Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 17, 2014
Barbara Marx Hubbard im Interview
evolve: Können Sie uns aus Ihrer Sicht den Prozess der Evolution schildern?
Barbara Marx Hubbard: In meinem Verständnis ist die Evolution ein 14 Milliarden Jahre währender Prozess, der sich von Entropie zu Syntropie bewegt. Syntropie ist das Gegenteil von Entropie. Syntropie bedeutet, dass getrennte Teile miteinander koordiniert werden, sodass sie eine komplexere Ordnung bilden. Die Natur entwickelt sich von geschlossenen Systemen mit größerer Ungeordnetheit zu einer höheren Ordnung – von Einzellern zu Mehrzellern zu Tieren zum Menschen und nun zu dem, was ich als universelle Menschheit bezeichne. Ich denke, wir befinden uns im nächsten Sprung der Evolution und es gibt viele Gemeinsamkeiten darin, wie wir diesen Sprung wagen und wie ihn die Evolution Milliarden Jahre immer wieder vollzogen hat. Der einzige Unterschied ist der, dass wir in eine Periode der bewussten Evolution eintreten. Wir nähern uns einer Art Gipfelpunkt der Evolution und einer Phase, die es zumindest auf dieser Erde noch nie gegeben hat: Wir sind die erste Spezies, die in der Lage ist zu erkennen, dass wir unsere Evolution durch alles, was wir tun, beeinflussen – Evolution durch Entscheidung, nicht durch Zufall. Man könnte in der Tat sagen, wir sind die Evolution, die sich ihrer selbst bewusst wird.
e: Wie hat sich der Mensch in dieser evolutionären Geschichte entwickelt?
BMH: In jeder Phase der menschlichen Entwicklung sehen wir eine Erweiterung des Bewusstseins, der Verbundenheit, der Wahlmöglichkeiten und der Identität. Es war ein großer Durchbruch im evolutionären Prozess, als wir uns zum Homo sapiens sapiens entwickelten, mit der Fähigkeit für selbst-reflektierendes Bewusstsein. Durch Sprache und Kultur haben wir eine denkende Schicht geschaffen, die sich um die Erde legt – die Noosphäre, wie sie der Paläontologe und evolutionäre Mystiker Teilhard de Chardin nannte. Im letzten Jahrhundert hat sich um unseren Planeten ein neues Nervensystem gebildet. Man könnte sagen, dass Facebook die größte Nation der Welt ist. Es gibt mehr als sieben Milliarden Mobiltelefone und mit Twitter, LinkedIn und den anderen sozialen Medien sind wir global zutiefst verbunden. Durch solche Verbindungen haben wir Zugang zu einem Feld der universellen globalen Intelligenz. Der einzelne Mensch ist sich nicht mehr nur seiner selbst oder seiner Umgebung, seines Klans oder Stammes oder seiner Kultur und seiner Religion bewusst. Sein Bewusstsein ist vielmehr verbunden mit einem umfassenderen Feld der universellen Intelligenz und der universellen Empathie. Und ich würde sagen, dass dieses Feld einen neuen Menschen schafft, einen universellen Menschen. Dieser Mensch unterscheidet sich von einem sich seiner selbst bewussten Menschen, weil sich dieser universelle Mensch mit dem Ganzen verbunden fühlt.
Der „Homo progressivus“ fühlt sich von der Zukunft angezogen, als ein Wesen, das in das Unbekannte vorangeht.
Wir stehen in gewisser Weise mit dem GEIST oder dem Kosmos in Verbindung und sind Mitwirkende im Prozess der Evolution durch unsere eigenen Entscheidungen. Wir sind zutiefst motiviert, unser volles individuelles Potenzial zu verwirklichen, um uns vom Ego zum Wir und zum Ganzen zu entwickeln. Menschen, die diesen Schritt in ihrer Intuition erahnen, nenne ich eine Gemeinschaft der „Pionierseelen“. Sie spüren sich selbst als die Verkörperung und Inkarnation des evolutionären Impulses. Dieser Impuls ist nicht außerhalb von uns, es ist ein innerer Impuls, der uns motiviert. Wenn wir eine evolutionäre Perspektive einnehmen, dann sehen wir, dass dieser innere Impuls ein universeller Impuls ist, der sich in jedemvon uns einzigartig verkörpert. Teilhard de Chardin beschrieb einen interessanten Unterschied: Er sagte, dass es zwei Arten von Menschen gibt. Die eine nannte er „Homo progressivus“ und diese fühlt sich von der Zukunft angezogen, als ein Wesen, das in das Unbekannte vorangeht. Die andere nannte er Bourgeois, weil sie die Dinge im Status quo belassen will. Homo progressivus sind Menschen, die sich davon angezogen fühlen, in dem mitzuwirken, was gerade erst emergiert, also neu entsteht. Diese Menschen besitzen eine Sensibilität für das, was gerade erst emergieren will und einen tief empfundenen Wunsch, an dieser Emergenz mitzuwirken.
e: Diese Sensibilität, von der Sie hier sprechen, geht über Gedanken und Gefühle hinaus, nicht wahr?
BMH: Ja, das stimmt. Es ist eher eine Synthese, denn wenn ich den Impuls spüre, dann ist dies sicher ein Gefühl, das dann aber auch Gedanken aktiviert. Aber es aktiviert auch etwas Tieferes als die Gedanken: eine Art innerer Führung. Diese innere Führung können wir nicht durch unsere altbekannten Gedanken erfahren. Wir spüren sie durch diese Sensibilität gegenüber dem, was in uns neu entstehen möchte, und in Resonanz mit anderen erkennen wir klarer, was sich hier zeigen will. Wenn wir eine große Perspektive des Überblicks einnehmen und uns auf das beziehen, was wir über den 14 Milliarden Jahre währenden Prozess der Evolution gelernt haben, dann sehen wir einige wiederkehrende Muster: Krisen führen zu Transformation, Probleme sind Antriebskräfte weiterer Evolution, Stress führt zu Entwicklung, ein System, dass ein Gleichgewicht verliert, sucht nach einer neuen ordnenden Struktur. Wennich also mit einem Problem konfrontiert bin, dann richte ich meinen Blick sofort auf das, was dadurch emergieren will. Manchmal ist es nicht einfach,herauszufinden, was es ist. Aber wenn wir mit dem Verstehen schauen, dass die Natur Probleme als evolutionäre Antriebskräfte nutzen kann, um mehr Bewusstsein und Freiheit zu schaffen, dann spüren wir ein Geführtsein. Wir suchen nach Hinweisen dafür, was in uns emergieren will. Eine meiner täglichen Übungen ist es zum Beispiel, ein Tagebuch zu schreiben. Ich meditiere und fokussiere mich dann auf eine Frage in Bezug auf die Ausrichtung meines Lebens oder eine konkrete Frage, die mich gerade beschäftigt. Dann erhalte ich oft nach und nach Antworten aus einem erweiterten Wissen, in denen sich eine innere Führung zeigt. In dieser inneren Führung spüre ich Leichtigkeit, ein Aufgehobensein,eine Freude und Anziehung. Diese Führung erweist sich nicht immer als vollkommen richtig, aber es zeigt sich eine Richtung darin. Und ich teile das, was ich so in mir gefunden habe, mit anderen Menschen und achte auf ihre Reaktionen. Ich teile diese Einsichten mit Menschen auf der ganzen Welt, mitdenen ich zusammen arbeite. Dieses Geführt werden kommt also eigentlich aus dem Dazwischen des Austauschs. Ich bezeichne es als den „Kompass der Freude“, durch den ich weiß, wann ich meinem inneren Impuls folge und wann nicht. Wenn ich mit anderen Menschen in einer gemeinsamen Ausrichtung zusammen bin – was man als „Wir-Raum“bezeichnen könnte –, dann ist es leichter, diese innere Führung wahrzunehmen.