By clicking “Accept All Cookies”, you agree to the storing of cookies on your device to enhance site navigation, analyze site usage, and assist in our marketing efforts. View our Privacy Policy for more information.
Lyla June hat indigene und europäische Wurzeln. Als Musikerin, Poetin, Rednerin, Gemeinschaftsorganisatorin, Studentin und Wissenschaftlerin erforscht sie die Weisheitslehre ihrer Ahnen. Wir sprachen mit ihr über die Kraft der Vergebung, das Trauma der Kolonialisierung und die Verbundenheit der Menschheit.
evolve: In deinen Ahnenreihen treffen sich verschiedene Traditionen. Wie hat das dein Leben und dein Engagement beeinflusst?
Lyla June: Traditionell stellen wir uns selbst zuerst mit dem Namen des Familienclans vor, von dem wir abstammen. In meiner Muttersprache ist das Diné Bizaas. Man kennt uns fälschlicherweise auch unter dem Namen Navajo. Ein Teil des Kolonialisierungsprogramms ist nicht nur die Umbenennung des Landes, sondern auch der Menschen. Wir sind die Ureinwohner der Region, die als New Mexico, Colorado, Utah und Arizona bekannt ist. Aber wir nennen es Diné Bizaas. Mein zweiter Stamm ist Tsétsêhéstâhese (Cheyenne), durch die Mutter meines Vaters. Der Vater meines Vaters ist ein europäischer Nachkomme, und soweit ich weiß, gibt es auch noch schottische Gene in mir, was ich gerade noch entdecke.
Mit diesem Hintergrund möchte ich der Welt von meinen Leuten berichten, denn wir sind so unsichtbar. Viele Amerikaner wissen nicht einmal, dass es uns in unserem eigenen Heimatland gibt. Aber es geht nicht nur darum, zu zeigen, wer wir sind und warum wir wichtig sind, sondern auch darum, der Welt Fähigkeiten, Prinzipien und Denkweisen zu geben, um unsere drängendsten Herausforderungen zu lösen.
Vergebung und Vereinigung sind die schnellsten Wege zur Heilung.
e: Du bist bekannt für eine Mischung aus Vortrag und Spoken-Word-Performance, die auch Hip-Hop und Rap-Musik einbindet. Wie bist du darauf gekommen, diese Kunstformen zusammenzubringen?
LJ: Bei uns ist es üblich, nicht in eine Schublade zu passen. Wir sind multidimensionale Wesen. Das gilt für alle Menschen, aber in unserer Kultur wird uns das eher zugestanden. Ich bin Musikerin, Doktorandin, Gemeinschaftsorganisatorin, Anthropologin und Pädagogin. Als Doktorandin veröffentliche ich wissenschaftliche Artikel und spreche den Verstand an. Als Musikerin spreche ich das Herz der Menschen an. Und in einer Spoken-Word-Performance spreche ich die Seele der Menschen an.
e: Dein Song »All Nations Rise« hat tausende von Hörern erreicht. Ich war fasziniert von seiner Botschaft: nicht zwischen verschiedenen Nationen zu trennen, sondern die ganze Menschheit als unterwegs auf einer gemeinsamen Mission zu betrachten. Was hat dir die Kraft gegeben, über all das Leid, das deinem Volk und deiner Tradition zugefügt wurde, hinauszugehen?
LJ: Ich durfte glücklicherweise von Stammesältesten und Menschen wie Desmond Tutu oder Martin Luther King lernen, dass Hass uns nicht befreit. Im Song »All Nations Rise« sage ich: »Hier geht es nicht mehr um Cowboys gegen Indianer, hier geht es um alle wunderschönen Völker der Erde zusammen auf derselben Seite, und diesmal kämpfen wir nicht gegeneinander, sondern zusammen gegen unsere Angst.« Ich denke, das war schon immer so. Wir tun so, als wären wir gegeneinander, aber am Ende haben wir immer gegen unsere Angst gekämpft und unsere Angst gegen andere Menschen ausagiert. Unsere Angst ist unser eigentlicher Feind.
Meine Leute wurden fast vernichtet, meine Großmütter wurden systematisch vergewaltigt in Lagern, die die amerikanische Regierung betrieben hat. Meine Vorfahren wurden abgeschlachtet, auch wenn sie sich ergeben hatten. Es gibt also vieles, das Hass rechtfertigt. Aber Vergebung und Vereinigung sind die schnellsten Wege zur Heilung dessen, was geschehen ist. Denn dieses Leid ist in erster Linie durch Trennung entstanden.
e: Es berührt mich sehr, von dir zu hören, wie du und dein Volk gelitten haben. Und ich verstehe, warum es heilsam ist, zu vergeben. Was hilft dir dabei, diesen Schritt zu tun?
LJ: Weil mir vergeben wurde. Ich begann mit Drogen, als ich elf Jahre alt war. Alle um mich herum waren Drogendealer, und ich wurde schlimm missbraucht in jeder Weise, in der man ein Mädchen missbrauchen kann. Und so wurde ich zu einem schlechten Einfluss. Gott hätte sagen können: »Oh Lyla, du bist ein böses Mädchen, Drogen sind illegal und du gehörst ins Gefängnis!«, aber stattdessen las Gott mich auf und sagte: »Es tut mir leid, dass du durch all das gegangen bist. Und ich liebe dich. Lass mich dir helfen, wieder auf die Füße zu kommen.«
Folglich sage ich nicht zu den europäischen Kolonialherren: »Ihr habt meine Vorfahren umgebracht, geht zur Hölle!« Stattdessen sage ich: »Oh mein Gott, es tut mir so leid, dass eure Leute auch abgeschlachtet wurden. Es tut mir leid, dass eure Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Es tut mir leid, dass das Römische Reich eure Sprachen zerstört hat. Es tut mir leid, dass eure Leute in Folterkammern gelitten haben. Es tut mir leid, dass eure Frauen systematisch vergewaltigt wurden. Und es tut mir leid, dass ihr so sehr verletzt wurdet, dass ihr vergessen habt, wer ihr seid, und zu uns gekommen seid und uns genau das angetan habt, was euch angetan wurde. Und ich bete für eure Heilung.« Das ist eine passendere Darstellung dessen, was geschehen ist, als zu sagen: »Oh, ihr schlechten Menschen.« Niemand wacht morgens auf und beschließt, einen Genozid an einer ganzen Nation zu begehen. Das ist kein natürliches menschliches Bedürfnis. Du musst gebrochen worden und psychologisch zerrissen sein, bevor du so etwas tun willst.
e: Du bist eine Fürsprecherin deines Volkes. Wurdest du von den Stammesältesten dazu beauftragt?
LJ: Ja und nein. Mir wurde von den Ältesten zu verstehen gegeben, dass ich hier bin, um meine Gemeinschaft zu unterstützen und ihr zu dienen. Auf der anderen Seite wurde meine Führungskraft zu einem großen Teil nicht unbedingt durch eine noble Haltung inspiriert, sondern durch Unsicherheit. Ich glaubte, dass ich etwas sein musste, und begriff nicht, dass ich bereits jemand war.
Als Indigene wurden wir so abgewertet, dass wir oft die Notwendigkeit gespürt haben, den anderen das Gegenteil zu beweisen. Mein Großvater ging also auf eine der besten Unis der USA, die Stanford University. Ich bin seinen Fußstapfen gefolgt. Aber heute verstehe ich, dass ich nichts beweisen muss. Was zählt, ist, anderen zu helfen und meiner Gemeinschaft Kraft zu geben. Und wenn das durch meine Stimme gelingt: großartig. Ich möchte die Menschen meines Stammes und ihre Weisheit vertreten.
e: Du promovierst derzeit an der University of Alaska, Fairbanks, in Indigenous Studies mit dem Schwerpunkt Revitalisierung indigener Lebensmittelsysteme. Kannst du uns etwas über die Absicht dieser akademischen Arbeit erzählen?
LJ: Meine Absicht ist es, den Mythos der »primitiven Indianer« zu widerlegen und richtig zu stellen, dass die Ernährungssysteme der Ureinwohner in vielerlei Hinsicht weitaus fortschrittlicher waren als die heutigen Systeme. Die größere Absicht ist jedoch, Prinzipien und Praktiken zu erforschen und zu vermitteln, die wir nutzen können, um Lösungen für die Krisen zu entwickeln, in denen wir uns heute in Bezug auf Ernährung, Klima, Ökologie und Wirtschaft befinden.
Das Gespräch führte Gerriet Schwen.
Author:
Gerriet Schwen
Share this article:
Related Articles:
Gemeinsam wachsen und experimentieren
In der Lebensweise Community wird online, in Regionalgruppen und Community-Treffen ein neues Miteinander gelebt und erprobt. Wir sprachen mit der Impulsgeberin Vivian Dittmar und der Community-Hüterin Lina Duppel über die Chancen und Risiken von Gemeinschaft.