Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
November 7, 2019
Ulrike Guérot ist bekannt für ihren Einsatz für die Idee eines Europas der Regionen. Wie würde solch eine Betonung des regionalen unser Heimatgefühl verändern? In diesem tief greifenden Interview öffnet die Politikwissenschaftlerin unser Verständnis von Heimat und fragt nach dem Potenzial globaler Bürgerrechte, einem globalen Verbund von Heimaten und der Rolle einer spirituellen Dimension in den Debatten um Heimat.
evolve: Was ist Ihrer Meinung nach die Bedeutung und die Signifikanz von Heimat im momentanen politischen Klima?
Ulrike Guérot: Einer der wichtigsten Punkte ist für mich, dass wir den Heimatbegriff von der Nation entkoppeln müssen. Es scheint mir sehr problematisch, wenn heute ein überhöhter Begriff der Nation an einen ebenfalls überhöhten Begriff von Heimat gekoppelt wird. Denn dann bekommt Heimat einen Charakter, der immer nur schön und irgendwie nostalgisch ist. Man will die Dinge so erhalten, wie sie schon immer gewesen sind.
Wogegen ich mich wehre, ist die durchgehend positive Konnotierung von Heimat im Diskurs. Man kann auch eine schreckliche Heimat oder ein ungutes Elternhaus haben, von denen man wegläuft, um ein besseres Leben zu finden. Denn wenn man sagt: »Wir wollen die Heimat schützen«, dann gilt das nur für uns, es gilt immer nur für Menschen, denen es gut geht. Es gilt z.B. nicht für die Geflüchteten, die wir hier nicht heimisch werden lassen, während deren Heimat in Syrien gerade zerstört wird. Wir sagen: »Wir haben hier eine Heimat und ein Recht auf Heimat. Wir wollen, dass diese Heimat gleichsam unversehrt bleibt und deswegen wollen wir die Geflüchteten hier nicht haben.« Indem wir so auf Heimat pochen und sie idealisieren, verwehren wir aber anderen die Heimat. Nicht nur tragen wir de facto zur Zerstörung von vielen Heimaten bei, indem wir durch unsere Waffenverkäufe oder Agrarpolitik Fluchtursachen produzieren. Wir sprechen Geflüchteten das Desiderat einer Heimat ab. Dabei sollten wir alles dafür tun, dass sich die Menschen in Äthiopien, im Sudan oder wo auch immer eine lebenswerte Heimat schaffen können, sonst bleibt unser Heimat-Diskurs heuchlerisch.
e: Was meinen Sie, wenn Sie finden, dass der Heimatbegriff zu positiv gesehen wird? Können Sie das noch etwas erläutern?
UG: Heimat wird vor allen Dingen in rechtspopulistischen Diskursen eigentlich nur identitär verwendet: »Ich komme aus Sachsen und meine Heimat hat ein Recht auf Unversehrtheit. Sachsen muss so bleiben, wie es ist, weil darin meine Identität liegt und wer anderes darf hier nicht hin.« Das ist, etwas vereinfacht, das rechtspopulistische Verständnis von Heimat. Insofern hat es etwas Rückwärtsgewandtes bis hin zur Nostalgie. Und es hat etwas Ausgrenzendes: Wer anderes darf hier nicht hin.
Beides ist falsch, denn die Vergangenheit kann man nicht bewahren. Und Ausgrenzen ist auch nicht so einfach. Wenn wir uns an Kants »Zum ewigen Frieden« orientieren, ist es moralisch oder ethisch nicht so einfach, letzte Argumente dafür zu finden, warum ich an einem gegebenen Ort bin und andere da nicht sein dürfen. Man hat sich ja seine eigene Heimat nicht ausgesucht. Hat man also das Recht auf Unversehrtheit der eigenen Heimat und ein Recht darauf, dass andere da nicht sein dürfen? Kant spricht davon, dass im Prinzip jeder Mensch auf Erden das Recht hat, überall hingehen zu dürfen.
In der positiven Konnotierung von Heimat, die immer ein bisschen mitschwingt, wenn wir heute über Heimat reden, hat man sozusagen die Filme mit Heinz Rühmann aus den 1950er-Jahren mit irgendwelchen Bergidyllen vor Augen. Der deutsche Heimatfilm, der Hirsch überm Sofa, die Kaffeekanne – das schwingt immer mit und damit auch ein Hauch von Unberührtheit. Aber Heimat kann auch etwas Schreckliches sein. Es gibt privates Unglück, weshalb man sich danach sehnt, aus der Heimat weglaufen zu können. Oder die Heimat wird zerstört. Die Heimat determiniert jedenfalls nicht die Identität. Meine Mutter kommt zum Beispiel aus Oppeln und ist 1945 geflüchtet; sie hat ihre geographische Heimat verloren und war ein Flüchtling. Jetzt ist ihre neue emotionale und soziale Heimat in Grevenbroich am Niederrhein.
Wir müssen den Heimatbegriff von der Nation entkoppeln.
e: Wie denken Sie, kann Heimat heute anders gedacht und gelebt werden?
UG: Ich glaube, dass man den Begriff der Heimat dreifach auffächern muss. Es gibt immer eine physische Heimat, den Ort, wo man geboren wurde. Dann gibt es so etwas wie eine geistige Heimat, also wo ich mich intellektuell verorte: Welche Texte lese ich? Welchen Philosophien hänge ich an, in welchem Kulturraum befinde ich mich? Welche Musik höre ich? Und dann gibt es natürlich noch eine Art seelische Heimat: Wo verorte ich mein Ich, meine Seele, meine emotionale Geborgenheit? Ist sie religiös gebunden oder nicht?
Insofern ist Heimat etwas, das man wie die Dreiheit KörperGeist-Seele auffächern kann. Dabei kann es sein, dass ich physisch – aus welchen Gründen auch immer – aus meiner Heimat fliehen muss, aber an einem anderen Ort eine intellektuelle und seelische oder soziale Heimat finde. Wir machen einen großen Fehler, wenn wir diese Vielschichtigkeit des Begriffes Heimat nicht sehen. Ich möchte niemandem seine Heimat absprechen und auch nicht die Notwendigkeit, eine Heimat zu haben, also zu wissen, wo man geboren ist. Aber Heimat ist kein Ding, sondern ein Zustand. Letztendlich kann ich Heimat immer nur dort finden, wo ich bin, wo ich bei mir bin, wo ich mich gerade glücklich fühle, wo ich in der Verantwortung stehe, mir meine Heimat zu schaffen. Das ist etwas ganz anderes als zu sagen: »Meine Heimat ist dieses Land und diese Nation, und darauf habe ich ein einen Anspruch.«
Wenn jemandem das Unglück widerfährt, dass er seine physische Heimat nicht behalten kann (wie gesagt: Manche geben sie auch freiwillig auf und zwar gerne!), ist es die Aufgabe, den Heimatbegriff auszudifferenzieren und sich dadurch eine neue geistige, soziale und seelische Heimat zu erwerben. Dieser Erwerb einer neuen Heimat ist dann ein Akt der eigenen Selbstverortung. Das ist ein seelischer, ein intellektueller Akt, und der geographische Ort des Seins wird dann weniger wichtig. Irgendwo muss jeder leben, aber das ist heute für immer mehr Menschen sehr fließend. Ich zum Beispiel habe in Paris, Berlin, Wien, Brüssel und an anderen Orten gelebt. Viele Menschen leben an mehreren Orten. Insofern ist der Akt der »heimatlichen Selbstverortung« für viele Leute zunehmend »ent-territorialisiert«. Deswegen wird der Heimatbegriff in der Ausdifferenzierung einer seelischen, geistigen und sozialen Heimat immer wichtiger.
Das Lokale wird global und das Globale wird lokal.
e: Sie engagieren sich sehr für die Idee eines Europas der Regionen. Wie könnte solch ein Zusammenschluss von Regionen in Europa die Bedeutung von Heimat verändern?
UG: Ganz zentral ist der Prozess der »Glocalization«, den wir gerade erleben: Das Lokale wird global und das Globale wird lokal. Prozesse der Globalisierung wie der globale Handel oder auch der Brexit wirken auf das eigene Leben immer stärker ein. Das merkt man überall, z.B. in den kleinen Dörfern, die abgehängt werden, weil die Bahnlinien nur noch von Mailand nach München führen und nicht mehr in jedem Dorf nach dem Brenner halten. Wir merken aber auch immer mehr, dass das Lokale das Globale determiniert. Lokale Bewegungen wie die Demokratiebewegung in Hongkong, eine Initiative für autofreie Sonntage in Paris und London oder die Verhinderung der Privatisierung der Wasserversorgung und die Bewahrung öffentlicher Krankenhäuser durch Podemos in Barcelona können im Kleinen die Bedeutungszusammenhänge der Globalisierung verändern.
Aber durch die unheilvolle Verknüpfung von Heimat mit Nation verbinden wir heute im Diskurs das reale Lebensumfeld mit einem politischen Überbau und das ist tendenziell gefährlich. Denn alles, was nicht wirklich soziale Kontakte sind, die man täglich erfährt, ist abstrakt. Ganz egal, ob Region, Nation oder Europa: Man muss trennen zwischen der haptischen Alltagswahrnehmung einer Heimat, seinem Lebensumfeld und dem politischen Überbau. Nach heutigen Zahlen bewegt sich die Mehrheit der Bürger*innen im Alltag in einem Radius von +/- 50 km zwischen Familie, Arbeit, Freunden und Freizeit. Das ist das reale Lebensumfeld. Vor 100 Jahren waren das nur 10 oder 15 km.
Der politische Überbau hingegen ist abstrakt – ganz egal, ob der Überbau die Region, die Nation oder Europa ist. Problematisch sind immer die Zeiten, in denen viele Leute das Bedürfnis haben, ihr Lebensumfeld mit dem politischen Überbau zu verknüpfen. Das passiert nachweislich immer in Unruhezeiten. In ruhigen Zeiten denkt man nicht darüber nach, wer sonst noch zum eigenen Überbau, zum eigenen Land dazugehört und von wem man sich abgrenzt. In der Bundesrepublik von 1949 bis 1989 ist kaum jemand morgens aufgewacht und hat sich überlegt, was denn jetzt die Bundesrepublik ist und wer dazugehört. Dann haben wir den politischen Überbau geändert, indem wir Deutschland geeint haben. Heute wollen die Schotten ihren politischen Überbau ändern: raus aus Großbritannien und rein in die EU. Die Heimat bleibt dabei Schottland. Ähnlich den Katalanen, die den spanischen Staatsverband verlassen, aber in Europa bleiben wollen. Auch dies wäre eine Änderung des politischen Überbaus, die Heimat aber bleibt Katalonien. Die Tatsache, dass wir heute überall wieder darüber nachdenken, wie der Heimatbegriff an eine Nation gekoppelt werden kann, zeugt von großer politischer Unruhe und die registrieren wir ja allerorten in Europa. Der politische Überbau kann sich immer ändern, das ist der Gang der Geschichte. Die Heimat bleibt. Meine Oma wurde 1912 noch ins deutsche Kaiserreich hineingeboren. Der politische Überbau hat sich in ihrem Leben viermal geändert: Nach dem Kaiserreich kam die Weimarer Republik, dann kamen die Nazis, dann die Bundesrepublik. Aber was immer auch der politische Überbau war: Meine Oma lebte immer im gleichen Dorf, in Grevenbroich im Rheinland.
e: Denken Sie, dass ein Besinnen auf die regionalen Bezüge oder eine Struktur in Europa, die den Regionen mehr Unabhängigkeit oder mehr gestalterischen Freiraum gibt, zu einer neuen lokalen Verwurzelung oder Zugehörigkeit führt? Im Sinne dieser Verbindung von lokal und global? Diese historische Situation im rheinischen Dorf ist ja doch etwas anders als heute, wo durch die Informationstechnologie jeder informiert ist, was in der Welt passiert. Wie würden Sie diesen regionalen Bezug heute im Kontext von Heimat sehen?
UG: Ich will jedenfalls nicht die Region zur neuen Nation machen. Es kann nicht darum gehen, dass man jetzt aus Regionen – z.B. Schottland oder Katalonien – neue Nationen macht, sondern es geht darum, wie wir für all die europäischen Regionen oder Heimaten ein gemeinsames europäisches Dach bauen. Es geht um eine Art Heimatverbundsystem. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass wir auch immer mehr von Städten und Städtenetzwerken sprechen – Städten, die sich verknüpfen, also einem Städteverbund. Die Stadt hatte auch schon im Mittelalter eine solch herausragende Bedeutung, wenn man z.B. an die Republik von Venedig, die Republik von Genua oder die freien Hansestädte wie Hamburg denkt. Heute wird die Stadt immer mehr zum eigentlichen Identifikationsort, also zur Heimat und zugleich zum globalen Akteur.
Heimat ist etwas, das man wie die Dreiheit Körper-Geist-Seele auffächern kann.
Dieses Städtenetzwerk wird u. a. durch die Digitalisierung verstärkt. Das gilt übrigens für China genauso wie für Europa oder Amerika. 300 Millionen Chinesen wohnen inzwischen in Megastädten, die alle über 5 Millionen Einwohner haben. Dieses Netzwerk aus Städten und die Vernetzung durch das Internet führen dazu, dass wir, das wäre meine Hypothese, perspektivisch den politischen Überbau, also den Staat – egal ob Region, Nation oder auch Europa – abschaffen. Marx, Hegel oder auch Nietzsche hätten ihre wahre Freude, weil sie eigentlich schon vor 150 Jahren vorausgesehen haben, dass der Markt und der entgrenzte Kapitalismus den Staat zerstören werden.
Denn was ist denn ein Staat, wenn 26 Erdenbürger so viel Kapital haben, dass ihnen die halbe Welt gehört? Und wenn es Menschen gibt, die mehr Geld haben als ganze Staaten? Sind diese Menschen Staaten oder gehören ihnen Staaten? Und was soll in so einer Welt noch ein Heimatbegriff? Was soll die Idee von Heimatschutz, wenn es Unternehmen wie Facebook gibt, die die Kommunikation mit ihren Klienten besser organisieren und kontrollieren können, als jeder Staat den Kontakt zu seinen Bürgern? Da kann man schon mal die Frage stellen: Was ist denn Staatlichkeit heute noch? Und was soll Heimat dann sein? Wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen es um Städte herum noch Stadtmauern gibt, wo man im Zweifelsfall die Stadttore schließen und die Zugbrücke heraufziehen kann, damit niemand hereinkommt.
Eine gängige Definition von Staatlichkeit war, dass der Staat Steuern erheben kann. Aber in Zeiten von Steuerflucht – Stichwort Panama-Papers oder Paradise-Papers – ist das auch obsolet. Die Steuerungerechtigkeit liegt darin, dass man heute nur noch die kleinen Leute besteuern kann, also die, die buchstäblich nicht weglaufen können und eben lokal sind, die Taxi fahren oder eine Backstube haben. Aber die Global Player mit ihren Briefkastenfirmen können wir nicht mehr kontrollieren. Die sind schon komplett entstaatlicht. In diesem Sinne wird der politische Überbau – also Nationen oder Staaten – gerade »zerstört« durch Digitalisierung, Verstädterung, Städtenetzwerke und die Entkernung von Staatlichkeit durch den globalen Kapitalismus.
Deshalb müssen wir letztlich über globale Verbundsysteme nachdenken, die horizontal organisiert sind, nicht vertikal. Also nicht mehr die Punkte auf der Landkarte, die wir vertikal von unten nach oben einem bestimmten Staat zuordnen, der klare Grenzen hat, sondern es wird darum gehen, horizontal »Heimatpunkte« auf der Erde zu verknüpfen. Das Internet hilft uns, ein solches Verbundsystem von Heimaten zu schaffen. Wo will man in diesem globalen Verbundsystem eine Grenze festmachen? Die einzige wirkliche Grenze, die wir heute im Sinne der Staatsbürgerschaft festmachen können, besteht darin, wo wir besteuert werden, und auch die weicht zunehmend auf.
e: Was bedeutet dieser Verlust eines politischen Überbaus für das Selbstverständnis der Menschen und das Verständnis von Heimat?
UG: Es geht hier ganz zentral darum, dass der Begriff der Heimat eben auch nichts mit dem eines Staatsbürgers zu tun hat und die einstige Kongruenz zwischen beiden zunehmend verloren geht. Leute mit unterschiedlichen Heimaten können die gleiche Staatsbürgerschaft haben. In rechtlicher Hinsicht ist darum die Staatsbürgschaft viel wichtiger als die Heimat: Noch gewährt sie Rechte, die Heimat hingegen bietet nur Nostalgie. Das ist ja genau die Diskussion um die Geflüchteten: Bekommen sie jetzt einen Pass oder nur temporären Schutz? Insofern ist die größte Frage im Moment, wie wir perspektivisch Menschenrechte und Bürgerrechte miteinander verknüpfen. Die Geflüchteten haben nach der Genfer Flüchtlingskonvention das Menschenrecht auf Unterkunft und Nahrung, aber keine Bürgerrechte. Wenn sie Bürgerrechte bekommen wollen, müssen sie einen Asylantrag stellen. Das Problem mit den Bürgerrechten ist, dass nur Staaten Bürgerrechte garantieren können. Ein Heimatbegriff hilft hier herzlich wenig. Insofern ist die Frage nicht: Wo ist meine Heimat, oder: Was ist meine Heimat? Sondern: Wer ist eigentlich europäischer Bürger? Nur die Menschen, die hier geboren wurden, die, die schon hier auf dem europäischen Kontinent sind? Die Menschen, die einem europäischen Staat zugehörig sind? Oder perspektivisch auch solche, die dazukommen, wenn sie sich Europa zur neuen Heimat machen?
Wir reden in Europa ja immer vom »europäischen Bürger« (»European Citizen«) und meinen damit oft, dass wir die gleichen Werte teilen. Aber Bürger zu sein heißt nicht, die gleichen Werte zu teilen, sondern die gleichen Rechte zu haben. Ich teile mit den Leuten von Pegida nicht die gleichen Werte. Aber solange sie Bundesbürger sind, teile ich mit ihnen die gleichen Rechte. Wir haben auch nicht die gleiche Heimat, denn ich komme aus Nordrhein-Westfalen und Pegida ist eher in Sachsen stark. Sachsen ist nicht meine Heimat, gehört aber heute zum bundesdeutschen Staatsverband. Deswegen ist es eine ganz zentrale Frage, wo man Bürgerrechte genießt. Diese Bürgerrechte könnte man aber, das ist meine These, auch vom heutigen Nationalstaat abkoppeln, und auf eine europäische oder gar globale Ebene verlagern. Perspektivisch sollte das sogar das politische Ziel der Menschheit sein, nämlich dass alle Menschen die gleichen globalen Bürgerrechte genießen. Es wäre letztlich die Verwirklichung des ersten Satzes der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: »Alle Menschen sind geboren frei und gleich in ihren Rechten.«
Durch den Sog der Globalisierung sind wir im Grunde bisher nur globale Konsumenten und noch nicht globale Bürger: Wir tragen Nike-Turnschuhe, trinken Starbucks-Kaffee, kaufen bei Amazon, sind auf Facebook. Wir wollen reisen, wir wollen fliegen, wir wollen globale Freizügigkeit, wir wollen globale Produkte und z.B. Superfood Maca-Pulver aus Lateinamerika in unserem Müsli. Insofern sind wir globale Konsumenten geworden – was übrigens ein Teil der Klimaproblematik ist. Auch das hat mit Heimat herzlich wenig zu tun, im Gegenteil steht dahinter fast der Anspruch, dass es eine Art »global genormte Konsum-Heimat« inzwischen überall gibt: Einkaufszentren, Hotels, Cafés etc., überall gibt es die gleichen Marken und Geschmäcker, die europäischen Innenstädte sind inzwischen fast beliebig austauschbar. Die Normierung wird de facto zur Heimat und regionale Produkte wirken fast befremdend oder sind nicht vertrauenswürdig. Lieber Starbucks als ein lokales Café. Aber sind wir auch globale Bürger? Wir entscheiden ja nichts zusammen. Die Globalisierung produziert also globale Konsumenten, die keine globalen Bürger sind. Welchem Staat sollte sich dieser globale Bürger denn zugehörig fühlen – es sei denn, wir gründen eine globale Republik und nehmen die europäische Republik als Zwischenschritt?
Nehmen wir als Beispiel Bolsonaro und den Regenwald in Brasilien. Gehört der Regenwald Brasilien oder uns allen, weil wir ihn alle brauchen? Darf Bolsonaro diesen Wald einfach abholzen? Oder ist er nicht vielmehr Teil der globalen Allmende? Wir können darüber aber nicht zusammen diskutieren, weil wir keine globalen Bürger sind. Wir sind noch nicht einmal Bürger einer Europäischen Republik, geschweige denn Weltbürger einer globalen Republik. Nur dann könnte in einem Weltparlament verhandelt werden, ob der Regenwald abgeholzt oder unter Naturschutz gestellt wird. Bolsonaro sagt sich: ›Der Regenwald liegt auf meinem Territorium und ich holze ihn ab, weil ich meine Brasilianer ernähren muss und dafür brauche ich brasilianische Firmen, die prosperieren.‹ Als globale Konsumenten spielen wir mit und kaufen Produkte, die durch Abholzung möglich werden, z.B. Holz oder Palmöl; als globale Bürger müssten wir Brasilien dafür bezahlen, dass der Regenwald nicht abgeholzt wird. Die Globalisierung schafft also eine Konsumentenunion, aber keinen politischen Überbau dazu, ganz egal, ob das ein regionaler, ein nationaler, ein europäischer oder ein globaler Überbau wäre.
Der politische Überbau kann sich ändern, die Heimat bleibt.
e: Wir bräuchten eigentlich politische Entscheidungsformen, die diese Bürgerrechte viel umfassender organisieren oder ermöglichen, als es in nationalen Aufteilungen und Staatlichkeiten der Fall ist.
UG: Ja, wir haben auf globaler Ebene eine kolossale Konsumenten-Bürger-Spaltung. Wir wollen globale Konsumenten sein, müssen aber die politische Ordnung, in die wir das einbinden, noch finden. Wir müssen sie allein schon deswegen finden, weil wir gerade eine globale Klimadebatte führen, die durch Fridays for Future und Extinction Rebellion befeuert wird. Denn wenn die globale Ordnung nur darin besteht, dass jeder alles konsumieren kann, so wie er gerade will oder wie er gerade Geld hat, dann ist die Frage, wohin das führen wird. Um ökologisch umsteuern zu können, stehen wir vor herausfordernden Fragen: Reglementieren wir das Fliegen? Darf jeder nur noch einmal im Jahr fliegen? Wenn ja, wer verordnet das? Wer setzt das durch? Wer hat das Gewaltmonopol? Oder wer darf wie viel essen? Dürfen die einen Schweinefleisch essen, das zur Herstellung viermal so viel Ackerfläche beansprucht wie Getreide, während die anderen nur Hafer essen? Das sind alles Fragen, die diskutiert werden müssen. Sie haben alle mit dem Ringen um eine globale politische Ordnung zu tun, die die Globalisierung als globalen Consumertrend einbettet. Und wir haben die Antwort darauf noch nicht. Mit Heimat im üblichen Sinn hat das alles jedenfalls überhaupt nichts mehr zu tun.
Wir haben einfach 30 Jahre lang den (Neo-)Liberalismus so verstanden, dass jeder alles machen kann. Anstatt mit Kant zu sagen: »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.« Wir müssen den Freiheitsbegriff umcodieren und von einer »Freiheit von« zu einer »Freiheit zu« kommen. Das wäre die Denkbewegung in Richtung einer globalen Allmende, die da lautet: Wenn wir hier mit sieben Milliarden und demnächst neun Milliarden Menschen auf diesem Planeten überleben wollen, dann können wir nicht alles erlauben. Dann muss wahrscheinlich das Fliegen kontingentiert oder das Essen rationiert werden. Die Frage ist: Können wir das überhaupt denken? Können wir das normativ akzeptieren? Oder sagen wir: »Nein, dann bin ich in meiner Freiheit eingeschränkt.« Werden wir Veganer und sind trotzdem glücklich, Hauptsache, wir erhalten die natürlichen Lebensgrundlagen? Oder sagen wir: »Ich will jeden Tag mein Steak.« Das sind ja normative Setzungen. Darüber diskutieren wir gerade in unterschiedlicher Form. Aber die eigentliche Frage ist: Selbst wenn wir die normative Setzung als Weltgemeinschaft hinbekommen, wo ist das politische System, das diese Vorhaben, diese (Selbst-)Beschränkung umsetzen bzw. durchsetzen kann?
e: Die eine Seite ist diese normative Setzung und die politische Struktur, die das auch durchsetzen kann. Gleichzeitig braucht es ja wahrscheinlich von den Menschen auch einen Bewusstseinsbildungsprozess, vielleicht im Sinne des eigenen Beheimatet-Seins in einem globalen Kontext. Wie würden Sie diesen Aspekt des Prozesses sehen?
UG: Sie haben natürlich völlig Recht. Die Frage ist, wie man ein Bewusstsein dafür schaffen kann, dass wir alle einer Weltgemeinschaft angehören, dass die Welt gleichsam zur Heimat wird, die man schützen muss. Und das dürfte zentral davon abhängen, welches Menschenbild wir haben bzw. entwickeln – vor allem in einem Zeitalter, in dem die Mensch-Maschine-Beziehung zur zentralen Herausforderung wird. Kann man der zunehmenden, digitalen Normierung entrinnen? Kann man Arbeit an sich selbst vornehmen, z. B. Verzicht oder Einschränkung positiv konnotieren? Und: Schafft man das ohne eine spirituelle Dimension? Wieso sollte man verzichten, wenn andere es nicht tun? Über lange Jahrhunderte hatten wir eine lebendige spirituelle Dimension eigentlich überall in der Welt – das Gefühl, dass da noch irgendetwas mehr ist als das Hier. Ich bin nicht besonders motiviert, den monotheistischen Religionen das Wort zu reden, sie sind in vielerlei Hinsicht problematisch. Aber durch das Christentum – und ich rede jetzt nicht von der Katholischen Kirche und dem Missbrauch – gab es bis vor Kurzem in Europa eine spirituelle Grundierung, die uns einfach nur gesagt hat: »Das Leben ist endlich, du musst hier nicht alles haben, es kommt etwas danach und das ist wichtiger. Du solltest die Welt auch für die nächste Generation bewahren, und du sollst nicht horten.« Werte wie Einfachheit oder Schlichtheit, hatten eine positive Konnotierung und es gab Primärtugenden wie z.B. Sparsamkeit oder Entsagen. Der Wintermantel hat schon mal zehn Jahre gehalten und man hat weder den Wert, noch die Schönheit eines Menschen so sehr von seinem Äußeren bzw. von Marken abhängig gemacht. Auch die Augenfalte durfte sein. Das ist in Botox-Zeiten alles vorbei. Und auch hier gibt es eine internationale Normierung, die mit Heimat nichts mehr zu tun hat: Die Marke wird zur Heimat: H&M, Chanel oder Diesel. »Wo komme ich her?« und »Wie will ich sein?« heißt zunehmend: »Wie will ich aussehen?« oder auch: »Wie muss ich aussehen?«
Wenn wir über Europa sprechen – und ich weiß, damit mache ich mich jetzt angreifbar – dann konnte Stefan Zweig noch in jedem dritten Satz schreiben, dass Europa eine spirituelle Dimension braucht, dass allein eine Wirtschaftsunion Europa noch lange nicht ausmacht. Wenn man heute sagt: »Wir brauchen eine spirituelle Dimension für Europa (oder gar die Welt)«, wird man in Zeiten der vermeintlichen Verwissenschaftlichung von Politik leicht in die Esoterikecke gestellt. Ich halte es für problematisch, wenn wir überhaupt keine spirituelle Dimension mehr thematisieren können, ohne dass man gleich in die esoterische Ecke gestellt wird. Denn wahrscheinlich wird die spirituelle Dimension, also die prinzipielle Fähigkeit des Menschen zu glauben – oder zumindest glauben zu können – und nicht nur zu wissen, der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Android, Mensch und Roboter werden.
Wir sollten also heute neu darüber nachdenken, ob wir nur Konsument oder auch Bürger sein wollen, anstatt so viel über Heimat nachzusinnen. Wenn wir globale Bürger werden wollen, wie organisieren wir uns dann politisch? Fridays for Future ist dafür ja ein gelungener Anfang, man kann Greta Thunberg nur beglückwünschen. Und wenn wir uns demnächst in Richtung Weltgemeinschaft organisieren, könnten wir dann dafür eine zwar überreligiöse, aber spirituelle Grundierung finden? Denn wir werden Verzicht organisieren müssen, wenn wir die natürlichen Lebensgrundlagen dieses Planeten erhalten wollen. Verzicht muss aber nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Diese Fragen müssen wir diskutieren. Eine spirituelle Dimension würde uns wahrscheinlich helfen, Antworten zu finden.