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October 24, 2022
Können wir uns inmitten von Krisen noch vorstellen, wie ein schönes und gutes Leben aussieht? Rebellisch, enthusiastisch und farbenfroh erlaubt die Solarpunk-Szene sich die spielerische Neuinterpretation der Nachhaltigkeit. Von mutigen und übermütigen Versuchen, Zivilisation von innen heraus neu zu erfinden.
Der Mythos sah aus wie alte Zeichnungen des Turms von Babel, der von Hippies und Designfreaks neu besiedelt worden war. Er war mit Moos und Efeu und hängenden Gärten bewachsen. Das Innere bestand aus verschachtelten Kuppeln, massiven, gewölbten Streben, die hölzerne Plattformen, aufgehängte Schiffscontainer und gelegentlich eine Hängebrücke trugen. Eine Flottille bunter Hausboote drängte sich auf dem Wasserspiegel zusammen. Für die Beleuchtung sorgte ein Sammelsurium aus biolumineszierenden Kugeln und baumelnden LED-Ketten. Hier und da blitzten Spiegel von der Größe eines Stadtbusses auf und reflektierten den Sternenhimmel über ihnen. Der Mythos sah aus wie eine Kombination aus botanischem Garten, Feldlabor, moderner Kunstgalerie und römischem Bad. Auf jeden Fall bizarr, aber es war auch das Schönste, was sie je gesehen hatte.
Es sind Bilder wie diese, mit denen die sich seit etwa 15 Jahren rund um den Globus entfaltende Solarpunk-Bewegung hervortut. Schillernde Motive, urbane Landschaften mit viel Grün, technische Gimmicks, dazu ein bisschen Jugendstil. Mit magischen Welten und farbenfrohen Szenen hält Solarpunk den düsteren Zukunftsszenarien unserer Zeit die Möglichkeit des Schönen und Guten entgegen. Die Zukunft, die Adam Flynn und Andrew Dana Hudson hier in ihrer Kurzgeschichte »Sunshine State« beschreiben, spricht an. Die Architektur hat etwas Fantastisches, ja beinahe Mystisches. Irgendwie kann man sich gut vorstellen, wie inspirierend es wäre, in einer solchen Welt zu leben und sie mitzugestalten. Man kommt wohl kaum auf die Idee, dass es sich hier eigentlich um ein Krisenszenario handelt, denn das Bauwerk, errichtet in Florida in einer nicht allzu fernen Zukunft, ist ein Versuch, auf die Klimakrise und ihre Extremwetterlagen zu antworten. Die Verwüstungen noch in Erinnerung, die Hurrikan Ian im Frühherbst im Sonnenscheinstaat anrichtete, würde man sich wünschen, dieser Mythos wäre bereits Realität, als ein von wunderbaren Einfällen durchdrungener Lebensraum, aber auch als Arche in einem kollabierenden Ökosystem.
¬ SOLARPUNK BRICHT GEZIELT MIT DYSTOPISCHEN ZUKUNFTSBILDERN. ¬
Solarpunk bricht gezielt mit den dystopischen Zukunftsbildern, die uns in den Medien entgegenkommen. Düstere Szenarien nähren vor allem Ängste. Sie zeigen uns jedoch nicht, wie eine nachhaltige Zivilisation aussehen könnte und wie wir dieser näher kommen. »Unsere politische Vorstellungskraft beschränkt sich darauf, unsere Probleme zu diagnostizieren. Und doch bricht die Sonne durch den Smog. Solarpunk ist eine spekulative Bewegung: eine gemeinsame Anstrengung, sich eine Welt des Wohlstands, des Friedens, der Nachhaltigkeit und der Schönheit vorzustellen und zu gestalten«, erklärt Andrew Dana Hudson, der als Schriftsteller und Nachhaltigkeitsforscher am Center for Science and the Imagination der Arizona State University tätig ist. Es geht um einen Utopismus, der zutiefst menschlich ist. Wie können wir weiter auf diesem Planeten leben, wenn der Meeresspiegel steigt?
Zum Träumen anregen
Wo Gletscher schmelzen, Jahrhundert-Trockenheiten zu Hungersnöten führen und Kriege unsere Leben und Systeme bedrohen, verengt Zukunft sich dramatisch. Politik versucht reflexartig, die aus dem Ruder laufenden Krisen wieder einzudämmen. Doch der Modus des Probleme-Lösens zieht uns in die Dynamik des Problematischen hinein. Solarpunk versucht, dieses Sich-im-Kreis-Drehen aufzubrechen. Den Anstoß lieferte ein Ereignis, das heute nahezu in Vergessenheit geraten ist. Als 2008 in Bremerhaven die Beluga SkySails in See stach, war dies nicht nur ein technologischer Durchbruch. Es war ein geradezu ikonografischer Moment. Ein riesiger Schwerlast-Frachter, angetrieben von der Kraft des Windes! Die Bilder gingen um die Welt und das über dem Schiff aufgespannte Segel entfaltete eine ästhetische Kraft, die zum Träumen anregte. Das Blog »Republic of the Bees« sprach in Würdigung dieses historischen Augenblicks von Solarpunk, um diesen faszinierenden Eindrücken einen Namen zu geben. Mit einem Mal wurde die Frage wichtiger, wohin dieser Wind im Segel uns bringen kann, statt nachzurechnen, wieviel Diesel sich dadurch einsparen lässt.
»Solarpunk fühlt sich an wie eine kathartische Entkorkung einer aufgestauten Fantasie. In einer politischen Landschaft des Verfalls, des Stillstands und des Ausnahmezustands sollte die Strategie von Solarpunk darin bestehen, Zonen des Einfallsreichtums zu schaffen«, so Andrew Dana Hudson. Wie kann unsere Zukunft aussehen, wenn wir sie nicht von einem Ort der Ohnmacht und Furcht aus denken, sondern uns von dem bewegen lassen, was ein schönes, gutes Leben ausmacht? Angeregt von Fragen wie dieser wurde Solarpunk zum Hashtag für Aktivisten und Vordenkerinnen aus der Umweltbewegung und der Technologieszene, für sozial Engagierte und Spirituelle. So entstand ein Resonanzraum für Rebellion und Enthusiasmus, ein Nährboden für eine Gegenkultur, die die Frage nach unserer ökologischen Zukunft mit Themen wie Postkapitalismus und Dekolonialismus verband. In Literatur und Kunst, Architektur und Mode, Musik und Computerspielen blühen die Motive ganzheitlicher, ästhetisch ansprechender Lebensräume seitdem geradezu auf. Filme wie Avatar und Black Panther, das Earthship in Tempelhof und Guerilla-Gardening – in all diesen spielerischen Interpretationen von Nachhaltigkeit vibriert der Solarpunk-Spirit.
Die Macht der Geschichten
Dabei geht es nicht darum, die eine Zukunft für ein gelingendes nachhaltiges Leben zu entwerfen und als Lösung zu präsentieren. Es geht um das Freilegen von künftig Möglichem, und das ist vor allem ein Prozess des Ringens. »Stellen Sie sich einen Baum vor, der inmitten von Schutt und Geröll wächst. Der Baum kann den Beton nicht verschwinden lassen, aber der Beton ist in zu schlechtem Zustand, um ihn aufzuhalten. Auf die gleiche Weise sollte Solarpunk daran arbeiten, die Zivilisation von innen heraus neu zu erfinden. Durch lokale Zusammenschlüsse und globale Netzwerke kann Solarpunk Bereiche von Lebendigkeit und Widerstand inmitten einer größeren Welt des Niedergangs und der Unterdrückung schaffen«, so Andrew Dana Hudson. Viele Solarpunk-Motive, die im Internet kursieren, illustrieren farbenprächtig die schöne neue Welt, auf die wir uns zubewegen können. Sie wirken wie ein Magnet und bringen eine Kraft in dieses Ringen, die vielleicht dabei hilft, nicht im Sog der Dramatik steckenzubleiben, die allgegenwärtig ist. Wir alle wissen um die Katastrophen, die von zwei Grad Erderwärmung ausgehen. Was wir nicht wissen, ist, wie wir damit leben können. Wohl genau deshalb braucht es Bilder und Geschichten, die inspirieren, die kraftvoll sind, vielleicht sogar magisch. Solarpunk vermeidet nicht die Dunkelheit, sondern schafft ganz bewusst ein konstruktives Gegengewicht.
¬ WIE KANN ZUKUNFT AUSSEHEN, WENN WIR SIE NICHT AUS OHNMACHT DENKEN? ¬
Es kommt nicht von ungefähr, dass wesentliche Bezugspunkte des Solarpunk literarischer Natur sind. Die 2012 in Brasilien erschienene Anthologie »Solarpunk: ökologische und fantastische Geschichten in einer nachhaltigen Welt« ist so etwas wie eine Gründungsurkunde der Bewegung. Für die 2018 verstorbene Autorin Ursula K. Le Guin sind Geschichten wie ein »Medizinbündel«: »Ich halte die Vorstellungskraft für das mit Abstand nützlichste Werkzeug, das der Menschheit zur Verfügung steht. Ihr ist es wesentlich zu verdanken, dass wir Menschen sind und bleiben.« Le Guins Fantasy-Sagas und Science-Fiction-Epen bilden für viele Solarpunks eine Quelle der Inspiration, weil sie danach fragen, wie Menschen sich entfalten können und wie sie zu einem gedeihlichen Miteinander finden, untereinander und im Einklang mit ihren jeweiligen Umwelten. In diesen Erkundungen spielen Kunst und Spiritualität, Magie und Zauber eine bedeutsame Rolle, weil sie das menschliche Bedürfnis nach Sinn und Bedeutung ansprechen. Solche Geschichten zeigen uns, wie kostbar das Leben ist und wie wir dafür einstehen können, dass es sich auch in Zukunft auf diesem Planeten entfalten kann.
Die Transformation all der äußeren Lebensbedingungen, die es dafür braucht, ist verbunden mit einem tiefgreifenden inneren Wandel. Solarpunk wird gerne als Bewegung gesehen, die auf ein planetarisches Bewusstsein zusteuert. Uns dem anzunähern, fragt auch danach, die Fragmentierungen in uns selbst zu überwinden. Ursula K. Le Guin beschreibt im Vorwort zur Gesamtausgabe ihrer Erdsee-Geschichten, wie schwer es ihr selbst einst fiel, sich von den vorherrschenden Denkmustern ihrer Zeit zu emanzipieren. Schon längst eine erfolgreiche Autorin, hatte sie die ersten drei Bände des Epos in nur fünf Jahren vollendet, doch dann ging auf einmal gar nichts mehr. »Ich hatte zunehmend das Gefühl, meinem Schreiben würde etwas fehlen, was ich nicht genau zu bestimmen wusste, und das hatte meine Fähigkeit zum Geschichtenerzählen zu lähmen begonnen«, erzählt sie. Ihr wurde mehr und mehr bewusst, wie sehr ihre Erzählungen einem für die damalige Zeit üblichen Heldentum folgten und sie so in eine Welt hineinzogen, über die sie eigentlich hinausschreiben wollte. »Es war höchste Zeit, dass ich lernte, mit meiner eigenen Stimme zu schreiben. Wir alle müssen lernen, unser Leben selbst zu erfinden, zu erdenken, zu imaginieren«, so ihre Erkenntnis.
Das Ja zum Leben lernen
Um solche Entwicklungsprozesse zu fördern und zu erleichtern, entwickelt die Solarpunk-Szene gezielt Lern- und Übungsräume. Das Sozialunternehmen Civics Unplugged etwa bildet seit 2019 jedes Jahr Tausend Schülerinnen und Schüler zu zivilgesellschaftlichen Innovatoren aus, die in ihren Umfeldern rund um den Globus Projekte zu demokratischer Partizipation, Umweltbildung und Inklusion realisieren. »Unser ultimatives Ziel ist eine Zukunft, in der Communities in der ganzen Welt von Gestaltern profitieren, die ihre Fähigkeiten nutzen, Gemeinschaften und den Planeten zu regenerieren«, so die Mission der Initiierenden. Der Inkubator für eine Solarpunk-Zukunft bringt die Aktivisten der Generation Z im Alter von 15 bis 20 Jahren mit erfahrenen Social-Impact-Leadern zusammen und eröffnet ihnen eine Umgebung für intergenerationelles und interdisziplinäres Lernen, in der der Geist des Solarpunk erblühen kann. Bisher haben Jugendliche aus 47 Ländern diese Programme durchlaufen. Mit dem neu gegründeten DreamDAO als einer dezentralen autonomen Organisation (siehe auch Ausgabe 34 von evolve) soll sich dieses Engagement potenzieren und bis 2030 rund eine Million Jugendliche erreichen.
¬ SOLARPUNK ARBEITET DARAN, DIE ZIVILISATION VON INNEN HERAUS NEU ZU ERFINDEN. ¬
Erwachsene stehen oft zunächst vor der Aufgabe, die im Laufe von Jahrzehnten verinnerlichten destruktiven Denkweisen hinter sich zu lassen. »Unsere Mainstream-Gesellschaften werden von Algorithmen, Modellen und Technologien angetrieben, die nicht auf evolutionäres Wachstum und planetarisches Wohlergehen ausgerichtet sind. Das Aufwachsen in einem mechanistischen Universum weckt weder die Sorge um das Leben noch die Verantwortung für das kollektive Wohlergehen«, beschreibt die Systemforscherin Anneloes Smitsman die Herausforderung. Mit dem von ihr begründeten Earthwise Center bietet sie Programme an, in denen Menschen zu »Geschichtenerzählern neuer Paradigmen« werden können. »Wir müssen lernen, wie wir als lebende Systeme denken, fühlen, wachsen und uns entfalten können. Es ist ein Lernprozess, durch den wir die Fähigkeiten entwickeln, unsere Potenziale auf eine Art und Weise zu verwirklichen, die generativ, lebensbejahend, chancensteigernd und zukunftsschaffend ist«, so Smitsman. Sie versucht, die organische Lebendigkeit, die in vielen Solarpunk-Motiven zum Ausdruck kommt, in den Menschen selbst zum Leben zu erwecken. Denn hier eröffnen sich die neuen Vorstellungswelten, auf die unsere Zukunft bauen könnte.
Die Inspirationen, die Solarpunk in die Welt bringt, sind faszinierend und verführerisch. Und das müssen sie wohl auch sein, um nicht im Strudel vorherrschender Dystopien unterzugehen. Bisweilen wird die Solarpunk-Ästhetik dafür kritisiert, zu fröhlich, zu unbeschwert, ja sogar naiv zu sein. In den vergangenen Jahren ist die Bewegung allerdings auch gereift und ihre Ausdrucksformen werden differenzierter. Mit Lunarpunk etwa hat sich ein Nebenstrang entwickelt, der den technologischen Schwärmereien der Szene sehr kritisch gegenübersteht und auch politische Fragen stärker ins Visier nimmt. Doch in einer Zeit, in der so viele Schatten auf das Schöne und Gute fallen, scheint es nach wie vor dringlich, das Lebensbejahende immer wieder ganz bewusst auszuleuchten. Oder, wie Ursula K. Le Guin es ausdrückt: »Ich möchte mir eine Gesellschaft vorstellen können, deren Hauptanliegen der Fortbestand der eigenen Existenz ist; eine Gesellschaft mit genügsamem Lebensstandard, die natürliche Lebensquellen bewahrt, die ein auf Konsens basierendes politisches Leben hat; eine Gesellschaft, der es erfolgreich gelingt, sich ihrer Umwelt anzupassen, und die gelernt hat, so zu leben, dass sie weder sich selbst noch ihre Nachbarn zerstört. Ebendiese Gesellschaft muss ich mir sogar vorstellen können, denn niemand kann ohne Hoffnung leben«.