Im Bewusstsein der Endlichkeit

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Kolumne
Published On:

February 2, 2024

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Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Die Präsenz des Todes verändert unser Leben. Immer dann, wenn wir uns unserer Sterblichkeit bewusst werden, wandelt sich unser Blick auf das, was wichtig und wesentlich ist. Um dieser transformativen Kraft des Bewusstseins unserer Vergänglichkeit nachzugehen, haben wir fünf Menschen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Tod und Leben beschäftigen, gefragt:

Es gibt den Satz »Der Tod ist die beste Erfindung des Lebens«. Was ist Ihre Resonanz dazu?

Dougald Hine, Autor von »At Work in the Ruins: Finding Our Place in the Time of Science, Climate Change, Pandemics & All the Other Emergencies«.

Dougald Hine

Alles Leben nährt sich vom Tod. Alle dauerhaft bestehenden Kulturen der Menschheit sind von dem Bedürfnis geprägt, sich dessen, was sie nehmen, würdig zu erweisen. Dies ist es, was Robin Wall Kimmerer »die ehrenhafte Ernte« nennt – der Weisheitscode, der sich durch die Lebensweise der Indigenen zieht. Das Bedürfnis, sich als würdig zu erweisen, ist nicht nur ein moralisches Bestreben, sondern eine praktische Notwendigkeit. Entweder wir machen unser Leben zu einem Teil eines Geschenke-Kreislaufs, einer wechselseitigen Beziehung mit anderen Lebewesen, oder wir werden zu einem Motor des Raubbaus, der eine Verwüstung herbeiführt, der wir nicht entkommen können.

Die fossilen Brennstoffe, auf denen die Industriegesellschaften aufgebaut wurden, haben die Möglichkeit eines solchen ewigen Kreislaufs zerstört. Wie viele Millionen Jahre des Sterbens in uralten Wäldern und Meeren wurden in einer einzigen Generation verbraucht, in der wir so leben, wie wir es hier auf der Erde in letzter Zeit getan haben? Wie könnte unser Leben jemals so viel Tod wert sein? Was könnten wir überhaupt zurückgeben? Und was würde Zurückgeben überhaupt bedeuten, wenn all dieses Sterben in den Tiefen der geologischen Zeit stattfand?

Von diesem Punkt aus ist es nur schwer vorstellbar, wie man innerhalb der Grenzen der »Ehrenhaften Ernte« leben kann. Doch auf die eine oder andere Weise werden wir zu der Realität zurückkehren müssen, die mit diesen Worten benannt wird.


Prof. Dr. Claudia Welz, Professorin für Ethik und Religionsphilosophie am geisteswissenschaftlichen Fachbereich der Universität Aarhus, Dänemark.

Claudia Welz

Aus dem Staub der Erde wurde der Mensch geformt, erzählt der älteste Schöpfungsbericht der Bibel, und zum Staub wird der Mensch zurückkehren, wenn er sterben muss (Gen 2,7; 3,19). Gott hat uns als endliche Wesen geschaffen, und dies ist »sehr gut« so (Gen 1,31).

Unsere begrenzte Lebenszeit ist kostbar. Daher gilt es, jeden Tag wie eine schöne Blume zu »pflücken«, bevor sie verblüht, so das lateinische Sprichwort ­carpe diem. Jeder Augenblick ist einzigartig. Das wäre nicht so, wenn er sich wiederholen könnte. Ist der Tod daher »die beste Erfindung des Lebens«? Dies gilt nur dann, wenn es kein gewaltsamer, verfrühter Tod ist, sondern einer, der uns die Möglichkeit gibt, »das Zeitliche zu segnen«: in Frieden und versöhnt von dannen zu gehen, das Leben der Weiterlebenden zu bejahen und es bis zuletzt mit der eigenen Liebe zu stärken.

»Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht«, sagte Jesus, der sein Leben für andere hingab (Joh 12,24). Seine Worte sind aber nur dann tröstlich, wenn wir auf neues Leben in Gottes Gegenwart hoffen dürfen. Die beste Erfindung des Lebens ist daher nicht der Tod, sondern der Tod des Todes.

Prof. Dr. Stefan Sorgner, transhumanistischer Philosoph und Autor.

Stefan Sorgner

Dieser Satz macht mich rasend. Es handelt sich weder um eine sinnvolle Aussage noch um eine überzeugende. Eine Erfindung setzt Intentionalität voraus. Das Leben im Allgemeinen ist kein Wesen mit Absichten. Daher ist das Leben auch kein Erfinder. Zu Zeiten des Big Bang gab es kein Leben. Als die Erde entstand, war auf ihr nichts Lebendiges vorhanden. Es hat nach der Entstehung der Erde eine Milliarde Jahre gedauert, bis es auf wundersame Weise zu den ersten Lebensformen gekommen ist. Bei allem Lebendigen ist es bislang immer so gewesen, dass alles, was entsteht, auch wieder zugrunde geht. Etwas Einzigartiges kommt zustande und wird schließlich wieder in eine formlose Einheit zurückgeführt. Dies trifft auf Lebendiges sowie auf Anorganisches zu. Ist dies gut so? Es handelt sich um eine Notwendigkeit. Wenn das Lebendige gesund ist, dann ist es in der Regel nicht im Interesse des Lebendigen zu sterben. Eine Verlängerung der Gesundheitsspanne, also eine Verlängerung der Dauer unserer gesunden Lebenszeit, ist im Interesse der allermeisten Menschen.

Aus diesem Grund handelt es sich um ­eine fantastische kulturelle Errungenschaft, dass sich die durchschnittliche weltweite Lebenserwartung eines Neugeborenen von 32 Jahren im Jahr 1900 auf 71 Jahre im Jahr 2021 erhöht hat. In Japan liegt sie gegenwärtig sogar bei über 84 Jahren. Gegenwärtig scheint sich die Obergrenze der menschlichen Lebenserwartung bei 122 Jahren zu befinden. Aber auch diese Grenze ist wohl keine notwendige. Grönlandwale können über 200 Jahre alt werden. Wenn es zutreffend ist, dass eine verlängerte Gesundheitsspanne unsere Lebensqualität erhöht, dann sollten wir daran arbeiten, mindestens so lange leben zu können wie Grönlandwale. Der Tod kommt, aber er kann sich gerne noch viel Zeit lassen.

Helmut Dörmann, Gestalttherapeut, Kontemplationslehrer, Leiter eines Hospizdienstes (i. R.).

Helmut Dörmann

Nun, der Tod ist ja keine Erfindung des Lebens. Der Tod gehört zum Leben und ist untrennbar damit verbunden. Ohne Tod würden wir – so habe ich es im Umgang mit sterbenden Menschen immer wieder erleben dürfen – auf den Tod warten. Ein »Dahinsiechen« möchte sicherlich niemand. Und gleichzeitig macht uns der Tod Angst. Wir können ihn nur schwer als Bruder sehen. Wir haben Angst vor dem Tod, weil wir nicht wissen, wie das Reich des Todes aussieht. Letztlich haben wir dem Tod unser Leben zu geben. Und somit ist Sterben keine einfache Angelegenheit. Es ist vielleicht die schwierigste Lebensaufgabe, die wir Menschen zu leisten haben.

Der Philosoph, Dichter und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore drückt es so aus: Was willst du geben, wenn der Tod an deine Türe klopft? Die Fülle meines Lebens – den süßen Wein der Herbsttage und der Sommernächte, meinen kleinen Schatz, den ich in den Jahren gesammelt habe, und Stunden, die reich an Leben sind.

Ich denke, der Tod ist, spirituell betrachtet, ein Übergang in eine andere Welt. Diese andere Welt kann man in den Augen von sterbenden Menschen sehen, wenn sie von dieser Welt in die andere Welt hin- und herpendeln. Eine Welt, die sicherlich lichtvoller ist als diese Welt. Wir brauchen also keine Angst zu haben. Wir können uns freuen, dass wir unseren schweren Körper ablegen dürfen um einzutauchen in das große SEIN.

Prof. Dr. Barbara von Meibom, Politologin, Kommunikationswissenschaftlerin und Autorin.

Barbara von Meibom

Oh ja! Man stelle sich nur einmal vor, alles, was je auf der materiellen Ebene existiert hat, gäbe es noch, würde uns umstellen und erdrücken – ein wahrer Albtraum! Der tanzende Gott Shiva in der vedischen Tradition verkörpert wie kein anderer Werden und Vergehen. Seine Kraft ist zerstörerisch und ermöglichend zugleich: Das Alte muss weichen, damit Neues entstehen kann. Ja, Geburtlichkeit (Hannah Ahrendt) und Endlichkeit bedingen einander. Jedem Anfang wohnt ein Ende inne …

Wie könnten wir das Leben wirklich feiern – ständig getrieben von der Angst vor dem Tod? Solche Angst macht eng. Das Wissen um die Vergänglichkeit allen Lebens hingegen befreit. Es öffnet die Wahrnehmungssinne für die Vielfalt des Lebens – für das Schöne ebenso, wie für das Leiden, das zu jedem Leben dazu gehört.

Das kleine Sterben, das wir tagtäglich und jede Nacht neu erleben können, ist Vorgeschmack und Vorbereitung auf das große Sterben, von dem die Theologin und Sterbebegleiterin Monika Renz sagt: »Das Ich stirbt in ein ›Du‹ hinein.« Im Loslassen aller Ich-Konzepte dürfen wir uns in dieser existenziellen Phase unseres Lebens dem großen Du anheimgeben, aus dem wir hervorgegangen sind. Tod, Sterben und Vergänglichkeit als befreiende Kräfte, um das Leben in seiner ganzen Tiefe zu lieben und zu feiern.

Author:
Dougald Hine
Author:
Prof. Dr. Stefan Lorenz Sorgner
Author:
Helmut Dörmann
Author:
Prof. Dr. Barbara von Meibom
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