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Vieleicht hat gerade das Schöne in einer Gesellschaft, in der es zu einer Ware auf dem Markt geworden ist, einen tieferen Wert. In einem einflussreichen Essay erklärt die Philosophin Elaine Scarry, dass Schönheit und Gerechtigkeit eng zusammenhängen. Was bedeutet das? Hilft es uns, eine neue Vision unserer Welt zu finden?
Wie finden wir einen Weg durch unsere Zeit, durch die Krise, den Kollaps? Ich bin sicher nicht so naiv zu glauben, dass ich oder irgendjemand von uns die vor uns liegenden Jahrzehnte der Unsicherheit und des Chaos unbeschadet überstehen wird. Auch weiß niemand von uns, was in dieser kollektiven Konfrontation Bestand haben und überdauern wird. Während der letzten Monate gab es eine Fülle von Podcasts und Büchern, die von neuen Wirtschaftsformen sprechen, von einer erneuerten Demokratie oder der Regeneration der Erde, aus der wir gewachsen sind. Es sind Pläne und Visionen für die erhoffte Welt der Zukunft. Aber wie kommen wir durch diese schwierigen Zeiten und den beschwerlichen Weg in diese Zukunft, ohne die besten Wesenszüge unseres Menschseins zu verlieren? Wir könnten hoffen, dass unsere Werte die Gesellschaft zusammenhalten, dabei werden diese Werte gerade zerrieben unter dem Druck einer unbekannten Ansteckungskrankheit, der Unsicherheit der Massenarbeitslosigkeit, der Auseinandersetzung mit der rassistischen und kolonialistischen Brutalität in der Geschichte des Westens und den verrückten digitalen Spiegelsälen der Fake News, während übergreifend die Klimakrise den Horizont der Zukunft verdunkelt.
Die westliche Kultur wurde durch eine Reihe von Werten belebt, die im antiken Griechenland formuliert wurden: das Gute, Wahre und Schöne. Diese Werte haben wir mit verhängnisvoller Unvollkommenheit verwirklicht, aber sie bieten immer noch eine Orientierung für uns. Heute muss die Wahrheit schwere Schläge einstecken. Und die Frage des Guten scheint bis zur Bedeutungslosigkeit relativiert worden zu sein. Und was ist mit der Schönheit? Romantisiert, zur Ware degradiert oder mit Glamour verwechselt: Die Schönheit wurde in der westlichen kapitalistischen Konsumkultur zum Kitsch (oder mit dem Kitschigen verwechselt). Aber vielleicht sollten wir die Schönheit – die frei ist von den Ideologien, welche die Wahrheit und die Moral infiziert haben – genauer betrachten.
SCHÖNHEIT AUF DEM MARKTPLATZ IST EIN TAUSCHMITTEL: EINE WARE, DIE WIR KAUFEN ODER BESITZEN KÖNNEN.
Könnte uns die Schönheit helfen, in diesem globalen Umbruch aus unserer tieferen Menschlichkeit zu leben? Natürlich hängt die Antwort davon ab, was wir mit Schönheit meinen – ein Begriff, der durch kulturelle und historische Unterschiede belastet ist, vom wahrgenommenen Marktwert verzerrt und von der postmodernen Kunstszene als zu bürgerlich abgelehnt wurde. Trotzdem ist die Erfahrung der Schönheit universell und wird universell wertgeschätzt – und wohnt vielleicht auch dem Universum inne, in dem wir leben. Und wie die Philosophin Elaine Scarry in ihrem einflussreichen Essay »Beauty and Being Just« schreibt, könnte die anziehende Kraft der Schönheit der Boden sein, auf dem unser Gerechtigkeitsempfinden blüht.
Eine Ware auf dem Markt
Die Erfahrung der Schönheit ist magnetisierend: Das Schöne zieht uns an. Deshalb sind Schönheit und Attraktivität – insbesondere körperliche Attraktivität – so eng miteinander verbunden. Als Kind frisierte mir meine Mutter die Haare und zog dabei so sehr daran, dass es weh tat. Dann sagte sie zu mir: »Schönheit muss leiden.« Ihre Worte lehrten mich, dass mein schönes Aussehen wichtiger war als meine Schmerzen. Und dass Schönheit besonders als Frau wichtig war – meine Brüder durchliefen dieses Ritual nicht. Obwohl sie als Jungen ihre eigenen Prüfungen zu bestehen hatten, wurde von ihnen nicht verlangt, körperlich schön zu sein. Auch wenn unsere Schönheitsideale sich verändern – denken Sie an Adele oder Lizzo – sind Frauen verpflichtet, schön zu sein, oder es zumindest zu versuchen. Das ist weiterhin die kulturelle Macht der Frauen. Männliche Schönheit, was Männer anziehend macht, ist die Macht selbst: ob diese Macht nun körperlich, geistig, finanziell oder in anderen Fähigkeiten oder Kenntnissen zum Ausdruck kommt.
Die Gleichsetzung weiblicher Schönheit mit der sexuellen Attraktivität von Frauen ist ein Grund dafür, dass es in unserem gegenwärtigen kulturellen Kontext so schwierig ist, ernsthaft über Schönheit zu sprechen. Trotz des Sprichwortes »Wahre Schönheit kommt von innen« wollen uns Frauenmagazine und Medien vom Gegenteil überzeugen. Wenn ich auf YouTube bin, werde ich, nur weil ich eine ältere Frau bin, mit Videos überschüttet, die mir zeigen wollen, wie ich Falten vermeide, oder wie ein Haarschnitt für Frauen über 50 meine Attraktivität erhöhen kann. Dahinter steht eine globale Schönheits-»Industrie« mit einem Jahresumsatz von 570 Milliarden Dollar. Allein die Tatsache, dass diese beiden Wörter – Schönheit und Industrie – ohne Ironie nebeneinandergestellt werden, spricht Bände. Schönheit auf dem Marktplatz ist ein Tauschmittel: eine Ware, die wir kaufen oder besitzen können. Die Idee, dass wir Schönheit »haben« und besitzen können, ist allgegenwärtig: Wir sehen ein schönes Objekt und wir müssen es kaufen, wir sehen einen schönen Sonnenuntergang und wir müssen ihn mit unserem Smartphone festhalten. Aber als Tauschwert auf einem Markt der glänzenden Oberflächen finden wir nur eine falsche Imitation der Schönheit.
Jenseits der Oberfläche
Scarry lädt uns dazu ein, unter die Oberfläche zu gehen. Was geschieht in unserer Begegnung mit dem Schönen? Ja, wir werden angezogen, sind fasziniert. Und dieses Angezogenwerden bringt uns aus dem Gleichgewicht, zieht uns aus uns selbst raus. Deshalb ist der Glitzer, den uns der Markt anbietet, falsche Schönheit: Er trägt uns nicht über uns selbst hinaus, sondern erweckt eine Bedürftigkeit und eine Gier, die das Selbst aufblähen. Aber eine wahre Begegnung mit der Schönheit führt uns über uns selbst hinaus in etwas Größeres. Scarry zitiert Simone Weil, die beobachtete, dass das Schöne von uns fordert, »unsere vorgestellte Position als Zentrum aufzugeben. … Dann ereignet sich an der Wurzel unseres Empfindens eine Transformation in unserer unmittelbaren Wahrnehmung der sinnlichen und psychologischen ›Eindrücke‹. Und dieses ›Ent-selbsten‹ verwandelt uns, weil ein umfassenderer geistiger Akt möglich wird: Der gesamte Raum, der zuvor dem Schutz, der Sicherung, der Verbesserung des Selbst (oder seinem ›Prestige‹) diente, ist nun frei, um etwas anderem zu dienen.«
WOHER WISSEN WIR, OB WIR GLEICHBERECHTIGUNG ZWISCHEN UNS ERREICHT HABEN?
Und was ist dieses andere? »Indem uns das Schöne aus uns heraushebt«, so erklärt Scarry, »lädt es die Suche nach etwas ein, was über es selbst hinausgeht, nach etwas Größerem oder etwas Gleichrangigem, mit dem es in Beziehung gebracht werden muss.« Deshalb ist das Schöne ihrer Ansicht nach »lebenspendend«: Es befreit uns aus der Isolation des Selbst oder aus der Ausweg losigkeit unserer Situation. Ein kleines Beispiel: Ein Freund von mir fuhr kurz nach dem Ende der Sowjetunion in die Ukraine, um Verwandte zu treffen, die er noch nie gesehen hatte. Er war schockiert von der brutalen Härte ihres Lebens – sie hatten kaum Geld, keine Arbeitsstelle und ernteten mit bloßen Händen die spärlichen Kartoffeln. Und ihn berührte, dass die Frauen des Dorfes trotzdem Blumen kauften. Die Blumen waren sicher keine Notwendigkeit – aber vielleicht waren sie es in solch einer schwierigen Situation doch. Oder ein anderes Beispiel: Eine Frau, die in einem Konzentra tionslager inhaftiert war, in einer Zelle ohne Fenster, ohne Licht, außer dem kleinen Lichtstrahl, der durch eine Ritze in der Zellentür drang. Sie empfand diesen Strahl als unbeschreiblich schön – wie der Staub in diesem Strahl tanzte. Es verband sie mit einer lebendigen Welt und mit etwas Größerem und Geheimnisvollerem, wodurch sie bei klarem Verstand blieb und ihre Menschlichkeit bewahrte.
Es gibt einen lebenspendenden oder lebensfördernden Pakt zwischen dem Schönen und demjenigen, der ihm begegnet. Das Schöne, was immer es sein mag, hebt uns in die Ganzheit, die größer ist als wir selbst, und erweckt gleichzeitig unsere Fürsorge. »Die Tatsache, dass etwas als schön wahrgenommen wird«, erklärt Scarry, »ist verbunden mit dem Drang, es zu schützen oder in seinem Sinne zu handeln.« Vielleicht motiviert das auch Klimaaktivisten, die Natur zu schützen.
Quelle der Gerechtigkeit
In schwierigen Zeiten kann das Schöne sogar noch mehr sein als eine Erleichterung, eine Wiederverbindung und ein Ruf zur Fürsorge. Es kann uns helfen, uns durch das chaotische Unbekannte zu bewegen. Scarry ist der Ansicht, dass Schönheit und Gerechtigkeit zutiefst wesensverwandt sind. Menschen empfinden Symmetrie als schön. In allen Kulturen wurden Gesichter, die symmetrischer waren, als schöner bezeichnet – und selbst Babys blicken länger auf symmetrische Gesichter. Symmetrie bedeutet Proportion, Balance, Gleichheit auf beiden Seiten. Genauso geht es der Gerechtigkeit um den Ausgleich, die Gleichbehandlung, die Gleichheit in den Folgewirkungen, die Fairness. Scarry erklärt: »Die Symmetrie der Schönheit führt uns zur Symmetrie, die schließlich im Bereich der Gerechtigkeit geschaffen wird – oder das Schöne unterstützt uns bei der Entdeckung dieser Symmetrie.« Könnte auf diese Weise unsere tiefe Antwort auf das Schöne ein Leitstern werden, um uns in eine gerechtere Welt zu führen? Das Schöne ist weit älter als unsere Ideen und Ideologien über Gerechtigkeit und ist zutiefst demokratisch.
In unserer Antwort auf das Schöne finden wir, so Scarry, eine »Interessenlosigkeit« – und ich würde hinzufügen: eine Großzügigkeit. Wir wollen das Schöne nicht allein für uns: Wenn man bei einem Spaziergang mit einem Freund einen wunderschönen Sonnenuntergang sieht, dann wird man den Freund sofort darauf hinweisen. Wir wollen das Erlebnis teilen. Scarry fragt: »In der nahen Zukunft können wir Menschen unsere Welt so gestalten, dass es einen schönen Himmel geben wird – oder so, dass es ihn nicht mehr geben wird. Möchten Sie, dass es in Zukunft einen schönen Himmel gibt?« Oder »Sollte es hier und da atemberaubend schöne Höhlen geben, deren Gänge sich mehrere Kilometer lang erstrecken und sich in kristalline Grotten mit üppigen farbigen Galerien von Edelsteinen öffnen, wobei in anderen Galerien die blanken Wände von Menschen, die diese Höhle vor Tausenden von Jahren besuchten, mit Gemälden verziert wurden?« Wer würde eine dieser Fragen verneinen? Als Menschen erkennen wir, dass die Abwesenheit des Schönen im Leben ein schrecklicher Verlust wäre und uns wahrlich arm machen würde. Wir wollen, dass die Schönheit auch für andere zugänglich ist.
BEI DER GERECHTIGKEIT GEHT ES UM DEN AUSGLEICH, DIE GLEICHBEHANDLUNG, DIE GLEICHHEIT IN DEN FOLGEWIRKUNGEN, DIE FAIRNESS.
Diese Überlegungen führen mich auch in eine neue Richtung, wenn ich über die Gleichheit der Geschlechter nachdenke. Woher wissen wir, ob wir Gleichberechtigung – wahre Gleichheit – zwischen uns erreicht haben? Wir können die Anzahl der Frauen in Führungspositionen in den Unternehmen ermitteln oder herausfinden, wie viel Hausarbeit die Männer übernehmen. Aber führt dieses Angleichen der Zahlen zu einer schöneren und gerechteren Welt? Die Struktur der Welt bleibt gleich. Wie sieht Gleichberechtigung aus? Sollte die menschliche Gleichberechtigung nicht auch schön und symmetrisch sein – etwas, das zwischen uns großzügig geteilt wird und in Resonanz ist? In ihrer lebenspendenden Kraft erweckt die Schönheit eine Verbindung sowohl mit einer Ganzheit jenseits des isolierten Selbst als auch mit einer aktiven Fürsorge. Das ist weit mehr als Ästhetik: Es ist eine ethische Haltung, die sich auf die Schönheit des Lebens einstimmt. Auch wenn das keine Antwort darauf ist, wie wir eine gerechtere Welt schaffen können: Unsere Resonanz mit dem Schönen und unsere Erkenntnis, dass niemandem die Erfahrung des Schönen verwehrt sein sollte, gibt uns eine Orientierung.
Aber damit dies möglich wird, muss Schönheit viel mehr als Oberfläche sein. Ich erinnere mich an eine Freundin, die als Masseuse arbeitet. Sie sagte mir, dass sie noch nie mit einem Körper gearbeitet habe, der nicht schön war – egal ob dick oder dünn, jung oder alt, symmetrisch oder asymmetrisch. Oder mir kommt ein ägyptischer Freund in den Sinn, der mir erklärte, dass sich nach dem Arabischen Frühling die Muslime und Christen in ihrer Wertschätzung des Schönen in der Tradition des jeweils anderen trafen – der Musik, den Mosaiken, der Aufrichtigkeit des Gebetes und der Rituale. Oder die Aussage eines Hospizmitarbeiters, der von der fast unerträglichen Schönheit berichtete, wenn sich der Mensch in eine nackte Verletzlichkeit und das blanke Sein loslässt, während er seine letzten Atemzüge lebt.
Können wir eine Praxis der Suche nach dem Schönen entwickeln, die in der Essenz des Lebens gegründet ist? Können wir aus solch einer Praxis heraus unsere Welt gestalten? Dafür müssen wir nicht unsere Augen schulen, sondern eine tiefspürende Wahrnehmung für die Flamme des Lebens in jedem von uns entwickeln – egal, wer wir sind. In unserer Zeit von Chaos und Krise einander mit solch einem Respekt zu begegnen, wäre wahrhaft schön.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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