Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
October 29, 2014
Pia Gyger war Zen-Meisterin. Sie war gleichzeitig Mitglied und ehemalige Leiterin eines katholischen Säkularinstitutes. Sie wird allen, die sie kannten, von ihr oder durch sie lernten, in Erinnerung bleiben als eine Frau erfüllt von Feuer und Licht. Leidenschaftlich trat sie für das ein, was sie als richtig erkannt hatte. Das war zunächst im Rahmen ihrer Berufung zur katholischen Ordensfrau die Überzeugung, dass sie die drei evangelischen Räte Armut, Keuschheit und Gehorsam leben und gleichzeitig neu interpretieren musste. Diese Arbeit mündete in die Umstrukturierung der Gemeinschaft, die sie damals leitete, des St. Katharina-Werkes in Basel. Gleichzeitig machte sie nie einen Hehl daraus, dass ihre zölibatär gelebte Liebe zu Niklaus Brantschen die Quelle sei, um die Liebesfähigkeit und den Dienst an der Welt zu vertiefen, die durch diese Gelübde erhöht werden sollen.
Gemeinsam mit ihm ging sie genauso radikal, wie sie den Weg der evangelischen Räte ging, den Zen-Weg, zunächst bei Yamada Ko Un Roshi. Als Yamada Roshi verstarb, beendete sie ihre Ausbildung bei Aitken Roshi in Hawaii, von dem sie die Lehrbefugnis erhielt, um sich schließlich dem Diamond Sangha von Tetsugen Glassman Roshi in New York anzuschließen, von dem sie gemeinsam mit Niklaus Brantschen 1999 zur Zen-Meisterin ernannt wurde. Das ermöglichte ihr zusammen mit ihm die Zen-Tradition neu auszulegen. Dies geschah durch die Gründung der Kontemplationsschule „Via Integralis“, in der sich die Praxis des Zen mit der Tradition der christlichen Mystik verbindet und damit zu einer Vitalisierung der Mystik in Geist und Praxis des Zen führt. Damit hat sie ein ihr wesentliches Ziel erreicht: die weite Vision eines universalen Christus, wie sie mit Teilhard de Chardin die Tiefendimension des Kosmos nannte, in einem praktisch-konkreten Zugang für alle Interessierten zu eröffnen.
Eine weitere Vision blieb unerfüllt: durch einen Versöhnungsprozess dazu beitragen zu können, dass Jerusalem, die Heilige Stadt aller abrahamitischen Religionen, zu einer neutralen, der UNO unterstellten Zone wird und damit zum Kristallisationspunkt einer weltweiten Versöhnung von Religionen und Nationen werden kann. Andere Ziele, von denen damalige Fachleute meinten, sie seien utopisch, hat sie erreicht: Sie hat einem Therapieheim für Mädchen ein Fundament gegeben, das Schule gemacht hat. Auf der Basis eines tiefenpsychologischen Konzeptes und einer kollegialen, demokratischen Leitung ohne Hierarchien werden schwer psychisch kranke Jugendliche wieder dauerhaft und mit gutem Erfolg ins Leben zurückgeführt, wo noch vor 30 Jahren eine Psychiatrie- oder Gefängniskarriere zu erwarten gewesen wäre.
Visionäre wie Pia Gyger sehen Möglichkeiten und Wege, wo ihre Zeitgenossen nur Barrieren und Abgründe erkennen.
Visionäre wie Pia Gyger haben sehr undankbare Aufgaben: Sie sehen Möglichkeiten und Wege, wo ihre Zeitgenossen nur Barrieren und Abgründe erkennen. Meist ist es ihnen nicht vergönnt zu erleben, wie ihre Ideen Frucht tragen, weil sie ihrer Zeit vorausgeahnt haben. Und oft auch ist die konkrete Gestalt dann anders als im Rahmen der damaligen Möglichkeiten vorstellbar. Manchen Weggefährten wird die Zeit des Wartens zu lang, die vielen Umwege zu mühsam, das Brot der Hoffnung zu dürr. Die Zeit wird zeigen, wie sich diese Visionen, die sie in ihren Büchern zum Ausdruck gebracht hat, und welche davon, in die Wirklichkeit bringen werden lassen.
Ihr wichtigstes Ziel hat sie wohl erreicht. Immer wieder hat sie geschrieben und gesagt, das wichtigste Ziel in ihrem Leben sei es, lieben zu lernen. Vor allem die Dankbarkeit vieler, die bei ihrer Abdankungsfeier in Basel von nah und fern zusammengekommen waren, ließ spüren, dass sie von ihrer Liebe bewegt worden waren. Kurz nachdem mich die Nachricht von ihrem Tod erreicht hat, habe ich versucht, Pias Essenz in ein kleines Haiku zu fassen. Für mich ist es:
Feuer von innen
in die Welt geschickt
brennt ewig.