Führen aus dem Feld

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

October 29, 2014

Featuring:
Peter Merry
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 04 / 2014:
|
October 2014
Führung neu denken
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Intelligenz und Intuition

Peter Merry hat nicht nur über Leadership-Theorien geschrieben, sondern sich auch damit beschäftigt, wie höhere Wertesysteme und Ebenen des menschlichen Bewusstseins von Führenden genutzt werden können, um mit komplexen Problemen zu arbeiten. Seit kurzem spricht er über eine Art der Führung, die er als das „Führen aus dem Feld“ bezeichnet.

evolve: Können Sie uns etwas darüber sagen, wie sich ihre Sicht auf Leadership entwickelt hat?

Peter Merry: In den späten 1990er Jahren habe ich mich intensiv mit Nachhaltigkeit beschäftigt. Dann entdeckte ich die integrale Perspektive, wie sie von Ken Wilber formuliert wird, und versuchte, dieses Modell im bestehenden System anzuwenden – in der Wirtschaft, in Regierungsbehörden und kommunalen Organisationen. Der Wert des integralen Systems besteht darin, dass es versucht, mehr zu umfassen und unterschiedliche Elemente zu differenzieren, indem sie als eine natürliche Hierarchie betrachtet werden im Gegensatz zu einer künstlichen Unterdrücker-Hierarchie, die sagt, das eines besser als das andere wäre. Die integrale Perspektive hilft uns zu verstehen, wie die Dinge als Antwort auf verschiedene Lebensbedingungen wachsen und miteinander in Beziehung stehen. Dies ist ein wichtiger Schritt der Evolution, weil er die Anhaftung an eine bestimmte Perspektive löst und uns hilft, alles als Teil einer lebendigen Ökologie in einer natürlichen Beziehung miteinander zu sehen. Aber der Weg, den die Evolution des Lebens zu gehen scheint, zeigt sich darin, dass jedes System seine eigenen Grenzen und Beschränkungen hat, wie wir es auch bei der integralen Stufe merken.

Grenzen des Integralen

e. Wir haben Sie die Grenzen einer integralen Perspektive in Ihrer Arbeit wahrgenommen?

PM: In den Niederlanden gab es Mitte der 2000er Jahre die Morde an dem Politiker Pim Fortuyn und dem Journalisten Theo van Gogh. Diese beiden Ereignisse ließen einen Riss durch die scheinbar stabile postmoderne, liberale, tolerante Gesellschaft gehen, als die sich die Niederlande gern sah. Es folgte eine große Debatte über Toleranz: Sollten wir tatsächlich Intoleranz tolerieren? Wie reagieren wir auf Extremisten? Inspiriert von Don Beck, dem Mitbegründer des kulturellen Entwicklungsmodells Spiral Dynamics, gründeten wir das Center for Human Emergence in den Niederlanden, in dem Wissen, dass in der Gesellschaft ein Wandel stattfand. Die Idee dabei war, integrales evolutionäres Denken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten anzuwenden und einen Raum für Menschen zu bieten, die begannen diese integrale Perspektive zu entdecken. Dies tun wir seit nunmehr acht Jahren, und was sich daraus entwickelte, war der Meshworking-Ansatz. Dabei werden komplexe gesellschaftliche Probleme dadurch angegangen, dass man eine Reihe verschiedener Beteiligter miteinander verbindet, um das Problem zu lösen.

Die integrale Perspektive und hat oft eine technische Qualität.


In unserem Kernteam hatten wir jedoch mehr und mehr den Eindruck, dass wir die Grenzen der integralen Perspektive erreicht hatten. Wir arbeiteten z. B. mit 20 verschiedenen Organisationen, die sich um die Gesundheit von Müttern und Neugeborenen kümmerten. Aber es ist unglaublich schwer, nicht nur 20 einzelne Menschen, sondern 20 Organisationen zur Zusammenarbeit zu motivieren. In der Erfahrung mit dem Versuch, dies in einer technischen Weise zu tun, erkannten wir etwas: Die integrale Perspektive legt einen großen Schwerpunkt auf das Kognitive und hat oft eine technische Qualität, eine Art „Ingenieursbewusstsein“. In dem Versuch, die ganze Komplexität des integralen Wertesystems auf komplexe Systeme anzuwenden, haben wir unser System überladen. Kognitiv kann man diese Komplexität nicht erfassen.
Zudem ist die integrale Perspektive gerade erst dabei, die emotionale und persönliche Seite zu integrieren, die in der postmodernen Phase nach den 1960er Jahren entstand. Das Problem hierbei ist, dass das postmoderne Bewusstsein uns eine Sensibilität gibt, die es uns ermöglicht, Zugang zu Energiefeldern zu finden. Das ist essenziell für den Schritt über das Integrale hinaus – was Don Beck als die „türkise“ Ebene bezeichnete, die man auch „holistisch“ nennen kann.

e: Wie haben Sie sich dieser holistischen Perspektive genähert?

PM: In gewisser Weise hatten wir beim integralen Ansatz den Eindruck, dass wir versuchten die Komplexität der Probleme mit der Komplexität des Modells zu verbinden. Diese Erkenntnis führte mich und das ganze Team in eine Suche, denn wenn dies die Grenzen des Integralen sind, dann stellt sich die Frage: Was kommt als Nächstes? Ich las noch einmal in Don Becks Buch „Spiral Dynamics“ über die holistische Ebene. Das Wort „Einfachheit“ fand Resonanz in mir. Darin las ich auch, dass man nicht alles kognitiv erfassen kann, was unserem Eindruck am Center for Human Emergence in den Niederlanden entsprach.
Auf dem Weg vom integralen zum holistischen Wertesystem muss sehr viel Loslassen geschehen. Ein Teil des holistischen Paradigmas ist die Erkenntnis, dass es sehr viel gibt, was wir als Menschen nicht kontrollieren können. Ein Schatten oder eine Falle im Integralen ist der Glaube, dass wir es nun alles wissen: Wir konnten alles integrieren und können nun alles selbst lösen. Darin steckt eine menschenzentrierte Sichtweise, die das Ganze des Lebens ignoriert. Wir müssen nicht alles selbst lösen, das ist gar nicht möglich. Denn wir sind Teil einer größeren Wirklichkeit.

Alles ist Energie

e: Wie kann man dieses Verstehen im Kontext von Leadership anwenden?

PM: Im Grunde geht es hierbei um ein Wertesystem oder eine Weltsicht, die man dann auf alles anwenden kann. Aus dieser holistischen Perspektive beginnen wir zu erkennen, dass diese komplexen Probleme nicht in der gleichen Weise „gelöst“ werden müssen, wie wir bisher gedacht haben. Das Ganze ist ein dynamisch ineinander verschränktes System von Energien, die in ständiger Bewegung, einem ständigen Flow sind. Und das Ganze organisiert sich selbst in diesem Prozess. Als Leader versuche ich drei verschiedene Ebenen von Struktur zu verstehen: Die materielle Struktur, was im Grunde alles ist, was wir sehen können. Dann gibt es die Beziehungsstruktur, also das Feld der Beziehungen in einer Organisation oder einer Gemeinschaft. Die dritte Ebene, die energetische Struktur, ist subtiler als die Beziehungsstruktur und basiert auf dem Verständnis, dass alles, was einen Namen und eine Grenze, auch ein Energiefeld hat und damit ein Feld von Potenzial. Eine weitere Grundannahme, die aus dieser Perspektive folgt, sagt aus, dass alles Energie ist – selbst das, was wie feste Materie aussieht, ist in Wirklichkeit Energie. In dem Moment, wo wir das verstehen, beginnen wir zu sehen, dass alles, was im subtilen Feld enthalten ist, in die sichtbare materielle oder manifeste Realität übergeht. Dadurch wird das subtile Energiefeld sehr wichtig. Statt also verschiedene Teile oder Beteiligte technisch zu irgendeiner Zusammenarbeit zu bewegen, versucht man, den Stress und die Blockaden auf energetischer Ebene aus dem System zu nehmen. Dann können die verschiedenen Beteiligten, wie verschiedene Organe eines Körpers, sich selbst organisieren, um mit diesen Herausforderungen umzugehen.

Das postmoderne Bewusstsein gibt uns eine Sensibilität, durch die wir Zugang zu Energiefeldern finden.


Meine Motivation als Führungsperson besteht darin, eine größtmögliche positive Wirkung mit möglichst wenig Anstrengung zu erreichen. Das ist der Antrieb für mich, um mit diesen Energiefeldern zu arbeiten, wenn ich mir den Zustand der Welt heute ansehe und die Dringlichkeit spüre, mit der wir unsere positive Wirkung heute verstärken müssen.
Aber wenn man aus dem Feld führt, müssen wir auch mit der materiellen Struktur und der Beziehungsstruktur arbeiten. Wir müssen die energetische Absicht in der materiellen Realität verankern. Die Führungskraft in einer Organisation muss bestimmte Fähigkeiten entwickeln, um das energetische Feld und das System, das sie oder er führt, zu verstärken und zu klären. Ich habe zwölf Prinzipien entwickelt, die Führende anwenden können, die diese Art der Absicht und Energiearbeit nicht selbst erfahren, die aber bewusst mit der Wirkung umgehen wollen, die sie auf das Feld und das System, das sie leiten, haben können.

Zukunft spüren

e: Was sind diese zwölf Prinzipien?

PM: Als Erstes muss man als Führungskraft überhaupt anerkennen, dass das System, dass man zu führen versucht, eine energetische Dimension hat – eine energetische Struktur, die subtil und nicht sichtbar ist. Diese Energiestruktur hat eine starke Wirkung auf die Beziehungsstruktur und die materielle Struktur des Systems. Und der Leader dieses bestimmten Systems hat auch eine starke Wirkung auf dieses Feld. Das ist der Ausgangspunkt. Die erste der zwölf Prinzipien ist „Grenze“. Was sind die Grenzen der eigenen Führung – eine Abteilung, ein Arbeitsbereich, die Organisation als Ganzes? Wenn man dies geklärt hat, dann richten wir unsere Energie auf diesen Bereich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Während uns die materielle Welt aus uns herauszieht, können wir zum subtilen Feld nur den Zugang  von innen finden, nicht durch den rationalen Verstand, sondern durch das intuitive Wissen. Deshalb ist Stille eine wichtige Qualität, die wir in uns entwickeln müssen, denn wenn wir still sind, können wir den Zugang zu Energiefeldern finden.
Das nächste Prinzip ist „Absicht“: Was sind unsere Ziele? Wohin soll das System gehen? Wir müssen lernen, diese Ziele zu visualisieren, indem wir uns vorstellen, dass der Endzustand, den wir erreichen wollen, schon eingetreten ist. Und anstatt uns Sorgen zu machen, wie wir dorthin kommen, kümmern wir uns mehr darum, wie der Fluss des Lebens in dieser allgemeinen Richtung organisiert werden kann.
Damit steht auch das dritte Prinzip in Verbindung: die „Qualität der Präsenz“. Sobald wir durch unsere Absicht ein Gefühl der Ausrichtung gefunden haben, spüren wir, wie sich durch die Verbindung zum gegenwärtigen Moment die Dinge bewegen. Es ist wichtig, dass wir dabei an keiner Vorstellung davon festhalten, wie sich unsere Absicht manifestiert. Das können wir dem Leben überlassen, Wir spüren, was wir bewegt werden zu tun, wir sehen uns um und spüren in das Feld hinein, um herauszufinden, was als Nächstes geschehen soll. Dabei kommen wir aus einer Haltung der Leichtigkeit, wodurch die Dinge sich bewegen und aus dem Subtilen in das Manifest hinüberfließen.
Das vierte Prinzip ist die „Aufmerksamkeit“. Das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, wächst. Unsere Aufmerksamkeit als Führungsperson leitet die Energie des Systems. Es ist wichtig, unsere Aufmerksamkeit auf alle Teile des Systems zu richten. Aufmerksamkeit ist zwar eine Achtsamkeitspraxis, es ist aber auch wichtig, dass wir uns mit unserem Herzen verbinden, um zu spüren, was im System lebendig ist. Welche Gespräche werden am Kaffeeautomaten geführt? Was lebt im Feld zwischen den Menschen? Können wir es spüren und mit Mitgefühl halten? Es geht darum ein großes Herz zu haben, das die Mühen umfassen kann und auch die Erfolge feiert. Auch durch diese Herzverbindung wird die Energie bewegt.

Das ist die Kunst – im Kontext unserer höheren Absichten den nächsten natürlichen Schritt zu spüren.


Der sechste Aspekt ist das Interesse am „Inhalt“ dessen, woran die Menschen arbeiten. Man muss kein Experte sein, aber man sollte die Grundlagen verstehen. Das ist Teil des Gewahrseins, das wir in das System bringen und erzeugt bei den Menschen auch ein Gefühl von Wertschätzung. Ein weiterer wichtiger Aspekt in Bezug auf den Fluss in Energiefeldern hat mit „Schmerz“ aus der Vergangenheit zu tun. Als Führungsperson schaffen wir eine Intention für die Zukunft, aber wenn es im System Schmerz oder Trauma gibt, dann werden Blockaden entstehen, die ein Vorangehen verhindern. Es ist ein wichtiger Teil der Fähigkeit eines Führenden, dass sie oder er Schmerz nicht unter den Teppich kehrt, sondern sich ihm stellt, ihn hält und in angemessener Weise transformiert.
Wenn wir uns in die Welt der Energien begeben, kommen wir auch mit den „Energien des Ortes“ in Verbindung, was auch in östlichen Systemen wie dem Feng Shui thematisiert wird. Wenn wir nicht genau auf den Ort achten, an den ein Gebäude steht oder eine Initiative gegründet wird, können merkwürdige Energien entstehen. Wenn wir verstehen, dass die Erde ein lebendiges System ist, so wie auch wir lebendige Systeme sind, dann möchten wir unseren Arbeitsplatz mit Respekt behandeln. In Beziehung dazu steht das Verstehen der „Form“. Formen – Geometrie, Worte, Zahlen – enthalten Energien. Bestimmte Formen ziehen mehr Energie an als andere. Wir fühlen uns lebendiger, wenn wir unsere Gebäude und unsere Worte so gestalten, dass sie die Lebenskraft anziehen, statt sie zu schwächen. Auch der „Zeitpunkt“ ist wichtig. Alles hat seine natürlichen Zeitrahmen. Wir müssen lernen, sensibler auf natürliche Rhythmen und Zeitabläufe zu achten. Wie bei Worten und Zahlen geht es nicht darum, ein Modell zu lernen und es zur Planung zu nutzen, es geht vielmehr um das Gewahrsein, mit dem wir uns der Zeit und der Form nähern.
Und das letzte Prinzip nenne ich „Prozess“. Als Führungskraft bedeutet es, dass man sich auf den nächsten natürlichen Schritt fokussiert. Das ist die Kunst – im Kontext unserer höheren Absichten und unserer Sinnausrichtung den nächsten natürlichen Schritt zu spüren. Wenn wir dies tun, dann werden wir ein Feedback schaffen, dass wiederum den nächsten Schritt informiert. Wir können große langfristige Pläne entwerfen, dann aber tiefer hineinspüren – nicht nur in uns selbst, sondern in unsere ganze Organisation und in das System in diesem Moment – und so den Weg spüren, den das Leben für das System, das wir führen, vorgesehen hat.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
Share this article: