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Wie mutige Menschen Gesellschaften in der Tiefe heilen
Die Welt erlebt heute eine neue Form von Kriegen. Sie brechen nur noch selten zwischen Staaten, sondern meist im Herzen von Gesellschaften aus. Auf dem Weg zurück zum Frieden kommt Aktivisten aus der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle zu. Mit Mut, Kreativität und sozialen Erfindungen versuchen sie, kollektive Wunden von innen zu heilen.
Beim Friedensgipfel fließen Tränen. Unter Schluchzen sagt Fatuma Adan aus Kenia, eine couragierte Anwältin, die sonst nicht davor zurückschreckt, mit bewaffneten Milizionären zu verhandeln: »Ich fühle mich, als sei ich in der Mitte durchgebrochen.« Ihr Sitznachbar, früher ein hoher Geheimdienstmann in seinem Land, verbirgt sein Gesicht in einem riesigen Taschentuch; er ringt merklich um Fassung. Eine arabische Friedensaktivistin sagt: »Jetzt ist er wieder da, dieser Schmerz, den ich nie wieder fühlen wollte.« Eine Frau steht auf, stellt sich hinter sie, legt die Hände auf ihre Schultern; nun klingt ihr Weinen wie eine Erlösung.
In dieser Runde von 30 FriedensstifterInnen aus der ganzen Welt können sie sich auch mit ihrer schwachen, verletzten Seite zeigen. Sie wissen: Auch die anderen kennen Gewalt aus nächster Nähe, erleben Einschüchterung bis hin zu Morddrohungen, haben selbst Traumata erlitten. Seelische Wunden. In ihren Heimatländern – ob in Afghanistan oder Somalia, Kolumbien oder Indonesien, auf dem Balkan oder den Philippinen – stehen sie ständig unter Beobachtung. Als Oppositionelle müssen sie sich gleichermaßen gegen korrupte Regierungen und erpresserische Rebellen durchsetzen. Die Mitarbeiter ihrer Organisationen erwarten von ihnen als AnführerInnen, dass sie stark und stabil sind. Nicht wenige von ihnen müssen auch in ihren Familien die Rolle des Starken einnehmen – und erklären, warum sie etwa eine lukrative Karriere als Anwalt zugunsten schlecht bezahlter Arbeit als MenschenrechtlerInnen aufgeben.
Doch hier können sie sich fallen lassen. Der erste Global Peacebuilder Summit, ein Friedensgipfel für die Zivilgesellschaft, findet in einem friedlichen Örtchen an der Havel statt, westlich von Berlin, umgeben von Pferdekoppeln, Storchennestern und Fischernetzen. Statt mit offiziellen Empfängen oder Pressekonferenzen beginnt der Gipfel mit einem Retreat in der ländlichen Stille. Ein Schutzraum, der das Vertrauen untereinander fördert. Viel Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen. Nicht nötig, jemandem etwas vorzuspielen. Es geht darum, einander zu stärken und zu unterstützen. Emotional, praktisch, politisch.
Von innen her heilen
Sie sind angetreten, ihre von Bürgerkriegen und Gewalt-Eskalationen verwundeten Gesellschaften von innen her zu heilen. Jede von ihnen verfügt über eigene Methoden und Strategien, die sich als wirksam erwiesen haben. Und jeder kann von den Erfahrungen der anderen profitieren. Wie bringt man bewaffnete Gruppen an den Verhandlungstisch? Wie organisiert man eine Wahrheits- und Versöhnungskommission so, dass sie nicht neue Konflikte erzeugt? Wie verhindert man, dass junge Erwachsene in extremistische Gruppierungen abdriften? Was wirkt am besten, damit kriegstraumatisierte Kinder wieder Vertrauen ins Leben fassen?
Während das Kriegshandwerk eigentlich eine primitive Angelegenheit ist (schon ein paar Messerstiche können einen ethnischen Konflikt neu entfachen), braucht Friedensarbeit Kreativität, Verhandlungsgeschick und Einfühlungsvermögen. Sie erfordert Intelligenz. Beim Gipfel im brandenburgischen Paretz zeigt sich: Neben dem emotionalen Halt durch die Gruppe Gleichgesinnter ist es die gegenseitige kollegiale Beratung, die den Friedensmachern am meisten nutzt.
Die Gewaltkonflikte, von denen wir allabendlich in den Nachrichten erfahren, wirken auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. Es entsteht der Eindruck, in Israel gehe es um ganz andere Probleme als in Syrien, in Kolumbien um anderes als in Indonesien. In Wirklichkeit gibt es eine Ursache, die allen Kriegen gemeinsam ist. Sie lautet in einem Wort: Ausschluss. Wenn eine religiöse oder ethnische Gruppe von Teilhabe und Ressourcen ausgeschlossen wird oder sich ganze Regionen abgehängt fühlen, ohne Chance, Teilhabe auf politischem Weg zu erreichen, dann ist die Saat für einen bewaffneten Kampf gesät. Exklusion wird als schmerzhaft erlebt. Kollektiv, aber auch individuell. In seinem Buch »Schmerzgrenze« beschreibt der Neurowissenschaftler JoachimBauer, wie Menschen mit Aggression auf Ausschluss reagieren. Denn dazuzugehören ist ein wesentlicher Wunsch von uns allen. Als soziale Wesen sind wir auf Kontakt angewiesen. Werden Zugang, Respekt und Wertschätzung verwehrt, so Bauer, reagiere das Gehirn genauso, als werde einem körperlicher Schmerz zugefügt – meist mit Aggression.
Der äußere Frieden folgt dem inneren.
Ähnlich auf gesellschaftlicher Ebene. Im jahrzehntelangen, blutigen Bürgerkrieg in Nordirland ging es zwischen Katholiken und Protestanten nicht etwa um Bibelfragen. Sondern katholische Bevölkerungsgruppen sahen sich benachteiligt und ausgegrenzt von der protestantischen Mehrheit – und nicht in der Lage, auf demokratischem Weg etwas daran zu ändern. In manchen Ländern sind es ethnische Minderheiten, die unterdrückt werden, im Südafrika der Apartheid war es sogar die schwarze Mehrheit der Bevölkerung. Die Genfer Konfliktforscherin Thania Paffenholz zieht als Ergebnis langjähriger Analysen das Fazit, Krieg zeige sich »überall ein wenig anders, aber es geht in allen Fällen um Ausgrenzung«.
Wenn Exklusion das Hauptproblem ist, muss Inklusion die wichtigste Heilkraft sein. Tatsächlich besteht der wichtigste Beitrag von Friedensstiftern darin, Brücken zwischen den Konfliktparteien zu bauen.
Ein paar Beispiele aus den Reihen der »Global Peacebuilders«, die sich in diesem September zu ihrem zweiten Gipfel trafen, zeigen, wie in Post-Konflikt-Gesellschaften alte Verbindungen erneuert werden können und neue Verbundenheit gefördert werden kann.
Dialog der Perspektiven
Dishani Jayaweera aus Sri Lanka hat die Gabe, Muslime, Tamilen und Singhalesen in Dialog zu bringen. Drei ethnische Gruppen, die im Bürgerkrieg, der erst 2008 zu Ende ging, erbittert gegeneinander gekämpft haben. Tiefe, wenn auch nicht gleich sichtbare Gräben trennen sie voneinander, immer noch. Dishani und ihr Team geschulter Aktivisten konzentrieren sich derzeit auf den Nachwuchs: junge Menschen, die in ihrer jeweiligen Gemeinschaft bereits Führungsaufgaben wahrnehmen. Ihre Idee: Sie nutzt Fotografie als Medium. Junge Sri Lanker bekommen Kameras und dokumentieren damit ihren Alltag. Der sieht in einem Stadtviertel der buddhistisch dominierten Hauptstadt Colombo völlig anders aus als im tamilischen Norden, der im Bürgerkrieg stark zerstört worden ist. In Workshops zeigen sich die Jugendlichen gegenseitig ihre Bilder. Ein Dialog beginnt. Unterschiedliche Perspektiven werden sichtbar: auf den Konflikt, auf Täter-Opfer-Beziehungen, auf die Zukunft des Landes. Gute Moderation sorgt dafür, dass die Sichtweisen der anderen akzeptiert und wertgeschätzt werden. So können Verständnis und Toleranz wachsen.
In Pakistan kümmert sich die Organisation von Mossarat Qadeem um junge Männer, die in Gefahr stehen, in bewaffnete islamistische Gruppen abzudriften. Ihr wirkungsvollstes Werkzeug sind gute Kontakte. Sie hält ständig die Verbindung zu Imamen, Lehrern, Ortsvorstehern. Die langjährige Pflege dieser Beziehungen schafft Vertrauen. Deshalb bekommt sie wertvolle Hinweise auf Jugendliche, die sich plötzlich abkapseln und extreme religiöse Ansichten vertreten.
Dann wird Mossarats Organisation aktiv, betreut die betroffenen Familien, kümmert sich um die Gefährdeten, vermittelt ihnen einen Job. Sie konnte in vielen Fällen nachweislich verhindern, dass sich jemand den Dschihadisten anschloss.
Der Menschenrechtsanwalt BablooLoitonbam tritt im Nordosten Indiens gegen einen schier übermächtigen Staatsapparat an. Die Region, bestehend aus acht Bundesstaaten mit insgesamt 45 Millionen Einwohnern, lebt in einer Art Ausnahmezustand. Weil verschiedene Rebellengruppen für Unabhängigkeit und Minderheitenrechte kämpfen, wurde der Armee mit einem drakonischen Sondergesetz fast unbeschränkte Macht übertragen. Menschen können auf den bloßen Verdacht terroristischer Aktivität hin getötet werden, die Täter genießen Immunität und werden mit Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet. Doch Babloo konnte in über 1.500 Fällen Beweise vorlegen, dass Unschuldige ermordet wurden. Manchmal einfach nur, weil sie Geld dabei hatten und von Soldaten beraubt wurden. Babloos Hebel, um mehr Humanität zu erreichen, ist die internationale Öffentlichkeit. Indem er immer wieder über die unmenschlichen Praktiken informiert, erreichte er, dass die Zahl dieser »außergerichtlichen Tötungen«, so der Juristenjargon, in den vergangenen Jahren stark zurückging. Das Gesetz besteht jedoch weiter, und immer noch wird staatlich sanktioniert gemordet.
Babloo bekommt Todesdrohungen. Mal per SMS, mal droht ein anonymer Anrufer, die ganze Familie des Aktivisten auszulöschen. Vermutet werden dahinter nicht nur Armeeangehörige, sondern auch Mitglieder von Rebellengruppen. Er stört durch seine humanitäre Arbeit die Kreise von allen, die mit Waffengewalt regieren wollen. Was bringt ihn dazu, angesichts dieser Gefahren, bescheidener Erfolge und vieler Rückschläge, unbeirrt weiterzumachen, seit mehr als 20 Jahren schon? Was sind die Kraftquellen auch der anderen Friedensstifter, denen es ähnlich geht wie ihm? Wie überwinden sie den Frust über finanzielle Schwierigkeiten? Wohin gehen sie mit ihrer Angst und ihrem Schmerz?
Unzerstörbarer Optimismus
Es fällt auf, dass die meisten von ihnen in einer Weltsicht ruhen, die davon ausgeht, dass Menschen ihrem Wesen nach gut sind. Grundgut. Daher der Optimismus, den sie ausstrahlen. Sie sind in der Lage, hinter der Fassade eines gewalttätigen Söldners einen Menschen zu entdecken, der unbewusst handelt und vom Fühlen abgeschnitten ist – und deshalb Böses tut. Sie sehen ihre Aufgabe darin, Menschen wieder den Zugang zu ihrem Herzen zu öffnen, ihnen die Folgen von Gewalt bewusst zu machen und ihnen zu zeigen, wie Konflikte friedlich gelöst werden können. Viele der Friedensstifter haben selbst Gewalt erfahren – passiv, aber auch aktiv.
Zum Beispiel James Wuye und Muhammad Ashafa. Die beiden waren einst Erzfeinde. In ihrer Heimatstadt Kaduna, gelegen im »Middle Belt« von Nigeria, wo der christlich dominierte Süden auf den muslimischen Norden trifft, führten sie als junge Männer bewaffnete Milizen an. Wuye auf christlicher, Ashafa auf muslimischer Seite. Was sie sich gegenseitig angetan haben, könnte schmerzhafter nicht sein. Ashafa befahl eine Attacke, bei der James‘ bester Freund, gleichzeitig sein Leibwächter, getötet und ihm selbst der rechte Unterarm abgehackt wurde; er behilft sich heute mit einer Prothese. James wiederum ließ zwei Cousins von Ashafa töten; dessen spirituellen Lehrer, einen alten Sufi-Weisen, zerrten sie aus dem Haus, warfen ihn in einen Brunnen und steinigten ihn zu Tode. Die beiden Ex-Milizionäre hatten also genügend Gründe, einander zu hassen. Das taten sie auch. Jahrelang.
Während das Kriegshandwerk eigentlich eine primitive Angelegenheit ist, braucht Friedensarbeit Kreativität, Verhandlungsgeschick und Einfühlungsvermögen.
Doch dann geschah etwas, das wie ein kleines Wunder wirkt. Über einen Journalisten, dem sie beide vertrauten, wurde der Kontakt hergestellt. Es gab erste Treffen, voller Misstrauen gegeneinander, unter dem nigerianischen Langgewand schwer bewaffnet – für den Fall des Falles. Doch die Gespräche verliefen friedlich. Gleichzeitig vertrauten sie sich Menschen an, die für sie religiöse Autoritäten darstellten. Ein Imam redete Ashafa ins Gewissen: Frieden sei die Kernbotschaft des Koran.
Und ein Bischof, den James verehrte, sagte ihm eindringlich: »Du wirst nur frei sein, wenn du deinen Hass aufgibst.« Ein innerer Prozess begann, mit Rückschlägen von Wut und Feindseligkeit, in dem sich aber langsam zeigt, welche transformierende Kraft Vergebung hat. Heute reisen die beiden gemeinsam, vermitteln gemeinsam in Konflikten zwischen Christen und Muslimen, nicht nur in Nigeria, sondern auch in Nachbarländern und seit neuestem sogar in der Migranten-Community in Hamburg.
Die Autorität, mit der sie heute zu Menschen sprechen und die der Schlüssel zu ihren politischen Erfolgen ist, speist sich aus der Wandlung, die sich in ihrem Inneren vollzogen hat. Der äußere Frieden folgt dem inneren. Von ähnlichen transformierenden Lebensreisen berichten viele der heute besonders wirksamen Friedensstifter. Und viele betonen, dass es vor allem ihre spirituellen Wurzeln sind, die ihnen beim gesellschaftlichen Engagement Halt geben. Für Dishani aus Sri Lanka liegen sie im Buddhismus, für Babloo aus Nordostindien in der morgendlichen Meditation, die für ihn »ein wichtiger Moment von Seelenfrieden in turbulenten Zeiten ist«. Ein weiteres, berühmtes Beispiel: Nelson Mandela konnte sein Land unblutig aus der Apartheid führen, weil er denjenigen, die ihn jahrelang gefangen gehalten hatten, vergab; auch er tief verbunden mit einem höheren Selbst. Vergebung ist nicht nur ein zwischenmenschlicher Akt: Auch in der Sphäre der Politik kann sie ungeheure Macht entfalten.
Die Orientierung an einem »Wir«, das die Interessen des »Ich« übersteigt, scheint eine wichtige Kraftquelle für Menschen zu sein, die sich mutig gegen Gewalt in jeder Form einsetzen. Beim Friedensgipfel in Deutschland zeigte sich, wie heilend und stärkend dieses Wir sein kann. Beispielsweise für FatumaAdan, die Aktivistin, die zu Beginn so offenherzig von ihrer desolaten seelischen Verfassung berichtete. Fatuma, Anwältin und Menschenrechtsaktivistin, arbeitet im unruhigen Norden Kenias. Sie nutzt die Fußballbegeisterung der Kenianer, um Jugendliche verfeindeter Stämme bei Turnieren zusammenzubringen, nach ihrem Motto: »Schweiß vergießen, aber kein Blut.« Es ist diese quirlige, willensstarke Frau, die gegen alle gesellschaftlichen Tabus selbst Fußball spielt, die bei der Schlusszeremonie des Gipfels im Weltsaal des Auswärtigen Amtes sagt: »Als ich hierherkam, fühlte ich mich wie ein Wrack. Nun gehe ich fort von hier, als wäre ich repariert worden, mit neuer Kraft.«
Author:
Michael Gleich
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