By clicking “Accept All Cookies”, you agree to the storing of cookies on your device to enhance site navigation, analyze site usage, and assist in our marketing efforts. View our Privacy Policy for more information.
Immer mehr progressive Universitäten experimentieren damit, das Korsett des üblichen Fächerkanons zu durchbrechen. Sie verbinden den rationalen Zugang zu Wissen und Methoden mit Erfahrungsräumen, in denen die Studierenden auch imaginative Qualitäten entfalten können. Die Hochschulen Alanus und Cusanus etwa experimentieren damit, wie Kunst im Kontext von Ökonomie und Betriebswirtschaft die Wahrnehmung und die Handlungsmöglichkeiten weitet.
Unser Bildungssystem ist sehr gut darin, kognitive Fähigkeiten zu schulen und Fachwissen zu vermitteln. Doch wir erleben heute, wie viele unserer Systeme, gefangen in diesem beengenden Pragmatismus, an ihre Grenzen stoßen oder sogar zerbrechen. Wie können wir zu einer ganzheitlicheren Wahrnehmung der Fragen unserer Zeit finden? Wie mit einer Kreativität auf sie antworten, die auch die tieferen Schichten des Lebens berührt und mehr Verbundenheit möglich macht? Silja Graupe ist Ingenieurin und sie liebt Zahlen. Doch als Professorin für Ökonomie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung betrachtet sie die Festlegung ihres Faches auf eine rein mathematische Wissenschaft zunehmend als Gefahr. »Die bildlich-imaginäre Vorstellung, wie etwas aussehen soll, ist bei vielen Menschen, die Transformation bewirken wollen, vernichtet. Diese Visionslosigkeit stellt ein großes gesellschaftliches Problem dar. Unmittelbares Wahrnehmen verbindet uns mit einer ursprünglichen Quelle, die mit Mathematik gar nicht erreichbar ist, weil diese erfahrungsunabhängig ist«, sagt sie. Mit ihrem Projekt »Mit Kunst Ökonomie transformieren« versucht Graupe, diese sinnliche Verarmung aufzubrechen.
Wenn sie mit ihren Studierenden einen Film wie »Ich, der Bleistift« näher betrachtet, der den Neoliberalismus und das freie Spiel der Märkte mit eingängigen Bildern und stimulierender Musik verherrlicht, geht es ihr darum, die Sinne wieder dafür zu öffnen, wie Bilder und Musik unsere Wahrnehmung formen. Ihre Erfahrung dabei: »Wenn Studierende erkennen, wie sie durch Bilder beeinflusst werden, können sie lernen, sich dem zu widersetzen und Wandel selbst zu gestalten.« Gerne zeigt sie dem Ökonomie-Nachwuchs das Foto einer Frau, die mit einem Becher vor sich auf dem Boden sitzt: »Viele sehen in dem Bild zuerst das Stereotyp der Bettlerin. Die Frau könnte aber auch einfach dasitzen und einen Kaffee trinken.« Sich den eigenen Vorurteilen im Spiegel von Bildern auszusetzen, befreit von Denkschablonen, wie sie nicht zuletzt in vielen Ökonomie-Lehrbüchern vermittelt werden. »Wenn ich mein eigenes Bild von einer Situation verändere, ergibt sich eine andere Möglichkeit von Begegnung. Und das weckt eine neue Imaginationskraft«, sagt Graupe.
Künstlerische Impulse durchbrechen das rein kognitive Begreifen, das sich auf Bestehendes aus der Vergangenheit richtet und dessen Strukturen weiterträgt. Die Imagination zu schulen, hilft dabei, Fragen an die Geschichte zu stellen. Und die ästhetische, innere Kraft, die hierbei erwächst, lässt uns vielleicht neue, ja schönere Geschichten erzählen. Graupe etwa möchte in einem narrativen Projekt zur Corona-Pandemie Menschen fragen: »Was wirst du deinen Enkeln erzählen, was du in der Krise gestaltet hast?« Ihre Hoffnung dabei ist, dass durch diese Frage neue Interpretationsmöglichkeiten entstehen und damit auch neue Landkarten der Imagination.
Die Möglichkeiten des Schönen bewusst als öffnende Impulse zu integrieren, bedeutet auch, dass Studierende nicht nur »etwas« lernen im Sinne von sich aneignen und begreifen, sondern auch sich selbst besser kennenlernen und menschlich wachsen. »Kunst fördert es, Potenziale zu erkennen, die man noch nicht entwickelt hat«, sagt Ulrich Maiwald, Professor für performative Kunst und Sprache an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft. Künstlerische Erfahrungsräume sind bei Alanus wesentlicher Bestandteil der Lehre, beispielsweise in Bachelor-Studiengängen zu »Philosophie, Kunst und Social Entrepreneurship« sowie »Wirtschaft und Schauspiel«. Ästhetische Bezüge werden hier zum persönlichkeitsbildenden Moment, denn um in der Gesellschaft Veränderungen zu bewirken, ist nicht nur relevant, was wir wissen, sondern gleichermaßen, wie wir dem Leben begegnen. »Mich beeindruckt es immer wieder, wie sehr sich die Studierenden dem künstlerischen Prozess zur Verfügung stellen. Beim Lernen aus Büchern muss ich mich nicht so völlig aufs Spiel setzen, wie ich das beispielsweise auf der Bühne tue«, erzählt Maiwald.
DIE TIEFERE BERÜHRUNG DES LEBENS VERÄNDERT DEN SINN FÜR DAS, WAS SICH ALS SCHÖNES ODER WÜNSCHENSWERTES ZEIGEN KÖNNTE.
Während gesellschaftliche Projekte häufig mit einem konkreten Ziel beginnen, meist einem Problem, das man lösen möchte, setzen sich die Studierenden in Theaterprojekten oder öffentlichen Performances zunächst einmal dem aus, was ist. Ihre künstlerische Absicht wird zum Startpunkt für einen offenen Prozess, in dem sich etwas Neues entfalten kann, im Außen wie in den Beteiligten selbst. »Wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen, treten sie in einen Resonanzprozess. Sich der Grenzüberschreitung auszusetzen, gibt ein neues Selbsterleben. Das ist eine ganz neue Bewusstwerdung«, so Maiwald. Diese innere Offenheit und die tiefere Berührung des Lebens verändern auch den Sinn für das, was sich als Schönes oder Wünschenswertes zeigen könnte. Es ist dann nicht mehr eine Idee, die versucht, sich des Hässlichen oder Falschen zu entledigen, sondern es zeigt sich, wenn man die vorgefundenen Reibungspunkte einbezieht. »Vieles, was uns zunächst disharmonisch erscheint oder provoziert, erwächst aus einer größeren Beziehung, die es auf eine bestimmte Weise stimmig macht. Im Schauspiel unterstützt ein Bruch der Szene die gemachte Aussage, das eigentlich Sinnhafte«, so Maiwald.
Die Installation »It is like it is«, die Alanus-Student Dennis Meseg zur Corona-Pandemie in verschiedenen Städten zeigt, spielt in diesem Sinne mit den Zumutungen unserer Zeit. Eine Gruppe mit rot-weißem Flatterband umwickelter Schaufensterpuppen bringt in die Sichtbarkeit, was uns alle beschäftigt und ratlos macht. »Die Betrachter sind tief berührt. Einige haben sogar Tränen in den Augen. Ihnen scheint ihre aktuelle Situation viel bewusster zu werden. Wenn sie vor der Installation stehen, platzt plötzlich der Knoten«, sagt Meseg. Durch die Risse in uns selbst und der Gesellschaft, die sich nicht einfach kitten lassen, scheint im Angesicht der Kunst wieder Licht zu fallen. Oft sind es spontane Öffnungen wie diese, die uns die Welt mit anderen Augen sehen lassen. Und die uns vielleicht die Zuversicht vermitteln, in eine bessere Möglichkeit hineinleben zu können, ohne sie bereits im Detail zu kennen.
Author:
Dr. Nadja Rosmann
Share this article:
Related Articles:
Gemeinsam wachsen und experimentieren
In der Lebensweise Community wird online, in Regionalgruppen und Community-Treffen ein neues Miteinander gelebt und erprobt. Wir sprachen mit der Impulsgeberin Vivian Dittmar und der Community-Hüterin Lina Duppel über die Chancen und Risiken von Gemeinschaft.