April 11, 2022
In einem oft zitierten Gedicht von Goethe findet sich die Aussage, dass man, wenn man nicht auf dreitausend Jahre zurückgreifen kann, in naive Verwirrung gerät. Dies greift jedoch möglicherweise um einige tausend Jahre zu kurz. Wie aus neuen archäologischen Forschungsarbeiten hervorgeht, sind wir aus mangelnder Kenntnis über prähistorische Zeiten in Vorstellungen gefangen, die uns blind machen für den Reichtum und die Kreativität unserer Vorfahren – und für unser eigenes Potenzial.
Stellen wir uns das vor: Um 4000 v. Chr. gab es inmitten der heute umkämpften Ukraine drei Siedlungen von jeweils einer Stadt entsprechenden Ausmaßen, die etwa 600 Jahre lang bewohnt waren. Es gibt keine Anzeichen für Standesunterschiede oder irgendeine Art von Herrscher. In den größeren Siedlungen lebten bis zu zehntausend Menschen – rings um ein offenes Zentrum, das für Versammlungen, Zeremonien und/oder Viehzucht genutzt worden sein könnte. Jede Gruppe von Häusern, die den Ring bildeten, wies eine einzigartige Ästhetik in ihrer Gestaltung auf. Auf irgendeine Weise wurden Entscheidungen kollektiv getroffen, und aus der Kombination von kleinen Gärten, Hirsch- und Wildschweinjagd, Viehhaltung und dem Sammeln von Wildpflanzen erwuchs ein Ökosystem von bemerkenswerter Widerstandsfähigkeit und Nachhaltigkeit.
Und führen wir uns sodann vor Augen: Im heutigen Südwesten Ohios wurden ab etwa 300 v. Chr. große Lehmbauten auf der Grundlage einer komplexen Geometrie gleichseitiger Dreiecke errichtet. Einer dieser Bauten scheint ein Mondobservatorium gewesen zu sein, andere beherbergten Handwerker oder waren Begräbnisstätten. Auffallend ist, dass sich in diesen Räumen oft nur zu bestimmten Zeiten mehrmals im Jahr Menschen aufhielten. Zu diesen Anlässen kamen Menschen von kleinen unabhängigen Gehöften aus der gesamten Region und sogar von noch weiter her zusammen, um an heute unbekannten schamanischen Ritualen teilzunehmen, die eine Art Zyklus bildeten. Die Bräuche gewährleisteten, dass keine Person oder Familie zu viel Reichtum anhäufte. Es wurden sowohl männliche als auch weibliche Tote geehrt. Diese Aktivitäten – einschließlich der Bauarbeiten – waren in hohem Maße koordiniert. Dennoch gibt es kaum Hinweise auf einen zentralen Herrscher.
¬ UNSERE WELT IST EIN EXPERIMENT UND NICHT DIE BESTE ALLER MÖGLICHEN WELTEN. ¬
Das sind unsere Vorfahren. Menschen, die in der Lage waren, ihr Leben, ihr Schaffen und ihre Zeremonien ohne Bürokratie oder einen autoritären Herrscher zu koordinieren. Menschen, deren Leben sich nach den Jahreszeiten richtete und die sich zu heiligen Zeremonien versammelten, um der Natur sowie den guten und den bösen Geistern Ehre zu erweisen.
Diese beiden Beispiele stammen aus David Graebers und David Wengrows Opus Magnum »Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit«, in welchem der Versuch unternommen wird, der Würde, der Intelligenz und der umfassenden Menschlichkeit unserer Vorfahren aus längst vergangenen Zeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Darüber hinaus macht die Archäologin Marylène Patou-Mathis in ihrem erst kürzlich erschienenen Werk »Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann« sehr deutlich, dass die Vorstellung, prähistorische Frauen hätten sich um die Babys gekümmert und die Höhle gekehrt, während die Männer das Sagen hatten, reine Projektion und Stereotype in den Köpfen männlicher Forscher sind. Die Handabdrücke an den Wänden der Höhlen von Lascaux und andernorts sind sowohl männlich als auch weiblich.
Während Graeber and Wengrow sich nach Kräften bemühen herauszustellen, dass diese Menschen der Vorzeit genau wie wir waren, übersehen sie dabei, auf welch bemerkenswerte Weisen sie eben gar nicht wie wir waren. Für viele unserer ältesten Vorfahren scheinen die wichtigsten Aspekte des Gemeinschaftslebens Zeremonien oder Rituale gewesen zu sein – Anlässe, um Schönheit und Hingabe zu schaffen und zu zeigen. Die Unmittelbarkeit und Bedeutsamkeit einer gemeinsamen Verehrung des Geistes liegt uns heutzutage fern.
Die Gegenwart ist nicht das logische und unvermeidliche Ergebnis eines historischen Prozesses, der schließlich zu unserer heutigen globalen Gesellschaft geführt hat. Diese vermeintliche evolutionäre Unvermeidbarkeit lässt uns glauben, dass die Welt notwendigerweise so ist, wie sie ist. Dies hindert uns daran, uns andere Möglichkeiten des menschlichen Miteinanders vorzustellen. Unsere Welt ist, genau wie die Welten vor uns, ein Experiment und nicht die beste aller möglichen Welten. Unsere Aufgabe als Menschen besteht darin, wie uns diese Forschung nahelegt, das Experiment fortzusetzen und nicht das Potenzial unserer eigenen Kreativität und unseres Wunsches, das Leben gemeinsam zu feiern, zu unterschätzen.