Heimat neu denken

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

November 7, 2019

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Ausgabe 24 / 2019:
|
November 2019
Offene Heimat
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Ein Ruf nach einer neuen Bewusstseinskultur

Es gibt eine neue rechtspopulistische Heimatbewegung. Aber welche Heimat verteidigen die neuen identitären Denker und Aktivisten eigentlich? Thomas Steininger stellt sich die Frage, ob unsere traditionelle Sicht auf Heimat diesem tiefen menschlichen Bedürfnis überhaupt gerecht wird. Heimat hat vielleicht noch ein ganz anderes Gesicht.

Der österreichische »Volks-Rock ’n’ Roller« Andreas Gabalier ist auch in Deutschland ein Star. Mit seiner Mischung aus Volksmusik, Schlager und Rock ’n’ Roll wurde er zur Nr. 1 in den Charts der deutschen Popmusik. Seine neue Heimatmusik, diese Mischung aus Lederhosen- und Pop-und-Rock-Ästhetik füllt die großen Konzerthallen dieses Landes. Auch seine Nähe zum neuen Rechtspopulismus schadet seiner Beliebtheit nicht. Andreas Gabalier ist ein Phänomen unserer Zeit, eines der vielen Beispiele für diese neue Sehnsucht nach Heimat, die wir in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern heute sehen.

Es gibt noch einen anderen heimatbewussten Österreicher, der in den letzten Jahren in Deutschland, wenn auch nicht in dem gleichen Ausmaß, »Karriere« gemacht hat. Der Wiener YouTuber Martin Sellner ist zum öffentlichen Gesicht der »Identitären Bewegung« geworden. Diese rechtslastige, völkisch orientierte Aktivistengruppe hat mit medienwirksamen aktionistischen Mitteln, die sie von Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International übernommen haben, immer wieder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gefunden. Auch ihr Anliegen, die »Überfremdung unserer Heimat« zu stoppen, findet bei vielen Resonanz.

Vertrautheit kann immer wieder neu gewonnen werden.

Man kann Martin Sellner schon als erfolgreichen YouTube-Influencer bezeichnen. In den letzten Monaten habe ich einige Zeit damit zugebracht, ihm auf seinem Video-Kanal einfach einmal zuzuhören. Mich interessierte, wer dieser Mann ist. Oft wird er als Nazi gesehen, auch wenn er sich bewusst dieser extremistischen Rhetorik enthält. Auf jeden Fall ist Martin Sellner ein Gegner der offenen Gesellschaft, ein Freund von Orban und Salvini und als solcher nach meinem Empfinden jemand, dem man entgegentreten muss.

Ja, da ist jemand, der einen Kampf für seine Heimat führt, jemand, der seine vertraute Heimat in Gefahr sieht, von »Fremden« übernommen zu werden. Aber da ist kein Aufruf zur Gewalt, im Gegenteil, ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit, zu friedlicher Debatte, und, aus seiner Sicht, ein Aufruf zu einer lebendigen Demokratie. Natürlich ist hier auch viel Kommunikationsstrategie zu finden. Die alten völkischen Begriffe und Denkformen, das alte Auftreten der »Heimattreuen« sind durch die Gräuel der Nazi unmöglich geworden. Aber wenn man das für einen Augenblick beiseitestellt und versucht, einem Menschen zuzuhören, stellt sich mir die Frage: Worauf reagiert ein Martin Sellner? Was meint er mit der Angst um die Heimat? Und, vor allem, sprechen wir eigentlich von derselben Heimat? Heimat, das scheint uns intuitiv so klar zu sein, dass wir selten darüber nachzudenken, wofür dieses so emotionale Wort steht.

Bild: Christian Kreisel

Die Heimat, die wir meinen

Der Philosoph Ernst Bloch nannte einmal Heimat jenen Ort »an dem der Einzelne sich zur Welt nicht als Fremder und die Welt sich zum Einzelnen nicht als Fremde verhält«. Damit bringt er etwas sehr Wesentliches in die Sichtbarkeit: Heimat ist Vertrautheit. Wir sind mit Menschen vertraut, aber auch mit Landschaften, einem Dorf oder dem Kiez, wie die Berliner sagen würden. »Grätzel« sagt man zu seinem Stadtteil in Wien. Und oft sind wir in diese Vertrautheit hineingeboren worden. Sie beginnt mit unseren Eltern, unseren Geschwistern, vielleicht auch mit jenen Straßenzügen, in denen man zuallererst begonnen hat, die Welt da draußen zu entdecken. Traditionelle Heimat, das sind diese Plätze in meiner Stadt, vielleicht mein Tal oder meine Region. Und doch hört Heimat hier nicht auf. Vertrautheit ist nicht nur etwas, das wir nur vorfinden. Vertrautheit kann immer wieder neu gewonnen werden. Ja, sie muss es sogar. Heimat ist nicht statisch. Sie besitzt eine dynamische und wachsende Lebendigkeit. Wenn Heimat nicht zu einem toten Museum alter Beziehungen und Gewohnheiten werden soll, ist sie gezwungen, sich immer wieder dem Leben zu öffnen. Heimat hat tiefe Wurzeln, aber selbst Wurzeln wachsen. Selbst Bäume und Pflanzen bilden immer wieder neue Lebensgemeinschaften, neue Biotope, neue Lebensräume. Heimat bildet sich immer wieder neu.

Es ist diese ewige Bewegung des Vertrautseins und des Vertrautwerdens, die Heimat eigentlich ausmacht. Doch diese Bewegung stockt in Augenblicken, in denen es den Anschein hat, dass uns der Boden unter den Füßen wegbricht. Offensichtlich hat die große Resonanz auf die »Identitären« mit der großen Krise und den großen Umwälzungen unserer Zeit zu tun. In unserer Gesellschaft bricht viel Vertrautes weg, und das Neue, das wir sehen, trägt für viele nicht. Wenn Menschen alte Heimaten schneller verlieren, als sie auf neue hoffen können, fangen sie an, sich an das zu klammern, was sie gerade noch haben.

Die Moderne und die Heimat

Der Schock der neoliberalen und digitalen Globalisierung zerreißt unsere Gesellschaften. Auf der einen Seite finden sich jene, die das Privileg besitzen, sich in dieser rasant entfaltenden globalen Welt neu zu beheimaten. Auf der anderen Seite finden sich die Abgehängten, die diese Möglichkeit für sich nicht sehen. Die Beschleunigung und Entgrenzung unserer Zeit scheint vieles von dem, was uns als Heimat vertraut ist, zu zerreißen. Aber auch das ist nicht wirklich neu. Seit 500 Jahren leben wir in einer Zeit immer weiter zunehmender Beschleunigung. Die Geburt der europäischen Moderne war die Geburt dieser großen Beschleunigung. Sie war ein großer Aufbruch heraus aus allen Bindungen der Tradition, ein Aufbruch in Richtung Vernunft und individuelle Freiheit, der Entfaltung der Wissenschaft und der liberalen Demokratie. Die Moderne, das war auch Kapitalismus und mit ihm der große Umbruch aller Wirtschaftsbeziehungen. In den mittelalterlichen Städten Italiens wurde dieser Umbruch als erstes sichtbar. Was früher durch ein Netz der handwerklichen Zünfte zusammengehalten wurde, wich mit der beginnenden neuen Zeit immer mehr dem freien Markt. Unsere romantischen Heimatfantasien sind auch deswegen so sehr mit dem Bild der mittelalterlichen Stadt verbunden, weil sie der letzte Augenblick vor der großen Beschleunigung, vor der großen Auflösung der traditionellen Ordnung war.

Der Schock der neoliberalen und digitalen Globalisierung zerreißt unsere Gesellschaften.

Aber die Moderne hat uns mit der Geburt der Naturwissenschaft auch noch in einer grundlegenderen Weise der Heimat beraubt. Der Kosmos war uns einmal Heimat. In allen traditionellen Gesellschaften war das so. Seit der »Entzauberung« der Welt ist der Kosmos uns keine Heimat mehr. Der ungarische Philosoph Georg Lukacs nannte das »unsere metaphysische Heimatlosigkeit der Moderne«. Lukacs meinte, spätestens seit dem Jahr 1833, dem Todesjahr von Goethe und Hegel, habe sich diese metaphysische Heimatlosigkeit in unserer westlichen Kultur breitgemacht.

Heimat entsteht zwischen uns

Die Moderne ist heimatblind. Ihr ewiger Aufbrauch in die Zukunft ist in sich haltlos, wenn er nicht von einem Verständnis davon begleitet wird, was uns als Menschen eigentlich trägt. Doch trägt das Leben? Die Fähigkeit zu Heimat beginnt vielleicht zuerst bei uns selbst. Vielleicht haben wir diesen Halt im Leben in unseren Familien oder im Kreis unserer Freunde erfahren, vielleicht auch in unserer Verbindung mit der Natur. Mit jedem Atemzug, mit jedem Sonnenstrahl, mit jedem Tropfen Wasser trägt das Leben. Oft vergessen wir das. Wenn Familie gelingt (und das können genauso Patch-Work- und lesbische und schwule Familien sein), wenn Freundschaft gelingt, wenn Nachbarschaft gelingt, zeigt sich Vertrautheit und Vertrauen. Hier entsteht Heimat, wenn es gelingt, einander Heimat zu geben. Gleichzeitig leben wir in großen, abstrakten Systemen, die keine Heimat kennen. Angefangen mit der Erfindung des Geldes und seiner eigenen Verwertungslogik, haben wir soziale Systeme entwickelt, die uns erlauben, uns in immer größeren Kreisen zu verbinden. Das Geld und seine Verwertungslogik, die Logik bürokratischer Verwaltung und heute die Algorithmen des Internets sind heimatslos. Deswegen ist die Frage nach der Heimat auch die Frage, ob wir in diesen Systemen und mit diesen Systemen leben können, ohne zu vergessen, dass wir nur dann wirklich Mensch sind, wenn wir eine Heimat haben, in der wir leben.

Heimatkompetenz

Um Heimat immer wieder neu zu schaffen, um unsere sozialen Strukturen immer wieder so zu gestalten, dass Heimat möglich wird, braucht es Menschen, die heimatfähig sind. Niemand, der selbst verloren ist, kann anderen Heimat geben oder verstehen, wie uns Heimat immer wieder neu gelingen kann. Im Leben tief verankert zu sein, ist eine sehr persönliche Herausforderung, aber es ist auch eine politische, eine soziale Notwendigkeit. Was gibt im Leben berechtigten Halt und was gibt nur scheinbar Halt? Unsere offene Gesellschaft kann nur gelingen, wenn wir immer wieder Antworten auf diese Fragen finden. Manche nennen das spirituelle Praxis. Und welche Antworten halten unserer Zeit stand? Wie können wir dieses Vertrauen ins Leben selbst inmitten der Komplexität der Gesellschaft, inmitten der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit unserer Kultur immer wieder neu finden? Auch das ist spirituelle Praxis.

Die Zeiten der großen metaphysischen Systeme, die uns diesen Halt im Leben gaben, scheinen vorbei zu sein. Auch wenn es heute starke fundamentalistische und völkische Bestrebungen gibt, diese alten Sicherheiten wieder aufzuwärmen. Das Schöne an der offenen Gesellschaft ist aber auch, dass wir diese »Antwort aller Antworten« nicht brauchen. Der offene Zugang zu allen Perspektiven, auch wenn sie miteinander im Konflikt liegen, macht den Reichtum der offenen Gesellschaft aus. Traditionelle, moderne und postmoderne Werte müssen nicht auf eine einheitliche Sicht der Dinge gepresst werden. Wenn es uns gelingt, sie miteinander fruchtbar zu verbinden, entsteht Synergie, entsteht ein neues Miteinander dieser Perspektiven. Dieses neue Miteinander ist vielleicht auch eine neue, offene Form von Heimat.

Projekt offene Heimat

In Zeiten der Krise ist die Versuchung groß, Zuflucht in einer idealisierten Vergangenheit zu suchen. Denn es hat den Anschein, dass sich die Zukunft verschlossen hat. Aber der Druck der Krise öffnet manchmal auch das Tor zu neuen, kreativen Perspektiven. Auch das scheint heute zu geschehen.

So war zum Beispiel Skandinavien über Jahrzehnte so etwas wie das Vorzeigekind der postmodernen Welt. Die offene Gesellschaft, der liberale Umgang mit anderen und das Verständnis für Minderheiten war hier ausgeprägter als in anderen Teilen der Welt. Die kulminierende Terrorkrise 2001, die Finanzkrise 2008 und die Flüchtlingskrise 2015 haben aber auch die nordischen Länder erschüttert. In Schweden ist mit den Schwedendemokraten eine starke rechtspopulistische Bewegung entstanden. Auch in der dänischen Gesellschaft entstand dieser tiefe Riss. Seit einigen Jahren entwickelt sich vor allem in diesen Ländern eine neue soziale Kraft, die man auch als Antwort auf diese Verwerfung der letzten Jahre verstehen kann, eine soziale und kulturelle Kraft, die gerade langsam international sichtbar wird. Es war ein Buch, das mich zuerst auf die Spur geführt hat. Manchmal geschieht es, dass man auf einmal in den unterschiedlichsten Kreisen auf ein neues Buch stößt, das viele Menschen, die man schätzt, tief inspiriert. »The Listening Society« von Hanzi Freinacht ist so ein Buch. Es ist Teil einer neuen, integralen Denkströmung, die sich unter anderem »Metamoderne« nennt, ein Versuch, traditionelle, moderne und postmoderne Weltsichten zu einer neuen, kreativen Synthese zu bringen. Sowohl in Schweden als auch in Dänemark haben sich außerdem kleine politische Parteien gebildet, die sich an dieser neuen integralen Sichtweise orientieren. In Dänemark kam die Partei »Die Alternative«, die von dem früheren Kulturminister Uffe Elbæk mitgegründet wurde, auch mit über fünf Prozent in das Parlament. Es gibt auch so etwas wie eine »metamoderne Kunstbewegung«, die versucht, über die Einseitigkeiten der postmodernen Kunst hinaus neue Wege zu beschreiten. Die Krise unserer Gegenwart scheint hier inmitten der skandinavischen Gesellschaft einen kreativen Anstoß ins Neue ausgelöst zu haben.

Heimat besitzt eine dynamische und wachsende Lebendigkeit.

Kann eine neue, kulturelle Bewegung, die versucht, die zerrissene Gesellschaft aus einer Perspektive der Bewusstseins- und Kulturentwicklung wieder zu verbinden, auch ein Ansatz sein, eine neue Form von offener Heimat zu initiieren? Die Fragen der metamodernen Bewegung scheinen auf jeden Fall dafür die richtigen zu sein: Wie können die besten Teile der verschiedenen Weltsichten in ein kreatives Miteinander geführt werden? Wie können die inneren Dimensionen des Lebens eine zentralere Rolle in der Gesellschaft gewinnen? Wie können »lokal« und »global« gemeinsam gedacht werden? Und was ist die einzigartige Rolle der Menschheit in den Ökosystemen der Natur? All das sind Fragen, die darauf abgezielt sind, in unserer hochkomplexen Gesellschaft ein neues Miteinander, neue Räume der Vertrautheit zu ermöglichen.

Auch der österreichische Schriftsteller und politische Autor Robert Menasse bringt Heimat auf eine neue Art ins Gespräch. Er spricht davon, dass die einzige lebendige Real-Utopie auf unserem Kontinent ein Europa der Regionen ist, ein Europa, das einerseits seinen Bürgern auf dem ganzen Kontinent neue gemeinsame Bürgerrechte gibt und das andererseits auch die politische Macht besitzt, sich den globalen Markt- und Machtkräften mit einem gemeinsamen Bürgersinn entgegenzusetzen. Gleichzeitig ermöglicht ein Europa der Regionen den Menschen, in einer völlig neuen Autonomie der Regionen gemeinsam mit ihren unmittelbaren Lebensräumen regionale Heimat auf eine organische und erdverbundene Weise neu zu gestalten.

Der Ruf der Identitären, »unsere Heimat gegen die Fremden zu verteidigen«, droht unsere Gesellschaft weiter zu spalten. Wenn wir aber die Sehnsucht nach Heimat ernstnehmen, zeigen sich ganz neue Möglichkeiten, Heimat gemeinsam mit allen neu zu gestalten. Wenn das gelingt, dann wird der Ruf nach Heimat zu einem evolutionären Ruf nach einer neuen Bewusstseins- und Sozialkultur.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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