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Robert Kegan ist eine Koryphäe der Entwicklungspsychologie. Seit über 40 Jahren hat er in Harvard die innere Entwicklung erforscht und beschrieben, in der wir uns in neue Horizonte des Menschseins begeben können.
evolve: Sie beschäftigen sich seit fünf Jahrzehnten mit den Themen Entwicklung und Transformation und damit, wie Erwachsene ein Bewusstsein ihrer selbst, der Welt um sie herum und füreinander entwickeln. Was macht einen Menschen aus Ihrer Sicht zu einem reifen Menschen?
Robert Kegan: Das ist eine interessante Frage! Für den Entwicklungspsychologen ist »Reife« ein relativer Begriff. Wenn ein Teenager allmählich beginnt, seine Beziehungen – beispielsweise zu einem Elternteil oder einem Freund – über sein kurzfristiges Eigeninteresse zu stellen, erkennen wir, dass dieser junge Mensch »reifer« wird. Das ist dann eine der Ausdrucksformen der dieser Entwicklung zugrunde liegenden mentalen Veränderung, die sich typischerweise in der Adoleszenz vollzieht und die wir als den Übergang vom Instrumental Mind (Souveränes Selbst) zum Socialized Mind (Zwischenmenschliches Selbst) bezeichnen. Wir werden stärker zu einem Teil der Gesellschaft, wenn wir es zulassen, dass die »Gesellschaft« stärker zu einem Teil von uns wird, wir also die Werte und Erwartungen unseres »Umfeldes« (Familie, Religionsgemeinschaft, Kultur insgesamt) verinnerlichen und versuchen, uns selbst daran zu orientieren. Darin zeigt sich der allmähliche Wandel von einer grundsätzlichen Loyalität gegenüber den eigenen Interessen und Bedürfnissen hin zu einer Unterordnung unserer unmittelbaren Eigeninteressen zugunsten der Beziehung oder der Gruppe. Und so entsteht für uns erstmals die Möglichkeit, wirklich Mitglied einer Gemeinschaft oder eines Teams zu werden und unseren Teil eines Versprechens oder einer Beziehung einzuhalten.
Freiheit von Vorgaben
e: Das heißt, dass sich der Maßstab für das, was »Reife« im Erwachsenenalter bedeutet, unterscheidet?
RK: Genau! Zumindest in der heutigen Zeit. In traditionellen Gesellschaften, in denen meist nur eine einzige Definition dessen vorherrscht, wie Erwachsene sich verhalten sollten, finden sich übereinstimmende Vorbilder oder Beispiele für ein erwachsenes Verhalten und dafür, wie man zu leben und sich gleichermaßen als gutes Mitglied seines Stammes zu verhalten hat. In diesen Gesellschaften reicht der Socialized Mind aus, um die Rolle eines Erwachsenen einzunehmen, weil das Vorbild, an dem man sich orientieren soll, eindeutig feststeht.
Aber wir leben natürlich nicht in einer traditionellen Gesellschaft. In unserer Welt wimmelt es von konkurrierenden Ansichten darüber, wer wir sein sollten und wie wir uns verhalten sollten. In unserer Welt erfordert »Reife« – für einen Erwachsenen im Unterschied zu einem Heranwachsenden – zumindest die Fähigkeit, die verschiedenen Erwartungen und Werte, die uns umgeben, zu erkennen und eigenständig beurteilen zu können. Welche Werte und Erwartungen wollen wir übernehmen? Und wenn sie im Widerspruch zueinander stehen: Welchen geben wir den Vorzug? Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es einer umfassenderen Geisteshaltung als dem Zwischenmenschlichen Selbst.
Das erfordert von uns, dass wir ein inneres Bezugssystem oder ein bedeutungsgebendes System entwickeln. Mit anderen Worten: Es befähigt uns, die von außen an uns gerichteten Erwartungen und Anforderungen an eine innere Beurteilungsinstanz heranzutragen. Diese schrittweise Entwicklung vollzieht sich im Erwachsenenleben – allerdings nicht bei allen Erwachsenen – und ist in höchstem Maße befreiend. Denn man macht sich davon los, sich vollständig von der eigenen Kultur formen oder vereinnahmen zu lassen. Man nimmt das »psychologische Heft« in die Hand und ist in der Lage, seine eigene Identität zu entwickeln, statt sich diese von der Gesellschaft vorschreiben zu lassen. Wir bezeichnen diese Entwicklungsstufe als den Self-Authoring Mind (Institutionelles Selbst). Man entwickelt Eigenautorität. Das Verständnis dessen, was Autorität ist, wird stärker nach innen verlagert.
»Wenn wir ein modernes Erwachsensein meistern wollen, müssen wir tiefer in uns selbst und die Welt blicken.«
e: Und das begründet eine völlig andere Stufe der Reife?
RK: Ja, und es ist genau deshalb »reif«, weil es das komplexere »Curriculum« des modernen Erwachsenseins stärker berücksichtigt. Für einen Heranwachsenden ist es »reif«, ein Zwischenmenschliches Selbst zu entwickeln, weil wir, ohne dass es uns bewusst ist, eine Geisteshaltung brauchen, die es uns ermöglicht, ein Stammesmitglied zu werden und uns durch dessen Werte formen zu lassen, um das »Curriculum« der Adoleszenz erfolgreich absolvieren zu können. Aber wenn wir ein modernes Erwachsensein meistern wollen, müssen wir diese Stammesmentalität transzendieren, damit wir tiefer in uns selbst und die Welt blicken können.
Mehr Verantwortung
e: Welches sind die höheren Fähigkeiten dieses Self-Authoring Mind (Institutionelles Selbst) und was kann er, was der Socialized Mind (Zwischenmenschliches Selbst) nicht kann?
RK: Im Kern liegt die grundlegende Gabe des Institutionellen Selbst in der Fähigkeit, ein System zu konstruieren, Abstand zu nehmen von der »Gegebenheit« sozialer und psychologischer Vereinbarungen – dass es »nun einmal so ist« – und eine neue Art von Verantwortung dafür zu übernehmen, wie sich die Dinge im Innen und im Außen entwickeln. Wenn wir zum Beispiel jemandem sein Menschsein nicht nur deshalb zugestehen, weil wir blutsverwandt mit ihm sind oder uns aus Zuneigung oder wahrgenommener Gemeinsamkeit verbunden fühlen, transzendieren wir den Tribalismus als Leitprinzip der sozialen Realität und kreieren eine soziale »Institution«, die sich an neu hinzukommenden Kategorien wie »Menschenrechte« oder »Recht« orientiert. Ähnliches geschieht im Innern, innerpsychisch. Wenn du erkennst, dass sich beispielsweise deine Gedanken und Gefühle nicht einfach ganz von selbst »zeigen« oder von anderen erzeugt werden (»Du machst mich ganz verrückt.«), wird dir klar, dass du selbst der Schöpfer deiner Gefühle bist. Und dann beginnst du, mehr Verantwortung für dein inneres System zu übernehmen. Das ist ein großer Entwicklungssprung nach vorne in der menschlichen Reifung.
e: Und dennoch scheint es so zu sein, dass selbst Menschen mit einer höher entwickelten Perspektive, die Sie als Self-Authoring Mind bezeichnen, nicht wissen, welche Bedeutung sie der aktuellen globalen Situation, mit der wir konfrontiert sind, zuschreiben sollen. Gibt es einen Entwicklungsschritt, der über das Institutionelle Selbst hinausgeht, in unsere Zeit passt und sowohl möglich als auch erreichbar ist?
RK: Das Institutionelle Selbst verfügt über enorme Fähigkeiten und stellt einen beträchtlichen Fortschritt gegenüber dem Zwischenmenschlichen Selbst dar. Aber es stimmt, auch der Self-Authoring Mind ist begrenzt. Solchen Grenzen begegnen wir, wenn wir die größten Probleme der heutigen Zeit betrachten, wie etwa die Bedrohungen der freiheitlichen Demokratie, Globalisierungsfragen oder ökologische Nachhaltigkeit. All diese Fragen entlarven die Grenzen des »Systems« als Grundprinzip von Bedeutungsgebung.
Die nächste Reifestufe des Self-Transforming Mind (Überindividuelles Selbst) transzendiert jede gegebene Instanz eines Systems, analysiert sie, stellt sie infrage. Dabei gibt man nicht seine Vorliebe für eine bestimmte Ideologie oder Partei auf, aber sie ist dann nicht mehr endgültig. Die größte Zuneigung gilt dann einer umfassenderen und komplexeren Verbindung der Systeme untereinander – dem Prozess unserer eigenen Evolution. Und so leidenschaftlich man dann auch seine eigenen ideologischen Vorlieben verfolgt, ist man doch bescheiden genug zu erkennen, dass es auch hier Verwerfungen und Beschränkungen gibt. Die größere Loyalität gilt dann dem ständigen Bestreben, die Realität genauer zu erforschen, statt sich hartnäckig an die eigene gegenwärtige Interpretation dieser Realität zu klammern. Und das wiederum beinhaltet die Fähigkeit, sich der Unvermeidlichkeit der eigenen Grenzen und der Grenzen jeder konkreten Lösung zu stellen.
Das äußert sich auf jeder Ebene. Auf der Makroebene bedeutet es, dass konstitutionelle Demokratien erkennen, dass sie nie alles richtig machen werden und deshalb ein zusätzliches Metasystem benötigen, welches die Grenzen aktueller Vereinbarungen reflektieren kann. Das hat auch Auswirkungen auf der persönlichsten und intimsten Ebene, nämlich auf etwas so Sensibles wie unsere Fähigkeit, in einer Liebesbeziehung die Kontrolle aufzugeben. Zu erkennen, dass diese Beziehung co-konstruktiv, also gemeinsam gestaltet sein muss und man sich selbst und der Partner auf Grenzen sowie die aktuelle Entwicklungsstufe und die Struktur des Selbst einlassen muss.
Dem Überindividuellen Selbst stehen wesentlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung. Und das hängt mit einem grundlegenden Prinzip der Psychologie zusammen: Was du nicht erkennst, kannst du nicht ändern. Jede Bewusstseinsstufe ermöglicht uns, mehr zu erkennen, wörtlich: wiederzuerkennen, mehr zu wissen, mehr zu sehen. Und wer mehr sieht, kann gegenwärtiger sein und blinde Flecken oder Verzerrungen in seiner gegenwärtigen Bedeutungsgebung korrigieren.
Geburtsschmerzen
e: Etwas, das Sie auch erforschen, ist die Veränderungsimmunität. Haben Sie den Eindruck, dass die Krisen in unseren Gesellschaften etwas mit dieser Veränderungsimmunität zu tun haben? Tatsächlich werden uns ja höhere Komplexitäten, höhere Formen der Bedeutungsgebung abverlangt. Und dennoch scheinen wir als Reaktion darauf eine eher regressive Richtung einzuschlagen.
RK: Das Problem ist, dass man über die Evolution des Bewusstseins oder die sukzessive Entwicklung komplexer werdender Möglichkeiten in der Bedeutungsgebung nur »von außen« sprechen kann. Eine Skizzierung der Konturen dieser verschiedenen Entwicklungsstufen ist sinnvoll, aber ergibt letztendlich kein vollständiges Bild von Entwicklung. Denn sie lässt die innere Erfahrung der Entwicklung außer Acht. Wir nehmen keine Rundumperspektive ein, sondern setzen eine willkürliche Brille auf, durch die wir auf die Welt schauen und die wir einfach gegen eine andere eintauschen können. Unsere heutige Art und Weise der Bedeutungsgebung ist nicht nur eine von unzähligen Wegen zur Sinnfindung für uns. Sie ist momentan die fundamentale Weise, uns selbst und unsere Beziehung zur Welt zu verstehen.
»Die Probleme der heutigen Zeit entlarven die Grenzen unseres bestehenden Systems.«
Wenn wir »von außen« auf Entwicklung schauen, wird leicht verständlich, dass wir »Reifung« als eine Art »Gewinn« betrachten. In jeder neuen Entwicklungsstufe sind wir in der Lage, mehr zu sehen, unter mehr Möglichkeiten auszuwählen, mehr zu tun. Aber »von innen« erlebt, erkennen wir, dass jeder Übergang zu einer neuen Reifungsstufe zu allererst einen außerordentlichen Verlust bedeutet. Wenn ich mich über den Instrumental Mind hinausbewegen will, muss ich die Orientierung an meine eigenen Vorlieben aufgeben. Um mich über den Socialized Mind hinauszubewegen, muss ich meine ultimative Bindung an meinen Stamm hinter mir lassen. Um mich über den Self-Authoring Mind hinauszubewegen, muss ich meine Anhaftung an der Ganzheit oder Vollständigkeit des psychischen oder sozialen Systems aufgeben, mit dem ich gegenwärtig identifiziert bin.
Der Prozess der Transformation ist also wirkliche Arbeit. Er fühlt sich wie eine Geburt an und ist mit Geburtsschmerzen verbunden. Die Entwicklung einer ganz neuen Art der Bedeutungsgebung kann sich anfühlen, als würde man sich selbst aufreißen. Es kann sich anfühlen, als ob man etwas sehr Wertvolles verliert. Unter guten Bedingungen zeigt sich auch die freudigere Seite, wenn man die größere Welt entdeckt. Und selbst wenn der Prozess schwierig gewesen sein mag, erlebt man schließlich das Hochgefühl und das Neuwerden in Form eines größeren und besseren Ausdrucks seiner selbst.
Wenn aber – unter weniger guten Bedingungen – unser Erleben eines großen drohenden Verlustes nicht ernstgenommen wird, entwickeln wir möglicherweise Widerstände und der Geburtsprozess gerät bedrohlich ins Stocken. Während die Entwicklung des Socialized Mind im Jugendalter als Erfolg zu betrachten ist, stellt diese Entwicklungsstufe im Erwachsensein eine Begrenzung dar. Und doch lassen unsere Forschungsergebnisse darauf schließen, dass ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung auf dieser Reifestufe steht. Wie werden Menschen auf der Stufe des Socialized Mind die starken Strömungen in Richtung auf Globalisierung, »Diversität« und Integration des Andersseins erleben? Solche Strömungen können als unheilvolle, gefährliche Bedrohungen für den Tribalismus wahrgenommen werden. Und das kann den Wunsch wecken, Mauern zu errichten – nicht nur, um bestimmte »andere« auszuschließen, sondern auch, um mich vor dem zu schützen, was sich wie ein unwiederbringlicher Verlust anfühlt.
Es ist leicht, diejenigen zu kritisieren, die aus unserer Sicht offensichtlich hartnäckig auf der falschen Seite der Geschichte, auf der falschen Seite der Zukunft stehen bleiben. Aber vielleicht sträuben sie sich aus Angst um ihr Leben. Besser wäre es wohl, Menschen nicht nur zu einer komplexeren Art der Bedeutungsgebung zu ermutigen, sondern auch den Verlust, ja selbst die Wut, den Schrecken und die Verwüstung zu verstehen, die genau diese Einladung hervorruft. Andernfalls werden solche Appelle eher zu einer wachsenden Spaltung führen, wie wir sie in den liberalen Demokratien und populistischen Bewegungen überall in der Welt beobachten können.
Alle von meinen Kollegen und mir entwickelten Praktiken, mit denen sich solche Dynamiken sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene sichtbar machen lassen – heute bekannt als die Arbeit mit der »Veränderungsimmunität« – sind wirkungsvolle Möglichkeiten, um an beiden Seiten dieses Prozesses gleichzeitig zu arbeiten: der Anerkennung der Widerstände gegenüber notwendigem Wachstum und Wandel und der Einladung zu Praktiken und Prozessen, die uns zu solchen Veränderungen befähigen.
Das Gespräch führte Thomas Steininger für die Ausgabe 26/2020 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org
Author:
Dr. Thomas Steininger
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