Im Spiegel der Steine

Our Emotional Participation in the World
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Projekt-Interview
Published On:

April 21, 2016

Featuring:
Lika Mutal
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Ausgabe 10 / 2016:
|
April 2016
Europa sucht seine Seele
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Ein Interview mit der Bildhauerin Lika Mutal

Was können Steine uns lehren? Dieser Frage hat Lika Mutal ihr Leben gewidmet. Als holländische Bildhauerin, die in Peru lebt, wurde sie durch die spirituelle Atmosphäre der peruanischen Landschaft, die einzigartige Tradition der Steinbearbeitung und die Geschichte der Inkas und deren Vorfahren inspiriert. Mutals’ Arbeit mit Steinen hat sich im Laufe der Zeit vertieft, ebenso haben sich ihre Skulpturen verändert. Zunächst nutzte sie die Steine als Material, um ausdrucksstarke Formen zu gestalten oder um innere Strukturen freizulegen. Heute ist ihr die Beziehung zu den Steinen und ihren universellen Kräften wichtiger geworden. Mutals’ Skulpturen wurden in der ganzen Welt ausgestellt und mit mehreren renommierten Preisen ausgezeichnet. Bei einer Ausstellung im Museo de Arte Contemporáneo in Lima hatte Renata Keller die Gelegenheit, mit Lika Mutal über ihre Kunst zu sprechen – und darüber, was die Steine sie über unser Menschsein lehren.

evolve: Du lebst schon seit über 45 Jahren in Peru; was hat dich hierher gebracht und warum arbeitest du mit Steinen?

Lika Mutal: Mein Familienleben hat mich hierher gebracht. Ich habe in Holland Theater studiert, interessierte mich aber auch für die Gestaltung abstrakter Formen. Und inspiriert hat mich auch das Gefühl der Freiheit, das man in Südamerika erleben kann – die politische Freiheit ist hier zwar oft eingeschränkt, aber man kann die Freiheit der Landschaft erleben. Als ich im Jahr 1968 nach Peru zog, begann ich an der Catholic University Art School in Lima Bildhauerei zu studieren. Ich war sehr zögerlich, mit Steinen zu arbeiten. Meine damalige Lehrerin überzeugte mich aber, es doch zu versuchen, und ich bearbeitete schließlich drei Steinblöcke, die dann auch bei der jährlichen Schulausstellung auf einem Tisch standen. Als ich mich zufällig einmal davorsetzte, spürte ich plötzlich, wie aus einem der kleineren Steine ein Energiestrahl mich direkt in die Brust traf. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich war ja eine skeptische, pragmatische Frau aus dem Westen und glaubte, Steine seien tot, statisch und kalt, aber diese Erfahrung konnte ich einfach nicht leugnen. Bald darauf verließ ich die Schule und bekam Unterricht beim peruanischen Steinmetz Don Juan Arias. Er war für mich wie ein »Vater der Steine«.

¬ DIE ARBEIT MIT DEM STEIN FÜHLTE SICH SO AN, ALS WÜRDE ICH AN EINEM LEBENDIGEN WESEN ARBEITEN. ¬

Lebendige Steine

e: Hat dich diese Erfahrung veranlasst, deine Beziehung zu den Steinen zu vertiefen?

Das Denkmal »Das weinende Auge«, 2005, ein interaktives Projekt für den Frieden.

LM: Ja, schon bald besuchte ich mit meinem Lehrer eine Landschaft in der Nähe einer präkolumbischen Ruine, um Granit zu suchen. Ich setzte mich an diesem schönen Ort nieder und spürte eine tiefe Einheit mit allem. Es wehte ein starker Wind und ich überschaute ein trockenes Flussbett. Als ich langsam zwischen den Steinen umherging, hatte ich das Gefühl, dass sie mich riefen. Bestimmte Steine zogen mich mehr an als andere und die nahm ich dann mit ins Atelier. Diese Steine standen über Monate dort, bevor ich wusste, was ich mit ihnen tun wollte. Irgendwann beschloss ich dann, mit einem der Steine zu arbeiten und bohrte eine Form in seine Mitte. Es fühlte sich an, als würde ich eine Straße in einen Berg fräsen. Ich hatte zeitweise wirklich Albträume, weil ich mich nicht entscheiden konnte, wie weit ich nach rechts oder nach links bohren sollte. Es fühlte sich für mich so an, als würde ich an einem lebendigen Wesen arbeiten. Wenn sich die Form dann aus dem Stein löste, hob ich sie ein wenig an, legte etwas darunter und polierte sie, bis das glänzende Schwarz des Granits sichtbar wurde. Für mich war es wie ein kleiner natürlicher Tempel, in dem das Geheimnis der Natur noch intakt war.

Als mein Lehrer sehr alt wurde, lernte ich den Steinmetz ­Buenaventura Córdoba kennen. Er nahm mich mit zu einem Berg im Norden. Er war mit Tausenden von riesigen erodierten Granitblöcken bedeckt. Das war atemberaubend, aber am Anfang war die Landschaft mir gegenüber sehr feindlich. Ich hatte das Gefühl, der Ort wollte mich hinauswerfen.

e: Warum fühlte sich der Ort so feindlich an?

LM: Es war ein gefährlicher Ort mit tiefen Gräben zwischen den Steinen und überall standen riesige Kakteen mit großen Stacheln. Es war ein starker Kontrast zum Grün und der Vitalität der umliegenden Berge. Ich spürte eine tiefe Ehrfurcht vor diesem Ort und seiner rauen Schönheit. Aber der Ort schien Nein zu sagen zu meiner Absicht, Steine von dort in mein Atelier mitzunehmen. Jemand riet mir, eine kleine Zeremonie mit Koka-Blättern zu machen, um den Ort zu bitten, dass ich hier sein darf, was ich dann auch getan habe.

Jedes Mal, wenn ich zurückkehrte, schien der Ort freundlicher zu werden. Immer wieder sah ich einen stehenden Stein, der eine starke weibliche Energie ausstrahlte, mit einem Kopf, der wie versteinerte Blumen aussah. Ich hatte keinen Bedarf für diesen Stein, aber sie* wirkte mit ihrer Gegenwart und Kommunikation so stark auf mich, dass ich sie eines Tages mitnahm. Sie wog etwa 4,5 Tonnen und stand in meinem Atelier bis zu dem Tag, an dem ich sie verschieben musste, weil ich mein Atelier erweiterte.

Sie war der erste Stein, den wir auf Hölzern bewegten, was sehr schwer war. Einer der Helfer sagte: »Sollen wir etwas Wasser darauf schütten, damit es leichter geht?« In dem Moment, als das Wasser den Stein berührte, veränderte sie sich, die Energie veränderte sich und schien sehr feindlich, sogar wütend zu werden. Ich war nicht die Einzige, die es spürte, auch die Helfer konnten es fühlen.

Nach ein paar Wochen erkrankte ich an Maltafieber. Jeden Tag, wenn ich hohes Fieber hatte, erschien mir der Stein mit ihrer enormen Energie. Eines Tages erinnerte ich mich daran, dass dieser Stein auf dem Hügel, wo all die Blöcke übereinander lagen, die Einzige war, die aufrecht gestanden hatte. Irgendwie »wusste« ich in diesem Moment, dass sie wahrscheinlich die Wächterin des Ortes gewesen war. Und ich hatte sie ausgegraben, ohne um Erlaubnis zu bitten, was sich auf den ganzen Ort auswirkte. Ich maß sie in Zentimetern und Kilogramm, in der Art, wie wir Westler es tun. Als ich das erkannte, beruhigte sich die Energie des Steines und mein Gesundheitszustand verbesserte sich auch. Ich verstand, dass ich meine Art zu arbeiten ändern musste. Es ging nicht mehr nur da­rum, schöne Skulpturen zu schaffen, sondern Arbeiten, die mit dem Leben verbunden sind. Ich musste politischer werden. Deshalb nutzte ich diesen Stein für eine Installation namens »Zwischen Magma und Mutter« (2003). Sie sollte Frauen ansprechen, damit sie sich in die Prozesse einbringen, in denen über Frieden verhandelt wird. Ein Frieden, der bisher weder von Religionen, noch von Armeen und Regierungen erreicht wurde.

Geist in der Materie

e: Das Thema »Frieden« scheint für dich sehr wichtig geworden zu sein bei der Arbeit an deinem Denkmal »Das weinende Auge«. Als ich es in Lima zum ersten Mal sah, hinterließ es einen starken Eindruck auf mich. Ich spürte eine universelle Größe und heilende Atmosphäre.

LM: Diese Installation wurde 2005 fertiggestellt. Peru kam gerade aus einem gewaltsamen Konflikt zwischen der maoistischen Terrorgruppe »Leuchtender Pfad« und der Regierungsarmee, der von 1980 bis 2000 dauerte. Es wurde eine Wahrheitskommission gegründet, die über ein Jahr damit beschäftigt war, viele tausend Zeugenberichte zu erfassen. Vom Ex-Präsidenten der Kommission bekam ich eine Liste mit 27.000 Namen von Opfern. Heute vermutet man, dass mehr als 70.000 Menschen getötet wurden.

Für »Das weinende Auge« schrieben Freiwillige in Kalligraphie den Namen jedes Opfers auf einen kleinen Stein. Ich dachte, dass ein Labyrinth, wie jenes in der Kathedrale von Chartres, für diese Installation eine geeignete Form ist. »Der Mutter-Erde-Stein« (2003) steht im Zentrum des Labyrinths, er ist das »weinende Auge« inmitten eines Wasserbeckens und verurteilt die Gewalt dieses Konfliktes.

Hier in Peru wurden Steine immer als heilig erachtet und waren einer der wichtigsten Gegenstände der Verehrung. Die Inkas formten zum Beispiel Steine als Spiegelbild eines Berges, um ihn so zu ehren. Diese schönen Mauern, die sie rund um Cusco und Machu Picchu erbauten, sind »sprechende« Wände. Sie stellen eine tiefe Beziehung mit der größeren Umgebung bis hin zu einer kosmischen Ebene her. Dahinter steht die Wahrnehmung eines vernetzten, allumfassenden Lebens, ein Ausdruck der Ehrfurcht und Dankbarkeit für unseren Platz auf der Erde. Dieses tiefe Wissen ist in diesem Land erhalten und ist Teil unserer täglichen Erfahrung. Es ist ein Bewusstsein, das das Leben selbst ehrt.

e: In deiner Ausstellung fand ich ein Zitat von Teilhard de Chardin, das mich sehr beeindruckt hat: »Jeder, der lebt und wächst wird nie zur Materie sagen können: ›Ich habe genug von dir gesehen, ich habe deine Geheimnisse erforscht und nun genug Nahrung für meine Gedanken bekommen.‹ Ich sage dir: ›Selbst wenn du wie der Weiseste aller Weisen das Bild aller Wesen, welche die Erde bevölkern oder in den Meeren schwimmen, im Innern trägst, könnte all dies Wissen deine Seele nicht nähren, weil jedes abstrakte Wissen nur verblasste Realität ist. Um die Welt zu verstehen, ist Wissen nicht genug. Du musst die Welt sehen, berühren, in ihrer Gegenwart leben und die Lebenswärme der Existenz im Herzen der Wirklichkeit trinken.‹«

LM: Ich liebe dieses Zitat. Es ist sehr präzise, da es nicht nur über den Geist in der Materie spricht. Es widersetzt sich dem Glauben, dass uns das abstrakte Denken näher an das Göttliche heranführen wird. Sri Aurobindo, der Begründer des integralen Yoga, und Die Mutter, die als seine Begleiterin die spirituelle Gemeinschaft Auroville leitete, sind ebenfalls der Ansicht, dass die Verwirklichung unserer Spiritualität durch die Materie geschehen muss. Sie muss auf der Erde zum Ausdruck kommen, durch uns. Spiritualität ist in unserem Körper, hier und jetzt. Das ist revolutionär, finde ich.

Lika Mutal, Museo de Arte Contemporáneo, Lima.

Klang des Universums

e: Was hast du im Laufe der Zeit durch diese tiefere und feinfühligere Arbeit mit den Steinen gelernt?

LM: Besonders viel lernte ich durch die Arbeit mit dem »Condor-Stein«, dem Haupt-Stein in der letzten Ausstellung im Museo de Arte Contemporáneo. Mit ihm ging ich einen Schritt weiter. Dieser Stein dient jetzt als Vermittler des Friedens, aber er sagt nicht nur »Nein« zu Gewalt wie »Das weinende Auge«, sondern auch »Ja« zu einer kreativen Beziehung mit dem Bewusstsein selbst. Ich hatte den Stein 2010 gefunden und durch eine Reihe von spektakulären Zufällen und Synchronizitäten durfte ich ihn in mein Atelier mitnehmen.

Ich erkannte bald in ihm das Ebenbild eines riesigen Schädels. 2012 besuchte mich ein buddhistischer Lama und zeigte mir, dass in dem Stein das Profil eines Condors erkennbar ist. Eine Woche später betrachtete ein Sikh-Meister den Stein und nahm starke innere Schmerzen wahr. Aber er sagte auch, dass der Stein eine große innere Friedenskraft besitzt, um in der Welt zu wirken. Damit diese Friedenskraft freigesetzt wird, müsste er geheilt werden. Ein Jahr später kam der Schamane vom Stamm der Qero** Don Martin und las den Stein für mich. Er warnte mich: Der Stein sei »Qari« – maskulin und sehr stark – und ich als »Warmi« – feminin – müsse bestimmte Dinge tun, um ihn zu einem Verbündeten zu machen. Ich nahm die Herausforderung an, obwohl ich keine traditionelle Frau aus den Anden oder eine Schamanin bin. Aber ich habe eine tiefe Verbindung zur Natur und zur zeitlosen Kraft der Steine. Deshalb kann ich eine Vermittlerin zwischen der modernen und der traditionellen Welt sein. Für viele Menschen, die nach einer neuen Verbindung mit der Natur und diesem Aspekt in sich selbst suchen, kann meine Arbeit eine Öffnung sein.

e: Wie hast du dich mit dem Stein verbunden?

LM: Ich las dem Stein verschiedene Gedichte vor, erstellte eine Reihe von Zeichnungen auf großformatigen Seidentüchern und meditierte jeden Tag vor ihm. Nach und nach erkannte ich, dass wir, um die Natur zu heilen – oder in diesem Fall ihren Vertreter – zuerst uns selbst heilen müssen, damit die Natur andere Einflüsse von uns aufnehmen kann. In diesem Prozess erkannte ich, dass dies durch innere Bewusstseinsarbeit geschehen kann. Es wäre zu lang, all die Schritte zu beschreiben, aber das folgende Zitat von Sri Aurobindo ist wie ein Leitsatz:

»Die Aufgabe des Schülers ist also, in jeder Hinsicht bewusst zu werden, auf allen Ebenen des Seins und der universellen Existenz, nicht nur mental, sondern in sich selbst, anderen Wesen und in den Dingen bewusst zu werden, im Wachzustand oder im Schlaf. Und schließlich auch bewusst zu werden in dem, was die Leute den ›Tod‹ nennen, denn in dem Maße, wie wir in unserem Leben bewusst sind, werden wir auch in unserem Tod bewusst sein.«

In der Zwischenzeit hat der Stein auf meine innere Arbeit reagiert und wurde, während er in der Ausstellung stand, weiter geheilt. Auf seiner Rückseite gibt es eine Art Ohrmuschel, und die Besucher werden ermutigt, ihre Köpfe hineinzustecken und zu lauschen. Wenn sie es tun, hören sie den Klang des Universums. Viele Leute sagen, er hält ihren Gedankenfluss an, sie werden leer, während die Energie des Steins durch sie vibriert. Sie sind oft sehr überrascht, da sie als Folge auch eine tiefe innere Freude empfinden.

Wenn wir uns zutiefst verkörpern und erkennen, dass wir alle dasselbe Bewusstsein sind, das durch die Materie spricht, öffnen wir uns. Und in diese Richtung muss unsere Bewusstseinsentwicklung gehen, wenn wir miteinander in kreativer und friedlicher Weise zusammenleben wollen.

Author:
evolve
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