Gehen, bis man die Erde spürt

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Essay
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April 21, 2016

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Ausgabe 10 / 2016:
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April 2016
Europa sucht seine Seele
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Vom Aussteiger zum Gestalter

Mike Kauschke

Die untergehende Sonne spiegelt sich golden im Meer. Der Blick geht über Olivenbäume, die den sanft abfallenden Hügel mit schimmerndem Grün bedecken. In der Abendluft erklingen das Zirpen der Grillen und eine Sonate von Chopin. Ich sitze auf der Terrasse des Mani Sonnenlink, einem Biohotel im Süden von Peloponnes, zusammen mit vielen anderen Gästen, die einem Klavierkonzert unter freiem Himmel lauschen. Hier, in einer der ursprünglichsten Gegenden Griechenlands, haben Fritz und Burgi Bläuel ein Kleinod der Schönheit und Kreativität geschaffen. Dabei ist der Sonnenlink nur ein »Nebenprodukt« ihrer 30-jährigen Arbeit. Mani Bläuel ist vor allem durch mehrfach ausgezeichnete Olivenöle bekannt und als Pionierunternehmen der Biobranche, das sich von einem Ein-Mann-Betrieb zu einem Unternehmen mit 70 Mitarbeitern entwickelt hat. Aber Fritz Bläuel kann nicht nur eine unternehmerische Erfolgsgeschichte erzählen, sondern auch Erfahrungen aus einem Leben, das beispielhaft die großen Wendepunkte der kulturellen Entwicklung der letzten Jahrzehnte durchlaufen, durchlitten und mitgeschaffen hat.

Er verbrachte seine Kindheit auf dem Lande in der Nähe von Wien, wo seine Eltern ein Hotel führten. Als Jugendlicher kam er nach Wien. Es waren die 60er Jahre und die Folgen des Nationalsozialismus und der Rolle Österreichs in der Hitlerdiktatur noch überall spürbar. Aber wie auch anderswo in Europa wuchs eine junge Generation heran, die diese schwere Last der Geschichte abwerfen wollte. Fritz war mittendrin, politisch engagiert und, so sagt er heute, es konnte ihm gar nicht radikal genug sein: von den Sozialisten zu den Kommunisten zu den Trotzkisten hin zur anar­chistischen Sponti-Bewegung. Das Wichtigste war für ihn, dass diese utopischen Bewegungen Hoffnung darauf gaben, dass ein anderes Leben möglich ist. Aber schon bald musste er feststellen, dass sich trotz aller Utopien der zwischenmenschliche Umgang und das Rollenverhalten der Geschlechter nicht wirklich veränderten: »Wir empfanden einen großen Sendungsauftrag, aber wir mussten einsehen, dass wir in unserem eigenen Leben keine wesentlichen Schritte der Veränderung machten.«

Es brauchte eine radikale Transformation der Lebensformen, weshalb Fritz und einige Freunde eine Kommune gründeten: »Durch Abschaffung der Struktur der Kleinfamilie und der Paarbeziehungen wollten wir über alte Konditionen hinausgehen und das Paradies schaffen.« Da zwei Mitglieder der Kommune schon in Griechenland gelebt hatten und die Mani kannten, entschlossen sich die Kommunarden, ihr Experiment in paradiesischer Landschaft weiterzuführen. Aber das war schwerer als gedacht und schon bald war vielen das Land- und Kommunenleben zu anstrengend. Die Kommune löste sich auf, allein Fritz blieb. Er nahm dieses Scheitern zum Anlass, den Blick nach innen zu wenden: »Das ist natürlich ein fantastischer Moment, sich auf ein Kissen zu setzen und zu betrachten, wie der Verstand funktioniert.« Und so verbrachte er die nächsten drei Jahre allein in der Mani mit Meditation. So radikal, wie er sich in die politische Arbeit und das Kommunenexperiment gestürzt hatte, so vollkommen gab er sich auch der spirituellen Praxis hin. Heute sagt er: »Ich war sehr ehrgeizig, obwohl es ja verrückt ist, spirituellen Erfahrungen so ehrgeizig hinterherzulaufen. Aber es ist auch Teil des Weges, dass man sich auf diese Weise ausläuft. Im Zen gibt es den Spruch: Die Praxis ist wie das Gehen, und der Sinn der Übung ist, dass man irgendwann ein Loch in der Sohle hat und die Erde spürt.«

¬ DIE VISION EINES SPIRITUELLEN LEBENS MITTEN IN DER WELT WURDE ZUM LEITSTERN. ¬

Fritz praktizierte nach Anleitungen aus dem Zen- und ­Theravada-Buddhismus, bis er schließlich ein Buch von Chögyam ­Trungpa ­Rinpoche in die Hände bekam: »Für mich verband Trungpa ­Rinpoche disziplinierte, konsequente, spirituelle Praxis mit einer Vision, in der Platz für Familie und Arbeit war.« Um sich während dieser Retreatzeit zu finanzieren, begann er, Olivenöl von den Bauern aus der Umgebung abzufüllen und zu verkaufen. Sein quasi-mönchisches Leben endete, als er seine spätere Frau Burgi kennenlernte. Beide wurden Schüler von Trungpa ­Rinpoche und reisten für lange Retreats in die USA. Seine Erfahrungen mit dem kontroversen tibetischen Lehrer wirken noch heute tief in ihm nach. »Mit allem, was er tat, schien uns Trungpa aus festen Gewohnheiten und Denkmustern herausstoßen zu wollen.«

Trungpas Vision eines spirituellen Lebens mitten in der Welt, in dem auch Familie und Beruf zum Praxisfeld werden können, wurde für Fritz und Burgi zum Leitstern. Sie gründeten eine Familie und begannen, aus dem dem Handel mit Olivenöl ein Geschäft zu machen. Es war gerade der Beginn des Bio-Trends und des wachsenden Interesses an Olivenöl. Bei beidem waren die Bläuels vorn dabei und sahen, wie ihr Unternehmen rasant wuchs. Fritz, der frühere radikale Marxist, Aussteiger und Einsiedler, wurde zum Unternehmer mit immer mehr Mitarbeitern. Für den Umgang mit seinen Mitarbeitern aus den umliegenden Dörfern nutzte er deren familiäre Werte und führte auch das Unternehmen wie eine Familie, was ihm die Mitarbeiter mit tiefer Loyalität zurückgeben. Beeindruckend die Geschichte, als ein Scheck gedeckt werden musste und Fritz gerade verreist war: Die Mitarbeiter fuhren in die Stadt, holten ihr eigenes Geld von der Bank und legten den Betrag aus. »Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie man in Griechenland Veränderung bewirken kann, indem man sich an die Menschen und die Mentalität annähert und von dorther arbeitet, statt ihnen von außen etwas aufzudrücken«, reflektiert Fritz heute in Zeiten der schwelenden »Griechenlandkrise«.

Aber bei allem unternehmerischen Erfolg wusste Fritz nicht so recht, wie er seine verschiedenen Herzensimpulse zusammenbringen konnte: der kritische politische Denker, der spirituelle Sucher und der erfolgreiche Unternehmer. Erst als er vor über zehn Jahren die integrale Theorie Ken Wilbers kennen­lernte, fand er auch in sich zu einer neuen Integration – und zu der Erkenntnis, dass sich diese Aspekte nicht ausschließen müssen, sondern im Gegenteil einander bereichern können. Aber Fritz erfuhr auch, dass diese Begeisterung von einer neuen Sicht der Welt, die (fast) alles erklären kann, manchmal auch zur Entfremdung von anderen und zu einem neuen Selbstbild führt, in dem man meint, alles zu wissen.

Alle intellektuellen und spirituellen Gewissheiten wurden für Fritz in den letzten Jahren auf eine harte Probe gestellt, als er sich mit der Diagnose einer schweren Krankheit auseinandersetzen musste. Heute bezeichnet er das als eine dunkle Nacht der Seele, einen Prozess, in dem er alle noch so entwickelten Selbstbilder loslassen musste, um zu einer tieferen Ganzheit zu finden. Dieser Weg hat ihn demütiger werden lassen und zufriedener mit dem, was ist, während er sehen kann, wie sein Sohn die Firma mit großem unternehmerischen und menschlichen Geschick führt. Für die Kultur in seinem Unternehmen sieht Fritz schon einen nächsten Entwicklungsschritt: Kürzlich sagte er der Belegschaft, dass man das Modell der Familie vielleicht weiterentwickeln sollte, weil sie keine Kinder sind, sondern selbstverantwortliche Kollegen, die mehr Eigenverantwortung übernehmen können.

In der Region ist sein Unternehmen heute der größte Arbeitgeber und damit eine wichtige gesellschaftliche Kraft und der Mani Sonnenlink mit dem hochkarätigen Konzertprogramm eine feste kulturelle Größe. Und mit Freunden hat Fritz vor Kurzem eine Praxisgruppe für integrale Spiritualität gegründet. So, wie er heute unternehmerische Kreativität, politisches und soziales Engagement, menschliche Sensibilität und spirituelle Hingabe zusammenbringt, scheint er auf seinem Weg an dem Punkt angekommen zu sein, wo er »die Erde spürt«.

Author:
Mike Kauschke
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