Gefrorene Wärme

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

April 17, 2018

Featuring:
Bence Ganti
Roberto Assagioli
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Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
Was ist heute heilig?
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Über eine Aufstellung zur Heilung unserer Geschichte

Im Juni des vergangenen Jahres fand in Berlin die Konferenz »Mut zum Fühlen« statt, bei der unser Umgang mit Gefühlen, deren Unterdrückung und Ausdruck zum Thema gemacht wurde. In Deutschland ist dieses Thema eine Herausforderung der besonderen Art, ist doch das Fühlen in unserem Land von tief greifenden Traumata belastet. Dieser Herausforderung wollten sich die Organisatoren der Konferenz mutig stellen und luden ein internationales Team ein, eine Großgruppenaufstellung durchzuführen, die zum Höhepunkt der Konferenz wurde.

Um den Prozess dieser Aufstellung einzuordnen, nutze ich das integrale Modell des Bewusstseins von Roberto Assagioli. Er unterschied zwischen bewusstem Selbst oder Ich einerseits, dem Höheren bzw. transpersonalen Selbst andererseits, sowie zwischen den Ebenen des tieferen, mittleren, höheren und kollektiven Unbewussten. Im Lichte dieses Modells bot sich für die Teilnehmenden die Chance, mit unbewussten und vielfach beängstigenden Persönlichkeitsanteilen und Kräften des kollektiven Unbewussten in der Form von Repräsentanten in Kontakt zu treten und mit diesen zu interagieren.

Die Aufstellung wurde von Bence Ganti nach dem von ihm entwickelten Flow-Prinzip geleitet, bei dem sich die RepräsentantInnen für verschiedene »Rollen« – wie Väter, Mütter, Kinder, Migranten, Krieg, Hass, Liebe, deutsche Kultur, jüdische Opfer, nicht-jüdische Opfer oder Gefühlskälte – frei und ohne Worte im Raum bewegen. Dabei kam es zu intensiven Begegnungen und Interaktionen, bei denen die einzelnen tief greifende emotionale Prozesse durchmachten. Im Sinne der Psychosynthese eröffneten sich hier Heilungswege der jeweiligen Psyche. Die Beteiligten kamen nicht nur mit den eigenen (oft beängstigenden) Persönlichkeitsanteilen und mit Kräften des kollektiven Unbewussten in Kontakt, sondern sie hatten auch die Chance, mit ausbalancierenden und stützenden Repräsentanten/Kräften in Interaktion zu treten.

Die Aufstellung lässt sich unter vielfältigen Gesichtspunkten analysieren. Grundlage hierfür boten ausführliche Rückmeldungen. Die folgenden Thesen orientieren sich an besonderen emotionalen Verdichtungen und Dynamiken, die deutlich über individuelle Befindlichkeiten hinausweisen:

These 1: Missbrauch der Väter/Männer

Wo Väter/Männer von Kräften wie Hass, Wut, Rechthaberei und Krieg vereinnahmt werden, zeigt sich die dunkle Seite des männlichen Prinzips und Männer werden missbraucht. Wenn solcher Missbrauch geschieht, werden Männer zu Tätern und das männliche Prinzip zur Täterenergie; Männer werden schuldhaft und unerlöste Scham blockiert die Gefühle. Der Weg der (Gefühls)Heilung von Männern im deutschen Kollektiv führt über die Annahme des Traumas und eine Öffnung für Empathie und für Verbundenheit mit der weiblichen Energie. Dies bahnt den Weg zurück zur Verbundenheit zwischen Männern, Frauen und Kindern und zu einem verantwortlichen Umgang mit dem Leben.

These 2: Gefühlskälte

Gefühlskälte, »gefrorene Wärme«, so die Worte der Repräsentantin, ist nicht zuletzt eine Reaktion auf abgespaltene traumatische Gefühle von Schmerz, Schuld und Scham. Mut zum Fühlen, das Anliegen von Konferenz und Aufstellung, kann sich entfalten, wenn die blockierende Gefühlskälte durch eine posttraumatische Heilung »aufgetaut« wird.

These 3: Befreiung der männlichen Energie

Jede Energie hat eine lichtvolle und eine dunkle Seite, so auch das männliche Prinzip, das in Männern und Frauen vorhanden ist. Die lichtvolle lebensfördernde Seite des männlichen Prinzips steckt derzeit in einer tiefen Krise, die sich als Missbrauch von Männern (und Frauen) durch destruktive Kräfte zeigt. Dieser Missbrauch wird durch eine grundlegende Halt- und Orientierungslosigkeit bezüglich der Rolle des männlichen Prinzips im größeren Kontext des Lebens möglich. Der Verlust der Einbettung (Dekontextualisierung) der männlichen Energie durch die fehlende bzw. fehlleitende Rolle des Vaters kreiert den Nährboden für viele Pathologien der Moderne. Dabei spielt das Gefühl der Angst, das mit Schuld- und Schamgefühlen einhergeht, eine zentrale Rolle. Angst kann blockieren, kann aber auch als Tor zur Wandlung wirken. Wird die Angst angenommen und eine Begegnung mit vielfältigen lichtvollen Kräften innen wie außen gewagt, dann kann das männliche Prinzip erneut seine kraftvolle, dem Leben dienende Rolle einnehmen.

These 4: Heilungsauftrag

Die Aufstellung zeigte, in welchem Ausmaß Männer und das männliche Prinzip durch Macht, Krieg, Hass und Wut missbraucht werden und Heilung brauchen. Das männliche Prinzip lebt in Männern wie in Frauen sowohl in seinem Schattenaspekt wie in seiner lichtvollen lebensfördernden Seite. Wenn letztere entdeckt, gewürdigt, gelebt wird, werden individuelle und kollektive Heilungswege erschlossen – im Einzelnen, zwischen Menschen, im Kollektiv. Zugleich ist diese Heilung eine wichtige Voraussetzung für ein anderes Miteinander der Geschlechter.

In unserem Land ist es zu einer tief greifenden Traumatisierung von Gefühlen gekommen.

These 5: Deutsche Kultur

Das, was man als deutsche Kultur bezeichnen kann, ist zutiefst geprägt von Schuld-, Scham- und Verlusterfahrungen. Es zeigt sich als Schmerz, der durch die schuldhafte Zerstörung einer inspirierenden Synthese mit der jüdischen Kultur und durch das Vergehen an der eigenen Kultur geschehen ist. Im Annehmen der Schuld, im Respekt vor den lichtvollen Seiten der eigenen kulturellen Wurzeln und in der Würdigung der wechselseitigen deutsch-jüdischen Inspiration kann Heilung geschehen.

These 6: »Ossis« und »Wessis«

Viele Menschen aus den neuen Bundesländern erlebten und erleben durch die Art der Wiedervereinigung eine tiefe Verletzung. Solange diese nicht von Menschen aus den alten Bundesländern (Wessis) wahrgenommen wird, beeinträchtigen Gefühle von Demütigung und Wut die Herausbildung einer konstruktiven gesamtdeutschen Identität. Wertschätzung für das, was die neuen Bundesländer in das Gemeinsame einbringen, ist eine Voraussetzung dafür, dass die Wunde zwischen Ost- und Westdeutschland heilt und Deutschland seine Verantwortung integral wahrnehmen kann. In diesem Prozess ist es wichtig, dass die Menschen aus den neuen Bundesländern sich auf ihre eigenen Stärken besinnen.

These 7: Fazit und Ausblick

Destruktive Gefühle wie Wut, Rechthaberei, Krieg und Hass, die derzeit in Deutschland aber auch in anderen Ländern an Wirkmächtigkeit gewinnen, können im Sinne der Psychosynthese als Ausdruck von Teilpersönlichkeiten verstanden werden. Teilpersönlichkeiten sind Energien, die aus dem Raum des Unbewussten her agieren und unkontrolliert die Führung übernehmen. Hinter jeder Teilpersönlichkeit steht jedoch eine genuine Gabe der Persönlichkeit, die sich in destruktive Überlebensstrategien pervertiert hat, weil die eigentliche Gabe nicht gelebt werden konnte/durfte. Heilung im Sinne der Psychosynthese geschieht daher in fünf Schritten. Die ersten vier sind: Erkennen, dass diese destruktive Seite gelebt wird, verstehen, dass und wie sie die Persönlichkeit beherrscht, akzeptieren, was ist, ohne zu bewerten (der schwierigste Schritt) und eine Kooperation mit anderen lichtvollen Persönlichkeitsanteilen suchen und herstellen, um die in der Teilpersönlichkeit verborgenen Gaben angstfrei annehmen und leben zu können. Gelingt dies, so findet die Persönlichkeit Zugang zur konstruktiven lichtvollen Seite ihrer Gaben und der fünfte Schritt wird möglich: eine neue Synthese, personal und/oder transpersonal. Solche Transformation geschieht in einer Verschränkung und Durchdringung von individuellen und kollektiven Prozessen.

Warum sind solche Prozesse in Deutschland so wichtig? In unserem Land ist es insbesondere in der NS-Zeit, aber auch in der DDR zu einer tief greifenden Traumatisierung von Gefühlen gekommen, insbesondere solchen, die Roberto Assagioli im Höheren Unbewussten verortet wie Begeisterungsfähigkeit, Idealismus, Mitgefühl, Verantwortung. Sie wurden in den Dienst eines verbrecherischen (NS) oder eines Unrechts-Systems (DDR) gestellt. Dieselbe Indienstnahme gilt für Tugenden wie Disziplin, Verantwortung, Gehorsam, Ausdauer, Mut. Die Vergiftung von Gefühlen und der Missbrauch von Tugenden/Sekundärtugenden hat individuell und kollektiv dazu beigetragen, Fühlen per se zu vermeiden und die Idee von Tugenden abzulehnen. Sich solchen abgespaltenen Gefühlen und kollektiven Traumata zu stellen, schafft daher in unserem Land wichtige Voraussetzungen für ein friedlicheres Miteinander von Menschen und Kulturen innerhalb und außerhalb unserer Gesellschaft.

Author:
Prof. Dr. Barbara von Meibom
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