Freundlichkeit zwischen Fremden

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

November 6, 2020

Featuring:
Lee Mingwei
John Cage
Joseph Beuys
Marina Abramović
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Issue:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
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Ein Interview mit Lee Mingwei

Lee Mingwei gestaltet Erfahrungsräume im Museum, bei denen die menschliche Begegnung im Zentrum steht. Er bittet Menschen, ihre liebsten Dinge mit ins Museum zu bringen und die Geschichten dahinter zu teilen, er lädt die Besucher ein, mit ihm ihre kaputten Kleidungsstücke zu flicken oder eine Nacht mit ihm im Museum zu verbringen. Was ihn dabei inspiriert, ist der unvorhersehbare Moment der Begegnung, des Austausches, des Schenkens und der rituellen Vertiefung alltäglicher ­Situationen. Wir sprachen mit dem Künstler, der erst kürzlich eine Ausstellung im Berliner Gropius-Bau unter außergewöhnlichen Bedingungen gestaltete.

Lee Mingwei: Meine gesamte Kunst hat viel mit meiner Herkunft und mit meinen Kindheitserfahrungen in Taiwan zu tun. Die Stadt Taipei war in den 60er- und 70er-Jahren relativ intim in dem Sinne, dass die Leute durch gemeinsames Frühstücken und Gespräche auf der Straße lebendige Beziehungen miteinander pflegten. In solchen Gesprächen erhielt ich Informationen darüber, wo und wer ich war, und wurde ein integraler Teil der Gesellschaft. Diese Erfahrung führte dazu, dass ich in einer Arbeit mit dem Titel »The Living Room« die Menschen bitte, Dinge mit ins Museum zu bringen, die ihnen wichtig sind, und die Geschichten hinter diesen persönlichen Gegenständen zu teilen. In all meinen Projekten möchte ich die Situationen, die ich für jeden Besucher schaffe, als einen Ausgangspunkt nutzen, um zu erkunden, wer du bist und wer die Menschen, die du triffst, sind. Auf diese Weise kann Beziehung entstehen und auch weitergehen.

Vertrauen und Zufall

e: Es scheint, dass Ihre Projekte viel mit Wandel oder einem unvorhersehbaren Prozess zu tun haben. Ist das eine bewusste Wahl, um diese Unvorhersehbarkeit zu ermöglichen?

LM: Vertrauen und Zufall sind die Hauptbestandteile meiner Arbeit, die eine gewisse Spannung ermöglichen. Das hat mit zwei Elementen in meinem Leben zu tun. Erstens wuchs ich als Taiwanese mit einer Idee auf, die mit einem wiederkehrenden Thema des I Ching, dem Buch des Wandels, zu tun hat, das man als praktiziertes Tao bezeichnen kann. Zum Beispiel habe ich heute das Vergnügen und die Ehre, Sie zu treffen, was von Tausenden von Jahren der Entwicklung beeinflusst ist. Vielleicht entstanden in einem früheren Leben die Voraussetzungen für dieses spezielle Treffen und jetzt ist es dafür der perfekte Moment. Auf diese Art ist jede neue Begegnung eine Möglichkeit, uns als menschliche Wesen weiterzuentwickeln.

Das zweite Element beruht auf der Begegnung mit der Arbeit von John Cage, die ich kennenlernte, als ich in den 80er-Jahren in den Westen kam. Cage spricht viel über Vertrauen und Zufall. Durch die Grundlagen, die ich geschaffen habe, bringt der Zufall in meiner Kunst unvorhersehbare Elemente hinzu. Und natürlich steht dahinter die Hoffnung auf eine bestimmte Wirkung, es ist kein reiner Zufall.

e: Und dies ermöglicht eine Kreativität oder etwas Neues, auf das man vorher nicht kommen kann.

LM: Ja. Ich persönlich halte mich nicht für einen besonders kreativen Menschen. Wenn ich mich dem Zufall öffne und die Menschen bitte, ihre persönlichen Dinge und Geschichten mitzubringen und mir zu vertrauen, wird es eine viel reichere Erfahrung. Es ist fast wie ein Tango, ein Tanz von zwei Fremden. Wenn eine Person vorwärts geht, geht die Person ihr gegenüber rückwärts, um den Raum frei zu geben und andersherum. Diese Bewegung ist schön, dabei wissen wir nicht, wie die nächsten Schritte sein werden.

e: Und der Tanz in jeder Arbeit hat eine eigene Qualität, einen unterschiedlichen Inhalt oder besonderen Raum für die Erfahrung, die Sie schaffen wollen.

LM: Jedes Projekt hat seine einzigartige Essenz und die darunter liegende Energie, die sie alle wie eine Halskette zusammenbringt, ist die Idee von Großzügigkeit und Freundlichkeit. Auf diese Weise kann man die Projekte als kleine Teile eines Smaragds sehen. Sie sind ähnlich in dem Sinne, dass wir alle Menschen sind, wir alle sind verletzlich, und trotzdem sind wir stark genug, Freundlichkeit mit Fremden zu teilen.

Foto: Luca Girardini

Wie ein Spiegel

e: Es scheint, dass bei solchem Teilen von Freundlichkeit auch Raum für Versöhnung und Heilung ist, für eine andere Art, miteinander zu sein. In Ihrem Werk »Guernica in Sand« zum Beispiel haben Sie das berühmte Bild von Picasso aus Sand auf dem Boden nachempfunden und dann den Sand in einer Performance weggefegt.

LM: Ich kenne viele Leute einschließlich meiner Eltern, die in meiner Arbeit eine heilende Eigenschaft sehen, aber ich möchte meine Arbeit nicht so verstanden wissen. Denn wenn ich denke, dass ich der Schöpfer dieser Arbeit bin, die dich heilen wird, nehme ich an, dass du nicht heil bist. Das ist definitiv nicht die Position, in die ich Sie oder meine Besucher bringen will. Wenn Menschen »Guernica in Sand« und die dazugehörende Performance erleben, ist es möglich, dass jemand von einem starken Gefühl überwältigt wird. Möglicherweise bringt das Stück ein Trauma hervor oder er oder sie war einfach bewegt von der puren Körperlichkeit und Transformation dieser Arbeit. Meine Arbeiten sind Spiegel, die das Innere des Menschen reflektieren. Niemand sieht das Gleiche und ob Heilung passiert oder nicht, hängt von der Person ab.

MEINE ARBEITEN SIND SPIEGEL, DIE DAS INNERE DES MENSCHEN REFLEKTIEREN.

e: In einigen Arbeiten wie im »The Mending Project« haben Sie den Prozess des Reparierens auch sehr konkret gemacht, indem Sie zusammen mit den Besuchern beschädigte Kleidungsstücke repariert haben. Fasziniert Sie in diesem Prozess das Reparieren von etwas Kaputtem?

LM: Der Ursprung dieses Projekts liegt in dem sehr traumatischen Ereignis des 11. September 2001 in New York, als die Flugzeuge ins World Trade Center stürzten. Mein Partner war zu der Zeit in den Türmen und für einige Stunden wusste ich nicht, ob er noch lebt. Ich ging nach Hause und nahm alle Socken und Hemden, die genäht und repariert werden mussten, wofür wir aber nie Zeit gefunden hatten. Nach sechs Stunden hörte ich das Türschloss, er öffnete die Tür und stand vor mir mit Blut und Asche bedeckt mit sechs Fremden hinter sich, die auch in Staub gehüllt waren.

Nach neun Jahren schuf ich »The Mending Project« aus dieser Erfahrung heraus. Aber meine Kunstwerke sind kein Platz, um meine traumatische Geschichte zu teilen. Ich möchte nicht, dass die gegenwärtigen Erfahrungen der Menschen von so einem fürchterlichen Ereignis beeinflusst werden. Oft kommen Leute vorbei und sagen: »Oh, Sie reparieren etwas umsonst für uns. Können Sie etwas Schönes hinzufügen?« Und ich antworte: »Wir machen das zusammen«, was eine sehr schöne Erfahrung ist. Dann fragen manche Leute genau wie Sie, woher dieses Projekt stammt. Dann fühle ich, dass es der richtige Moment ist, die Geschichte zu teilen – als einen Erfahrungsbericht. Viele Menschen denken, diese Arbeit handelt von der Ausbeutung asiatischer Textilarbeiter in Bangladesch oder Pakistan. Als ich auf der Venice Biennale gleichzeitig zwei Projekte gestaltete und ein englischer Freund von mir sich um das Nähen mit den Besuchern kümmerte, kam diese Assoziation nicht auf. Meine Arbeit ist also wie ein Spiegel und damit sehr flexibel.

e: In einer sehr mutigen Arbeit namens »The Sleeping Project« verbringen Sie eine Nacht mit einem Fremden im Museum. Hier scheint ein sehr intimer Raum der Begegnung der Hauptprozess der Arbeit zu sein. Was inspiriert Sie, diese Art von intimen Räumen mit oder unter Fremden zu kreieren?

MANCHMAL NUTZEN WIR UNSERE KULTUR ALS SCHUTZ, UM UNSERE IGNORANZ UND UNSERE SELBSTSUCHT ZU ENTSCHULDIGEN.

LM: Der Ursprung dieses Werkes kommt von einem Zusammentreffen in meiner Jugend, als ich den Nachtzug nach Prag nahm. Ich teilte das Abteil mit einem älteren Herrn, der ein Konzentrationslager überlebt und seine ganze Familie dort verloren hatte. Wir sprachen die ganze Nacht über seine Lebenserfahrung. »The Sleeping Project« würdigt solche zufälligen Treffen, die plötzlich eine völlig neue Beziehung entstehen lassen. Die Herausforderung in dieser Arbeit besteht da­rin, in der Dunkelheit der Nacht eine Situation von Intimität und Vertrauen zwischen zwei Fremden zu schaffen, ohne Sexualität oder sexuelle Spannung. Wir teilen sehr persönliche Geschichten miteinander und haben immer noch die Großzügigkeit und die Freundlichkeit am nächsten Morgen zueinander zu sagen: »Guten Morgen, wie geht es dir, wie hast du geschlafen?«

Geben und Nehmen

e: In einigen Ihrer Arbeiten nimmt dieses Zusammentreffen die Form von Geben und Nehmen eines Geschenks an, wie in »Sonic Blossom«, wo jemand ein Lied gibt oder wie in the »Nu Wa Project«, wo jemand aufgefordert wird, etwas gehen zu lassen, es wegzugeben. Was interessiert Sie in diesen Prozessen des Schenkens oder in dieser Art von Austausch?

LM: In Taiwan ist ein Geschenk ein kraftvolles Element für die Zusammengehörigkeit der Gesellschaft. In meiner Arbeit fühle ich, dass wir alle Gebende und Empfangende von Geschenken sind und das passiert häufig gleichzeitig. In »Sonic Blossom« zum Beispiel, wo die Sängerin der Zuhörerin ein Geschenk gibt, indem sie ein Schubert-Lied singt, brechen die Empfänger häufig nach den ersten zwei Sätzen in Tränen aus. Dann sind die Sänger oft nicht in der Lage, weiterzusingen, weil sie emotional so berührt sind, denn sie sehen, wie ihr Geschenk ihnen zurückgegeben wurde. Es ereignet sich ein extrem kraftvoller und zärtlicher Austausch von Geschenken zwischen diesen zwei Menschen. In gewisser Weise gibt es in »Sonic Blossom« keine Machtstruktur, weil beide gleichzeitig Gebende und Nehmende sind.

e: In manchen Kunstwerken werden die Käufer gebeten, einen Teil des Werks zu verschenken oder wegzugeben. Warum beziehen Sie diesen Prozess in einigen Arbeiten mit ein?

LM: Ja, in einem Projekt, genannt »Stone Journey«, habe ich bronzene Reproduktionen originaler Steine angefertigt und das Original und die Reproduktion bilden dann die Arbeit. Dazu gehört die Bemerkung, dass ich die Person, die ein Paar erwirbt, bitte, einen Stein wegzuwerfen, entweder den künstlichen oder das Original, egal wann und wo. Das ist eine Art Hausaufgabe, aber es liegt nicht bei mir zu sagen, wann und wo derjenige den Stein wegwerfen soll. Er oder sie wird wissen, wann der richtige Moment gekommen ist. Solange sie noch nicht einen von beiden weggeworfen haben, ist die Arbeit physisch noch nicht ausgeführt. Sie müssen sich noch entscheiden. Dieser Prozess des Entscheidens ähnelt der zen-buddhistischen Praxis des Koan, wo der Meister dem Schüler eine Frage stellt und der Schüler am nächsten Tag mit der Antwort zurückkommt. Ohne dass der Meister die richtige Antwort kennt, wird er intuitiv wissen, welches die richtige Antwort ist. Das ist ziemlich bizarr, denn wenn du die richtige Antwort nicht kennst, woher kannst du wissen, ob die Antwort falsch oder richtig ist? Intuitiv und instinktiv weiß der Meister, ob es die richtige Antwort ist.

e: Denken Sie, wir sollten diese Rituale des Gebens und Nehmens wieder stärken?

LM: In älteren Gesellschaften wie den europäischen und asiatischen Gesellschaften gibt es überall diese Rituale des Schlafens, Essens, Schenkens, Singens und Tanzens. Aber diese Rituale werden nicht in Schulen oder Institutionen gelehrt, wir lernen sie durch unsere Familien und durch tägliche Praxis. Wir alle können großzügig sein und ein einfaches Mahl für einen Freund zubereiten oder eine Tasse Tee oder Kaffee. Wir haben sie nicht vergessen, es ist nur manchmal so, dass wir denken, alles sei so oberflächlich und drehe sich nur noch um Computer. Aber Rituale gibt es überall, wenn du genau hinschaust. Hoffentlich kann meine Arbeit zeigen: »Keine Angst, sie existieren, du musst nur ein wenig aufmerksamer sein und du wirst sie überall finden.«

Allgegenwärtige Rituale

e: Mit Ihrer Arbeit bringen Sie auch östliches Denken in die Kunst. Wie erfahren Sie diesen Dialog in Ihren Projekten?

LM: Die Erfahrung von Kultur und Geschichte ist in Europa und Asien ziemlich ähnlich in dem Sinne, dass wir für Tausende von Jahren eine sehr komplexe und schöne Geschichte hatten. In Amerika ist die Geschichte relativ jung, abgesehen von der Geschichte der indigenen Völker. Deshalb denke ich, dass der Unterschied zwischen Ost und West nicht wirklich groß ist. Es ist ein ziemlich einfaches Konstrukt, das den Leuten erlaubt, ihr unglückliches Missverständnis und Vorurteil füreinander zu begründen, ohne zu bemerken, dass wir bestimmte Dinge tun, weil wir als Menschen selbstsüchtig sind.

Ich hoffe, das Verstehen meiner Arbeit kommt eher aus der emotionalen Wahrnehmung als aus der intellektuellen.

Als ich in den Westen kam und John Cage, Joseph Beuys, Marina Abramović entdeckte, spürte ich eine sofortige Verbundenheit und Sympathie mit ihrer Arbeit. Aber obwohl sie kraftvoll und inspirierend sind, empfand ich etwas sehr Kaltes und Scharfes, einen etwas bitteren Geschmack. Ich wollte das Bittere wegnehmen, indem ich meine eigene Tradition hinzufügte, zen-buddhistische Praxis, Konfuzianismus, Taoismus oder sogar Shintoismus. Damit kann ich mehr Elemente der Natur hinzufügen und eine »abgerundete« Emotion, die freundlicher und weniger kritisch und scharf ist. Ich hoffe, das Verstehen meiner Arbeit kommt eher aus der emotionalen Wahrnehmung als aus der intellektuellen.

Gefahr und Gelegenheit

e: In der Ausstellung in Berlin waren viele Ihrer Projekte wegen der Corona-Regulierungen nur begrenzt möglich. Wie war es für Sie, eine Ausstellung in Zeiten von Corona und den damit verbundenen Herausforderungen zu gestalten?

LM: Im traditionellen Taiwan ist das Wort für Krise (危機) aus zwei Buchstaben zusammengesetzt: Wei und Ji. Wei bedeutet Gefahr und Ji bedeutet Gelegenheit. Die Corona-Krise ist für mich eine schöne Erfahrung trotz des sehr schweren herzzerreißenden Leidens. Diese Zeit erlaubt es mir, mit meinem gewöhnlichen Komfort zu brechen und ein Innehalten in meinem Leben zu kreieren, sodass ich in der Lage bin, meine eigene Praxis anzuschauen und wie sie mit dem, was gerade geschieht, in Verbindung stehen.

Daraus habe ich das Online-Projekt »Having Tea with Lee Mingwei« kreiert, bei dem ich mit Menschen, die bei einer Lotterie ausgelost wurden, auf Zoom zusammentraf. Zuvor sandte ich ihnen ein Kuchenrezept mit der Bitte, möglichst diesen Kuchen zuzubereiten. So führten wir eine sehr intime Unterhaltung bei Tee und Kuchen. Auf diese Weise ist es eine schöne Erfahrung, jedoch auch eine sehr schmerzvolle, weil ich meine Schwiegermutter und einige nahe Freunde in dieser Pandemie verlor.

Als die Ausstellung in Berlin am 11. Mai nach dem Lockdown öffnete, haben die Menschen viel mehr Zeit in der Ausstellung verbracht als normalerweise. Und die Besucher erzählten den Ordnern, dass sie es als eine Art Höhepunkt empfanden, all diese intimen Projekte zu einer Zeit zu sehen, in der wir aufgefordert wurden, uns physisch voneinander zu distanzieren. Die Ausstellung kam zu einer schlechten, aber perfekten Zeit.

Author:
Mike Kauschke
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