Jenseits der Vereinzelung

Our Emotional Participation in the World
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Kolumne
Published On:

November 2, 2021

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Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
Der Markt
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Unsere etablierten Zeremonien des Denkens, Handelns und Seins befinden sich in einer tiefen Krise. Klimawandel, Umweltzerstörung, gesellschaftliche Fragmentierung und soziale Ungleichheit stellen existenzielle Risiken für unsere Zivilisation dar. Und doch ist nicht klar, was wir konkret tun können, um diese Probleme zu lösen. Wir wissen, dass wir aufhören müssen, an den Symptomen herumzudoktern, und systemische Ansätze brauchen, die die tiefliegenden Ursachen unserer Probleme adressieren.

Ich glaube, dass unseren Krisen eine der gefährlichsten Ideen zugrunde liegt, die jemals im Westen entwickelt wurden. Diese Idee ist uns sehr vertraut. Sie erscheint uns natürlich und alternativlos. Sie bestimmt, wie wir denken, fühlen, uns verhalten und wie wir mit anderen interagieren. Sie prägt den Kern unseres Seins, die Natur unseres Wissens, die Textur unserer Träume und die Struktur unserer Gefühle.

Ich meine die Idee des westlichen Individualismus. Genauer gesagt den wettbewerbsbasierten Individualismus: die Vorstellung des Selbst als autonomer Akteur in feindlichem Gebiet, dessen Hauptaufgabe darin besteht, sich seine eigenen Vorteile und Ressourcen zu sichern, ungeachtet der Kosten für die Gemeinschaft.

Können wir wieder lernen, uns als etwas anderes zu sehen als selbstsüchtige, vergnügungshungrige Vorteilsjäger?

Um zu demonstrieren, dass Individualismus die einzig legitime Seinsweise ist, beruft man sich gewöhnlich auf die Schrecken einer bestimmten Art von politischem Kollektivismus, der mit Totalitarismus, Tyrannei und Konformismus assoziiert ist. Das Gespenst dieser Form des Kollektivismus aktiviert auch tiefere Grenzverletzungsängste – einen Horror vor dem Verschmelzen mit einer amorphen Masse, von der wir uns nicht mehr differenzieren können. Wir fürchten, irrelevante, auswechselbare Teile einer größeren, oft grausamen Einheit zu werden, die sogar bereit sein könnte, uns zu opfern, um die Interessen der Gruppe zu schützen.

Natürlich ist die Realität komplexer. Tatsächlich sind solche reduktiven Narrative der Kern des Problems. Die kollektive westliche Vorstellungskraft neigt dazu, im Individualismus nur das Gute (wie Menschenrechte, sozialer und technologischer Fortschritt, Kreativität und zivilgesellschaftliche Freiheiten) und nur die schlechten Eigenschaften eines spezifischen politischen Kollektivismus zu sehen. Aber dieses Schwarz-Weiß-Denken führt zum Verlust wertvollen Wissens, das uns Wege aus unseren Krisen aufzeigen könnte. Um sie zu adressieren, müssen wir uns in die Grauzonen wagen. Denn nur dort werden wir alternative Visionen finden, die möglicherweise die Schlüssel zu neuen Wegen des Seins in der Welt enthalten.

Unsere Krise der Vorstellungskraft schränkt unsere Fähigkeit ein, uns alternative Imaginarien auszudenken, die die stärksten Komponenten anderer Modelle kombinieren könnten. Uns fehlen sogar die Worte und Metaphern, um überhaupt über andere Formen des Ich- und Wir-Seins zu sprechen. ­Joseph Campbell schreibt: »Wenn du die Welt verändern willst, musst du die Metaphern ändern.« Können wir wieder lernen, uns als etwas anderes zu sehen als selbstsüchtige, vergnügungshungrige Vorteilsjäger? Können wir uns wieder als miteinander verbundene Teile größerer Einheiten wahrnehmen, als Teilnehmer am »Quantenjazz des Lebens«? Können wir uns beibringen, das Leben als Orchester oder Tanz statt als Kampf zu betrachten?

Die gute Nachricht ist, dass wir das Rad nicht neu erfinden müssen. Stattdessen können wir von den vielen bereits existierenden Modellen des relationalen Seins lernen. Wir können zum Beispiel von unseren präindividualistischen Vorfahren lernen – denen, deren Selbstkonzeptionen kontextuell und von den Gemeinschaften, denen sie angehörten, bestimmt waren. Lernen können wir auch von anderen Kulturen, die seit Jahrtausenden prosozialer sind als unsere, wie Japan und China, die von metaphysischen Traditionen geprägt sind, die das Selbst als von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt und fließend verstehen. Wir können uns auch viel von der Individualpsychologie der Altruisten und der Demütigen abschauen, denen das Wohl anderer mehr am Herzen liegt als ihr eigenes. Wir können uns von Tieren, Pflanzen und Ökosystemen sowie von verschiedenen spirituellen Traditionen zu komplexeren Formen der Kollaboration und des »Interbeing« inspirieren lassen. 

Es ist höchste Zeit, dass wir uns die vielen vorhandenen Modelle, die jenseits und zwischen den Polen Kollektivismus und Individualismus liegen, wieder genauer anschauen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es einen dritten Weg gibt, dass wir Wege des Seins entwickeln können und müssen, die das Beste aus beiden Ich- und Wir-Seinsmodellen – und allem, was dazwischen liegt – integrieren.  

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