Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 23, 2015
Der spirituelle Lehrer Thomas Hübl arbeitet mit verschiedenen Möglichkeiten, in einem Wir unsere Wahrnehmung von uns selbst, unserer globalen Verbundenheit und der mystischen Dimension der Wirklichkeit zu erweitern. evolve-Herausgeber Thomas Steininger sprach mit ihm über Erfahrungen mit einem transpersonalen Wir.
evolve: Wo liegt für dich die Bedeutung der Arbeit mit Wir-Räumen?
Thomas Hübl: Im Wir-Raum kann es zu einer Beschleunigung der eigenen Integrationsarbeit kommen, weil wir uns im Dialog reflektieren und eine subtile Wahrnehmungskraft entwickeln können. So entsteht ein intensiver Heilungsraum, in dem das Wir eine Reflexionsfläche wird, um das zu sehen, was mir noch nicht bewusst ist, was sozusagen hinter meinem Rücken geschieht. Das Unbewusste ist für mich nicht sichtbar, aber ich kann die Wahrnehmungskraft der anderen im Wir nutzen, um zu sehen, was mir selbst noch nicht zugänglich ist. Wenn wir diesen Raum gut gestalten, dann kann der Einzelne das evolutionär aufarbeiten, was er in der eigenen Entwicklung bisher nicht lösen konnte. Wenn das gelingt, dann kann das Wir Heilung, Integration und die Aufarbeitung von Karma als eine kollektive Fähigkeit ausbilden, die immer weiter verfeinert und mit höherer Kompetenz genutzt werden kann. Wir brauchen dafür eine innere Formbarkeit, um die Realität anderer Menschen in unserem Bewusstsein zu halten. Wir müssen uns innerlich ausdehnen, denn darin entsteht ein neuer Raum, den wir gemeinsam mit einer Bewusstheit füllen können, die wir als Individuum nicht haben.
Der Wir-Raum geht aber auch über die Ebene persönlicher Reflexion hinaus, denn im Wir kann uns der globale, kollektive Raum bewusst werden, in dem wir leben. Wir Menschen sind der bewusste Innenraum der Welt, zumindest für unseren Planeten Erde. Denn einerseits sind wir alle Teil eines größeren Prozesses und haben darin eine individuelle Verantwortung. Aber wenn wir unser globales Menschsein erfahren, gehen wir über diese individuelle Verantwortung hinaus. Wir verstehen, dass wir nicht nur unseren individuellen Innenraum vertiefen und erweitern können, sondern auch den globalen Innenraum. Und das ist nur in einem Wir möglich.
In diesem Bewusstseinsraum wird auch kollektive Schattenarbeit möglich, die Aufarbeitung von kollektiven Wunden und Traumata, die in unserer Geschichte geschehen sind. In diesem Raum können wir aber auch unser Potenzial für Innovation erfahren, also unsere kollektive Gestaltungskraft und Zukunftsfähigkeit. Dabei übt die enorme technologische Entwicklung einen starken evolutionären Druck auf uns aus. Das bedeutet, dass wir neue Kapazitäten entwickeln müssen, um mit unseren globalen Herausforderungen überhaupt umgehen zu können. Wir brauchen Menschen, die einen gemeinsamen Innenraum schaffen, um der evolutionären Zukunft einen Raum zu geben. Quasi eine Art Prototyp, in dem wir als globale Bürger sehen, fühlen und handeln lernen.
Das Wir ist der Körper, in dem das Göttliche erscheinen kann.
e: Welche Fähigkeiten müssen wir entwickeln, um uns so begegnen zu können?
TH: Zuerst einmal erfordert es eine Schulung unserer sozialen oder interpersonellen Kompetenz. Dazu gehört auch eine innere Elastizität, Kontakt- und Bezugsfähigkeit, durch die ich den inneren Raum der Gruppe in mir beheimaten kann. Dies sind Fähigkeiten, die wir lernen, entwickeln, praktizieren und bis zur Exzellenz führen können. So wird es möglich, das große Innovationspotenzial zu nutzen, das in diesem Raum zwischen uns liegt. Es ist ein Potenzial, das im größeren Fluss von Intelligenz entstehen kann, in dem sich die individuellen Intelligenzströme synchronisieren. Wenn wir die Welt nicht mehr so fixiert sehen, sondern als Bewegung, dann können wir gemeinsam in den Fluss springen. Wir schwimmen gemeinsam im Fluss der Intelligenz. Je stärker und hingegebener wir dies tun, desto mehr lebt das Leben durch uns. In einem sozialen Kontext kann das bedeuten, dass unser Fokus auf dieser gemeinsamen Bewegung liegt. Dann kümmere ich mich nicht nur um meine eigene Bewegung, sondern bekomme auch ein Gefühl für die Bewegung der anderen in diesem Wir. Mir liegt am Herzen, wie die anderen im Fluss der geteilten Intelligenz schwimmen. Das ist eine Form der Liebe und des Mitgefühls, ein gegenseitiger Respekt und eine Fürsorge für die Bewegung oder Entwicklung der anderen. So legt sich zwischen uns ein Netz der Liebe, das über uns als Individuen hinausgeht. Das ist etwas ganz anderes als eine selbstbezogene Haltung, in der ich frage: Was ist mein Vorteil in diesem Wir? Die Transformation geschieht, wenn mir das Wir wichtiger wird als mein eigener Vorteil. Ich sehe mich in einem größeren gemeinsamen Ganzen. Wenn viele Menschen diesen Schritt gehen, dann wird dieser neue Wir-Innenraum Realität für uns. Eine höhere Synchronisation der gesamten Intelligenz im Raum wird möglich, wodurch uns vollkommen neue Lösungsansätze zur Verfügung stehen. Wenn wir diese Dynamik zum Beispiel auch in Firmen und Institutionen anwenden, dann wird unser ganzes Leben aus dieser Intelligenz des Wir inspiriert.
e: Mit diesem Strom einer umfassenderen Intelligenz sprichst du auch eine spirituelle Dimension der Wir-Erfahrung an. Wie siehst du die Möglichkeiten des Wir in einer spirituellen Perspektive?
TH: In einem spirituellen Kontext ist die höchste Priorität das Erwachen. Die höchste Priorität ist Gott und nichts Relatives kann diesen Platz einnehmen. Darum sind in diesem Kontext die Wir-Praktiken, die es momentan gibt, nur dann sinnvoll, wenn sie sich in den Dienst des Erwachens stellen. Unser Wir-Raum kann ein Gefäß für die mystische Dimension werden. Spiritualität muss sich heute auf dem Marktplatz bewähren, damit sind wir aber Teil der karmischen und energetischen Aspekte unserer Kultur. Ich kann die Kultur zwar transzendieren, aber solange ich in ihr lebe, werde ich mich daran beteiligen. Ein zeitgemäßer Ausdruck des Mystischen ist diese Heirat von Himmel und Erde, in der sich das Göttliche durch uns in die sich bewusst werdende Welt ergießt. Und da wir in dieser globalen Vernetzung leben, ist das Wir der Körper, in dem das Göttliche erscheinen kann.