin differenzieren Sie drei Zugänge zur Wirklichkeit: Denken, Nicht-Denken und NichtDenken. Mit Denken beschreiben Sie den wissenschaftlich rationalen Weltzugang, der uns ganz viel eröffnet, aber eben auch an seine Grenzen stößt. Mit Nicht-Denken sprechen Sie nicht-rationale Weltbeziehungen an, wie das Fühlen, aber auch die Versuche, die rationalen Grundlagen unseres Verstehens zu torpedieren, im Sinne von Fake-News und der Relativierung von Wahrheit. Und mit NichtDenken bezeichnen Sie ein kontemplatives oder erfahrungsmäßiges Verstehen einer tieferen bewusstseinsmäßigen Grundlage, aus der wir eigentlich leben und die Welt verstehen können. Hier liegt ein Zugang zu Erkenntnis und dem Umgang mit der Welt, den wir bisher kaum genutzt haben. Können Sie diese Differenzierung erklären? Warum ist Sie Ihnen so wichtig?
Gert Scobel: Ich möchte es an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Wenn Sie eine kompliziertere Addition ausführen, dann wissen Sie, ob Sie richtig rechnen. Und doch können Sie die Prozesse, die dabei in Ihrem Gehirn ablaufen, nicht direkt sehen – übrigens auch nicht mit neurowissenschaftlichen Methoden. Denken bezieht sich auf das kritisch rationale Erkennen, das richtige Rechnen. Nicht-Denken wäre in diesem Fall das Gegenteil. Statt zu rechnen könnten Sie auf Ihre Intuitionen hören oder auf den Flug der Vögel achten. Was Sie tun, sieht nur so aus wie Rechnen. Von außen sehen wir nicht, wie all diese Prozesse auf einer tieferen Ebene strukturiert und eingebettet sind. Das NichtDenken, das ich meine, ist weder ein Denken noch ein Nicht-Denken, sondern bewegt sich genau auf dieser tieferen Ebene. Es geschieht in dem Bereich des Bewusstseins, in dem Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Wahrnehmungen überhaupt erst entstehen. In diesen Bereich gelangen wir beispielsweise durch Übungen der Meditation, und wir stellen fest, dass dieser Raum nicht mehr begrifflich strukturiert ist. Begrifflich strukturiert bedeutet, dass etwas auf Unterscheidungen beruht: Schwarz/Weiß, Leid/Freude, letztlich auf binären Gegensatzpaaren. Die spirituellen Traditionen bezeichnen die Erfahrung dieses vorbegrifflichen Raumes als Erwachen. Wir erleben eine Einheit mit der Welt, eine Nicht-Zweiheit von Körper und Geist, ein Überall-im-Hier-und-Jetzt-Sein.
»Wir erleben eine Einheit mit der Welt, ein Überall-im-Hier-und-Jetzt-Sein.«
e: Würden Sie diesen tiefen Erfahrungen eine religiöse Qualität zusprechen? Diese Erfahrung des Erwachens beinhaltet ja auch eine starke emotionale Komponente, die man mit Ehrfurcht und dem Verbundensein mit etwas Größerem umschreiben kann. Und sind Sie der Ansicht, dass solche Erfahrungen eigentlich die Quelle sind, aus der alle Religionen kommen?
GS: Ich finde Ihre Fragen interessant, muss Sie aber darauf aufmerksam machen, dass Sie sich damit bereits im Bereich des rationalen Eingliederns und Durchdringens einer solchen nicht-sprachlichen Erfahrung befinden. Die Erfahrung selbst ist begriffslos. Es ist eine Erfahrung, die sich gerade nicht in erster Linie durch Begriffe konstituiert, aber auch nicht einfach durch Gefühle. Die Frage, ob diese Erfahrung religiös ist oder nicht, stellt sich in dem Moment, in dem Sie die Erfahrung machen, überhaupt nicht. Die Erfahrung ist weder religiös noch nicht-religiös. Es ist schlicht die Erfahrung von Hier-und-Jetzt-im-Moment-Sein, in der sich alle Unterscheidungen auflösen. Erst wenn Sie versuchen, aus dieser Erfahrung in Ihren Alltag hineinzukommen, haben diese Fragen wieder Relevanz: Was war das denn jetzt gerade? Habe ich eine religiöse Erfahrung gemacht? Sie sind zurück in der binären Welt und arbeiten mit Unterscheidungen.
Natürlich ist diese Erfahrung aus der herkömmlichen Sicht der Welt des Alltags verrückt. Verrückt deshalb, weil sie nicht mit den gewohnten Kategorien erfasst werden kann, mit denen wir normalerweise alles, was wir erleben, machen, fühlen oder denken, erfassen. Auf einmal sind diese ganzen Kategorien, die ich mein Leben lang gelernt habe, nicht mehr anwendbar. Aber der springende Punkt ist nicht die Erfahrung des Erwachens, sondern diese Erfahrung anschließend in den Alltag zu integrieren und den Alltag davon durchdringen lassen. Es bleibt ein ständiger Prozess des Vertiefens, des Vorwärtsgehens, manchmal auch des Zurückgehens. Es ist ein Prozess, der so dynamisch ist, wie das Leben selbst. Aber wenn man weiter übt, wächst diese Erfahrung und kann sich stabilisieren.
Die Einheit der Dinge
e: Wenn ich Sie richtig verstehe, schafft die Erfahrung des NichtDenkens die Offenheit und Vertiefung, um das Denken und Nicht-Denken zu hinterfragen und damit auch die eigenen Grundlagen und Schlussfolgerungen?
GS: Richtig, der Zen-Meister Dogen beschreibt es als das »Ausfallen von Körper und Geist«. Dieses NichtDenken macht uns offener und klärt unsere Haltung zur Wirklichkeit und zu uns selbst – aber zum Beispiel auch unsere politische Haltung. Eine fremdenfeindliche Ausgrenzung, die auf Dualität beruht, ist dann nicht mehr akzeptabel. Ich werde mich fast schon automatisch für die Integration von Flüchtlingen einsetzen, weil der oder die Geflohene auf einer tieferen Ebene sozusagen diesseits der Unterschiede nicht völlig unterschiedlich von mir ist. Wenn Körper und Geist wirklich ausgefallen sind, erfahre ich die tatsächliche, vor unseren Unterscheidungen existierende Einheit der Welt, die über die Begrifflichkeit hinausgeht, denn die Begrifflichkeit setzt die Unterschiede in der Welt fest und markiert sie. Die Erfahrung des NichtDenkens löst solche Markierungen auf wie: Da ist Körper, da ist Geist; da ist der Andere, hier bin ich; da ist ein Tier, hier ist ein Mensch. Stattdessen erfahren wir die Zusammenhänge und die Einheit der Dinge. Ich kann sie anschließend nicht mehr so trennen, wie ich es vorher konnte.
e: Und diese Erfahrungsräume eröffnen uns in dieser Transformation einen größeren Raum von Möglichkeiten, wie man mit solchen Dilemmas wie der ökologischen Krise oder der Flüchtlingssituation umgeht.
GS: Wir befinden uns persönlich, politisch und kulturell in einem riesigen Prozess der Transformation. Dabei darf man diese Erfahrungen nicht ausschließen, denn sie gehören ganz entscheidend zur Transformation. Wenn ich meinen Geist nicht kläre und nicht verstanden habe, werde ich immer einen verwirrten und unruhigen Geist haben und das wird sich auf alles andere auswirken.
Man kann die Erfahrung des NichtDenkens nicht vom Umgang mit anderen Menschen und dem eigenen Handeln trennen. Diese Erfahrung zeigt uns ja gerade, dass diese Dinge nicht mehr voneinander trennbar sind. Und das macht die »neue« Haltung aus, dass sie diese Zusammenhänge berücksichtigt und freundlich mit Differenzen umgeht, im Sinne einer mitfühlenden Achtsamkeit. Allerdings sollte man sich hüten zu glauben, mit einer solchen Erfahrung in der Tasche würde alles gut. Damit es gut wird, müssen wir immer auch politisch und moralisch handeln. Und das bedeutet, wir müssen andere überzeugen. Einen Automatismus des Guten gibt es also nicht. ■
Das Gespräch führte Mike Kauschke für die Ausgabe 21/2019 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org