Führen heißt ermöglichen

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Interview
Published On:

October 29, 2014

Featuring:
Frederic Laloux
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Ausgabe 04 / 2014:
|
October 2014
Führung neu denken
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Über die Arbeit in lebendigen Systemen


Frederic Laloux arbeitete jahrelang bei der Unternehmensberatung McKinsey, bis ihn die „seelenlose“ Unternehmenskultur an seiner Arbeit zweifeln ließ. Er begab sich auf die Suche nach anderen Formen der Organisationsführung und wurde fündig: Er entdeckte Organisationen aus verschiedenen Bereichen, die neue Managementstrukturen und -praktiken anwenden und stellte dabei fest, dass sie alle ähnlichen Prinzipien folgen. Diese Entdeckungen beschreibt er in seinem Buch „Reinventing Organizations“, das sich im Selbstverlag und ohne Marketing in wenigen Wochen zehntausendmal verkaufte. Wir sprachen mit Frederic Laloux über eine neue Führungskultur.


evolve: Du näherst dich dem Thema Leadership aus einer systemischen Perspektive. Warum denkst du, ist das heute wichtig?

Frederic Laloux: Viel von dem, was über Leadership geschrieben wird, geht immer noch davon aus, dass Organisationen unverändert bleiben, sich aber die Führungskräfte ändern sollten, bewusster werden und mit größerer Vision arbeiten sollten. Wenn Führungskräfte ein weiteres Bewusstsein entwickeln, geschehen aber oft zwei Dinge: Entweder sie verlassen ihre Organisationen, weil sie sich die Machtspiele mit ihren Kollegen nicht mehr antun wollen. Oder sie bleiben in den Organisationen und verzweifeln, weil sie nicht sehen, wie sie ihr Bewusstsein in die Organisation einbringen können.
Es ist es natürlich wichtig, dass Führungskräfte ein anderes Bewusstsein entwickeln, aber sie sollten wissen, dass sie auch auf systemischer Ebene arbeiten können. Denn es gibt Strukturen und Praktiken, um dieses Bewusstsein in der Organisation zu verankern. Das Interessante an den Organisationen, die ich untersucht habe, ist, dass die Strukturen es ihnen leicht machen. Sie müssen nicht mehr gegen die Strukturen kämpfen.

Soziales Netzwerk statt Boardroom

e: Es geht also nicht nur darum, den Führungsstil zu ändern, sondern die Systeme zu verstehen, die man neu entwickeln muss, um überhaupt auf eine andere Art und Weise führen zu können.

FL: Ja, eines der schönsten Beispiele ist für mich Jos de Blok, der CEO von Buurtzorg in den Niederlanden, einem Unternehmen für mobile Krankenpflege mit 8000 Mitarbeitern. Er führt dieses Unternehmen mit einem winzigen Headquarter mit 25 Beschäftigten und ohne Vorstand; er führt das Unternehmen sozusagen von seinem Sofa aus. Er ist den gleichen Regeln unterworfen wie alle anderen dort und eine der Regeln besagt, dass er allein keine Entscheidungen fällen kann, er muss sich mit seinen Mitarbeitern beraten. Dazu hat er einen Abstimmungsprozess geschaffen, der für diese Unternehmen typisch ist: Er setzt sich z. B. um 10 Uhr abends auf sein Sofa und schreibt dort einen Blog, den er in einem internen sozialen Netzwerk postet. Er kommuniziert beispielsweise die Idee für eine andere Berechnung der Überstunden. Innerhalb von 24 Stunden lesen das 6000 der 8000 Mitarbeiter, was zwischen 50 und 300 Kommentare hervorruft. Entweder die meisten stimmen dem Vorschlag zu, dann ist 24 Stunden später die Entscheidung getroffen – ohne Powerpoints und Vorstandsbesprechungen. Oder die meisten Mitarbeiter äußern Bedenken, dann reagiert er darauf und räumt ein, dass er die Komplexität des Themas unterschätzt hat und unterbreitet einen anderen Vorschlag oder beauftragt jemanden, das Thema genauer anzuschauen.

Oft brauchen wir Konflikte, um den Sinn überhaupt erst zu entdecken.


Er nutzt also die kollektive Intelligenz und dabei ist seine Haltung erstaunlich frei von Ego, er hat keine Angst, öffentlich zurückgewiesen zu werden. Die Struktur, in der er arbeitet, ist aber fundamental anders. Stell dir vor, so ein Jos de Blok wacht eines Tages auf und hat diese neuen Ideen, aber das ganze System hindert ihn daran, weil die Leute mit ihren Egointeressen dagegen sind. Deshalb geht es eben nicht nur um die persönliche Qualität, die jemand wie Jos de Blok hat, sondern darum, dass sich auch das ganze System verändert.

e: Führungsqualität besteht dann darin, nicht nur einen anderen Führungsstil zu entwickeln, sondern ein tiefes Verständnis von systemischen Zusammenhängen zu entwickeln, die ein bestimmtes Führungsverständnis überhaupt erst ermöglichen. Dazu braucht es auch die entsprechende Kommunikationsdynamik, in der es nicht um Kontroverse geht, sondern um eine kreative, möglichst gemeinsame Perspektive. Welche Rolle spielt darin die Führungskraft?

FL: In diesen neuen Unternehmensstrukturen ist die Rolle der Leader anders als in den heutigen Strukturen: sie sind unwichtiger und wichtiger zugleich. Nicht alle Fäden laufen bei ihnen zusammen, sie sind im System viel leichter wegzudenken, weil das System auf mehr Personen ruht, als nur auf der einen Spitze. Die Führungskräfte haben weniger Macht, sie können nicht mehr alles allein entscheiden, sondern sie müssen die Prozesse der kollektiven Intelligenz mittragen und sich daran beteiligen.
Aber gleichzeitig kommt eine ganz neue Rolle hinzu. Wenn diese neuen Prozesse implementiert werden, müssen die Führungskräfte ständig den Raum schaffen und wahren, damit diese Praktiken ihren Platz finden. Denn oft kommt die Reaktion: „Hey, das geht doch nicht, das ist verrückt, das ist ein viel zu großes Risiko. Wir brauchen doch Strukturen und Hierarchien“. Sobald etwas falsch läuft, wollen die Leute sofort wieder Regeln einführen. Die Rolle der Führungskräfte liegt also weniger auf der Ebene von Strategie und Entscheidung, sondern auf systemischer Ebene.

Illusion von Kontrolle

e: Die Führungskräfte werden im eigentlichen Entscheidungsprozess unwichtiger, weil die Entscheidungen nicht alle über ihren Schreibtisch laufen. Ihre Rolle ist eigentlich eine Metarolle, sie werden zu Optimierern des Entscheidungsraums oder der Entscheidungsdynamik.

FL: Typisch für den Wandel zu evolutionären Organisationen, wie ich es nenne, ist der Übergang von Angst zu Vertrauen, von Mangel zu Fülle. Dieser Übergang spiegelt sich in den neuen Strukturen wieder. Von Strukturen, die auf Angst, Kontrolle und Überwachung beruhen, geht man über zu Strukturen, die auf Möglichkeiten, Entfaltung und Offenheit basieren.

Typisch für den Wandel zu evolutionären Organisationen ist der Übergang von Angst zu Vertrauen.


Für Führungskräfte stellt sich dabei die Frage, wie sehr sie ihr Ego im Griff haben, wie angstfrei sie generell sind und wieviel „Kontrolle“ sie bereit sind aufzugeben. Vorher konnte man Zielvorgaben machen und Aufgaben verteilen, jetzt ist die Kontrolle systemisch, sie liegt im System selber. Es sind sich selbst korrigierende Systeme, die in gewissem Sinne weitaus mehr Kontrolle ermöglichen. Früher hatte man eine Illusion von Kontrolle, jetzt muss die Führungskraft die Kontrolle nicht mehr durchdrücken, sondern kann darauf vertrauen, dass die Kontrolle vom System und den Kollegen kommt. Es fällt viel Druck von den Schultern der Führungskräfte ab, wenn sie von Angst zur Vertrauen übergehen und dementsprechende Systeme entwickeln.

e: Du legst in deiner Arbeit den Schwerpunkt auf das System, aber jetzt beschreibst du eine Führungskompetenz, die sich auch auf Wertehaltungen fokussiert. Die Interventionen können also nur wirken, wenn diese Wertehaltungen in das System aufgenommen und flexibel angewendet werden. Werte sind ja auch bei vielen progressiven Unternehmen wichtig, die z. B. im Bereich Nachhaltigkeit arbeiten, du nennst sie postmoderne Organisationen. Worin liegen denn die Unterschiede bei Führungskräften in solchen Organisationen im Vergleich zu evolutionären Organisationen, die du eben schon angesprochen hast?

FL: In postmodernen Organisationen besteht oft das Bedürfnis, dass wir alle Spaß miteinander haben, dass wir alle gut miteinander umgehen und eine angenehme Kultur haben. In den postmodernen Unternehmen in den USA ist z. B. „fun“ ein wichtiger Wert. Das verschwindet in evolutionären Organisationen, hier können die Leader sagen, dass es auch schwierig werden kann und sie müssen nicht immer dafür sorgen, dass es allen ständig gut geht. Bei Buurtzorg sind alle Krankenschwestern und Krankenpfleger in kleinen Teams von zehn bis zwölf Leuten aufgeteilt und Jos de Blok hat sich bewusst dafür entschieden, dass sie nicht mehr so intensiv gecoacht werden. Durch die Spannung kann das Team wachsen, so entsteht ein Lernprozess für die Beteiligten.

Diese neuen Führungskräfte sehen die Organisation als ein lebendiges Wesen.


Ursprünglich gab es einen Coach für zehn bis 15 Teams. Die Teams haben ja keinen Vorgesetzten und müssen lernen, mit ganz anderen Entscheidungsprozessen zu arbeiten, als sie es von hierarchischen Strukturen gewohnt waren. Heute gibt es nur noch einen Coach für 40 bis 50 Teams, nachdem sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass zu viel Coachen nicht hilfreich ist. Teams müssen durch Konflikte die eigene Mündigkeit entwickeln und durch ihren eigenen Prozess zu wachsen.
In postmodernen Unternehmen ist oft die Personalleitung der wichtigste Partner für den Geschäftsführer. Sie beraten sich darüber, wie man eine neue, leistungsfähige Unternehmenskultur entwickeln kann und wie die Mitarbeiter Spaß haben und unterstützt werden können. In fast allen evolutionären Unternehmen gibt es keine Personalabteilung mehr. Das System funktioniert, und es korrigiert sich selber – wenn Probleme auftreten, werden die Mitarbeiter selbst die Lösungen finden.  

Der Sinn der Organisation

e: Was ermöglicht diesen Übergang? Der Fokus auf Personalentwicklung hat ja auch den Zweck, dass aus Spaß und Wohlfühlen eine Gemeinschaft und Zusammenhalt entsteht. Das ist der Kitt, der eine postmoderne Firma zusammenhält. Wenn ich diesen Kitt wegnehme, brauche ich etwas Neues, um ein organisches Ganzes zu formen. Was ist dieses Neue?

FL: Eine gemeinsame Zielsetzung, ein Sinn, ein Purpose. Viele der postmodernen Unternehmen sprechen zwar über einen Sinn und eine Aufgabe und meinen es auch ernst. Aber es ist oft ein zusätzliches Element, um sich wohlzufühlen. Oft hat auch der Unternehmensleiter das starke Bedürfnis, gemocht zu werden und es allen recht zu machen. Es ist eine persönliche Bestätigung für ihn, wenn Mitarbeiter Spaß in seiner Firma haben. Es ist also noch eine Form von Paternalismus dabei: Ich sorge dafür, dass alle Spaß haben. In evolutionären Unternehmen gibt es eine andere Form von Paternalismus: Ich sorge dafür, dass wir einen Sinn haben, und ich sorge dafür, dass jeder die Möglichkeit bekommt, zu wachsen. In evolutionären Organisationen ist der Sinn wichtiger ist als einzelne Werte. Die Werte kommen fast automatisch, wenn wir den Sinn wirklich vor Augen haben.

e: Dieser gemeinsame Sinn macht es dann auch möglich, anders mit Konflikten oder schwierigen Situationen umzugehen?

FL: Ja, oft brauchen wir Konflikte, um diesen Sinn überhaupt erst zu entdecken. Dadurch, dass man in postmodernen Unternehmen Konflikte eher vermeidet, bleibt auch die Beziehung zum Sinn oder der gemeinsamen Zielsetzung recht oberflächlich.

e: Das bedeutet aber auch, dass eine der nötigen Führungsqualitäten darin besteht, diesen Sinn überhaupt erst sichtbar zu machen. Man braucht also als Mensch eine Beziehung zu diesem Sinn, und die Fähigkeit, ihn so zu kommunizieren, dass er gemeinsam entwickelt werden kann und ausgedrückt wird.

FL: Es ist heute Mode, in Unternehmen von einem gemeinsamen Sinn zu reden. Aber das ist eben oft ein Feigenblatt. In evolutionären Unternehmen ist es hingegen der entscheidende Faktor. Die Führungskräfte solcher Organisationen verstehen die Organisation selbst als ein lebendiges System, ein lebendiges Wesen wie ein Ökosystem. Und wie jedes lebendiges Wesen hat es seine eigene Daseinsmotivation, Energie, Ausrichtung und Kraft. Oder spirituell gesprochen, etwas, das diese Organisation in dieser Welt zur Evolution beizutragen hat, einen Existenzsinn. Die Rolle des Leiters ist dann, genau zuzuhören, wohin dieses Unternehmen von selbst gehen will, wohin es gerufen wird. Das ist eine fundamental neue Haltung. Diese Organisationen entwickeln dann Praktiken, wie man diesem lebendigen Wesen zuhören kann.
Alle Mitarbeiter können etwas zu diesem Prozess beitragen. Wirklich jeder kann auf die Entwicklungsdynamik der Organisation hören und Entscheidungen treffen, die das System in eine leicht andere Richtung bringen. Aber das bedeutet nicht, dass es keine Hierarchie mehr gibt. Hier ist ein Unterschied wichtig: Es gibt keine Gewalthierarchie mehr, also niemand hat mehr Gewalt über die anderen, es gibt keinen Boss mehr, der über meine Karriere und meinen Verdienst entscheiden kann. Weil es diese Gewalthierarchie nicht mehr gibt, entstehen viele natürliche Hierarchien. Das heißt, dass manche Leute bei bestimmten Themen mehr Erfahrung, mehr Wissen, mehr Kompetenzen oder mehr Begeisterung beizutragen haben als andere.
Das ist möglich, weil im Zentrum der Sinn der Organisation steht, und nicht die jeweiligen Machtinteressen, wie in den pyramidenförmigen Hierarchien der meisten Organisationen. Der  Zusammenhalt entsteht nun durch die Ausrichtung der Organisation, die alle Beteiligten verbindet. Und in diesen natürlichen Hierarchien kann jeder seinen Beitrag zur Verwirklichung dieses Sinnes leisten und gleichzeitig mit dem Ganzen verbunden sein. Und das ist es, was die Menschen auch in der Arbeit wirklich erfüllt.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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