Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
July 18, 2022
Iain McGilchrist ist bekannt geworden für seine neuen Entdeckungen zur unterschiedlichen Aufmerksamkeit unserer linken und rechten Gehirnhälfte. Diese Erkenntnisse haben ihn zu einem neuen Verständnis der Ganzheit und Verbundenheit mit der Welt geführt. Ein zentrales Element darin ist der Sinn für das Heilige. Kann dieser Sinn heute wieder Teil unserer Gesellschaft werden?
evolve: In Ihrem neuen Buch sprechen Sie von einem Sinn für das Heilige, einem Begriff, dem im modernen kulturellen Diskurs ein gewisses Tabu anhaftet. Wir können über Ethik, Werte, Menschlichkeit sprechen, aber über das Heilige zu sprechen ist schwierig, denn man läuft Gefahr, in eine konservative oder fundamentalistische Ecke gestellt zu werden. Wenn Sie von einem Sinn für das Heilige sprechen, was meinen Sie damit und warum halten Sie es für wichtig?
Iain McGilchrist: Ja, Philosophen, die mein Buch gelesen haben, haben mich davor gewarnt, das Kapitel über den Sinn für das Heilige mit aufzunehmen. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen. Ich bin gegen jede Art von Fundamentalismus und denke, dass fundamentalistischer Atheismus und fundamentalistischer Theismus haarscharf beieinander liegen. Sie haben die gleiche dogmatische Einstellung, eine Einstellung, mit der man sich der Idee des Heiligen nicht nähern kann. Doch ich glaube, dass Menschen ein intuitives Gespür für etwas haben, das schwer in Worte zu fassen ist und über die reduktionistische, materialistische Sichtweise hinausgeht, die von der Mainstream-Wissenschaft und Mainstream-Philosophie in der Populärkultur vertreten wird.
Ich wurde nicht gläubig erzogen. Meine Eltern haben mich nie in die Kirche mitgenommen, aber ich bin auf eine Schule gegangen, die ursprünglich auf einer klösterlichen Stiftung aus dem 14. Jahrhundert beruhte. Es gab dort noch Kreuzgänge und eine Kapelle, und ich empfand sehr stark die Rituale und die Musik der Religion, das schöne, heilige Gefühl eines Ortes, an dem Menschen über Dinge nachgedacht haben, die über das hinausgehen, was wir in der alltäglichen Welt unmittelbar vorfinden. Für mich gibt es ein Gefühl, einen Sinn, der sich nicht intellektuell, emotional, ethisch oder sonst wie hervorrufen lässt.
Ein ähnliches Empfinden, das sich nur mit dem Begriff »heilig« ausdrücken lässt, entsteht durch die sakrale Poesie oder die polyphone Musik des 16. und 17. Jahrhunderts in England. Wenn Sie diese Musik hören, spüren Sie, dass zu Ihrer Seele gesprochen wird. Das Medium der Sprache ist nicht sehr gut geeignet, um dem Heiligen Ausdruck zu geben. Wir sind in einer Kultur aufgewachsen, die fast ausschließlich durch die Art des Verstehens der linken Gehirnhälfte geprägt ist und in der Begriffe immer klar definiert werden. Beim Heiligen ist das völlig anders. Wir nähern uns etwas, von dem wir glauben, dass es wichtig ist – und das Wichtigste daran ist, dass wir es nicht ganz in Worte fassen können. Und doch ist es da, ist sehr real. Es spricht zu uns, wir antworten darauf.
Die linke und rechte Hemisphäre
Vielleicht sollte ich kurz auf den Unterschied zwischen den beiden Hemisphären des Gehirns eingehen, denn darauf werde ich mich immer wieder beziehen. Viele Menschen glauben zu wissen, was die linke und die rechte Hemisphäre charakterisiert, und dass diese Unterscheidung in den letzten Jahrzehnten über Bord geworfen wurde. Diese ursprünglichen Unterscheidungen waren vereinfacht und haben sich als falsch erwiesen. Aber es gibt trotzdem Unterschiede zwischen den Hemisphären, die extrem wichtig sind. Sie beziehen sich auf die Art der Aufmerksamkeit, mit der jede der beiden die Welt beobachtet und betrachtet. Die Entwicklung dieses Unterschieds war ein Mechanismus der Evolution und wichtig für das Überleben. Jedes Lebewesen muss in der Lage sein, sich auf Details zu konzentrieren, zum Beispiel auf das, was es fressen will oder darauf, wie Dinge zu tun sind. Also zum Beispiel das Kaninchen zu fangen, das es fressen möchte, oder den Zweig aufzuheben, mit dem es einen Unterschlupf bauen will. Das ist die Aufgabe der linken Gehirnhälfte. Doch wenn das alles wäre, was das Gehirn macht, könnte es passieren, dass dieses Lebewesen dabei selbst zum Mittagessen eines anderen Lebewesens wird. Während es also die Details genau im Auge behält, muss es gleichzeitig auch auf alles andere achten, was vor sich geht. Das ist die Aufgabe der rechten Hemisphäre. Sie ist für die offene und umfassende Wachsamkeit zuständig, richtet die Aufmerksamkeit auf die gesamte Situation, hält einfach Ausschau, ohne Vorstellungen davon, was da sein oder kommen könnte. Zunächst hat mir nicht eingeleuchtet, wie wichtig dieser Unterschied in der Art der Aufmerksamkeit tatsächlich ist. Ich erkannte zwar die wissenschaftliche Relevanz, aber ich konnte nicht die ganze Bedeutung dieses Unterschieds in philosophischer Tiefe erfassen.
¬ DAS MEDIUM DER SPRACHE IST NICHT SEHR GUT GEEIGNET, UM DEM HEILIGEN AUSDRUCK ZU GEBEN. ¬
Doch die Philosophie erklärt uns, dass das, was wir in der Welt sehen, davon abhängt, wie wir sie betrachten. Wenn man sie mit einer bestimmten Art von Aufmerksamkeit betrachtet, sieht man die Dinge entsprechend. Betrachtet man sie mit einer anderen Art von Aufmerksamkeit, sieht man etwas ganz anderes. Betrachten Sie ein Bild auf die Art der linken Hemisphäre, dann achten Sie auf winzige Fragmente. Sie sehen, wie die Welt aus atomistischen Elementen besteht, die isoliert und leicht zu erfassen sind, einfach, losgelöst aus ihrem Kontext, unbeweglich, schwarz-weiß und abstrakt. Diese Elemente sind wie die Details einer Landkarte in Bezug auf die Landschaft, die kartiert wird.
Die rechte Hemisphäre dagegen sieht die Landschaft, sieht die Welt und nicht die Karte, und in dieser Welt ist alles mit allem verbunden. Sie ist ständig im Fluss und verändert sich. Die meisten wichtigen Dinge sind unweigerlich implizit. Dinge, die wir sehr wertschätzen, wie die Liebe, die wir für jemanden empfinden, die Bedeutung eines Gedichts, eines Witzes oder die Bedeutung von Musik – all diese wunderbaren Dinge, einschließlich des Heiligen – beinhalten vieles, das nicht in Worte gefasst werden kann, nicht eindeutig oder explizit ist. Und wenn man sie zu erklären versucht, werden sie zerstört. Die rechte Hemisphäre betrachtet die Welt als aus verschachtelten Ganzheiten bestehend: Was auf einer Ebene wie ein Teil aussieht, ist auf einer anderen Ebene ein Ganzes. Während die linke Hemisphäre also explizit und computerähnlich denkt und versteht, sieht die rechte die Dinge als miteinander verbunden, lebendig, sich verändernd und als Ausdruck von etwas, das implizit ist.
Wenn man einen Computer mit einem guten Lexikon und den Regeln der Syntax programmiert, kann er Sätze konstruieren, die uns sinnvoll erscheinen. Für mich ist das Gehirn weit mehr als ein Computer, und doch haben wir eine Art Computer in unserem Kopf, nämlich die linke Hemisphäre. Wie ein Computer ist sie sehr gut darin, Berechnungen und bekannte Verfahren schnell auszuführen, auch wenn sie das Material nicht vollständig versteht. Die rechte Hemisphäre dagegen versteht, was sie sieht, und gibt es an die linke zur Verarbeitung weiter. Dann nimmt sie das verarbeitete Material und baut es in ein neues Ganzes ein.
Im Laufe der Entwicklung der westlichen Zivilisation haben wir dreimal eine umfassende Harmonisierung zwischen der rechten und der linken Hemisphäre erlebt, aus der die ersten Fortschritte in der Wissenschaft, wundervolles Theater, die Poesie, ein moralischer Kodex und viele andere Dinge entstanden, zuerst in Griechenland, dann in Rom und jetzt in unserer eigenen Zivilisation, besonders während der Renaissance. Doch seitdem hat die bürokratische Denkweise die Welt zu sehr vereinfacht. Es ist die Betrachtungsweise der linken Hemisphäre, die Verwaltungen oder die Bürokratie kennzeichnet, und in der bestimmte Situationen routinemäßig in Algorithmen eingepasst werden.
Ein Kennzeichen des Heiligen ist aber, dass es sich nur sehr schwer in Worte fassen lässt. Niels Bohr, einer der Begründer der Quantenphysik, sagte, die Physik könne, ebenso wie die Religionen, nur in der Sprache der Poesie ausgedrückt werden. Was nicht heißt, dass Physik oder Religion nicht real sind, sondern dass Poesie eben die einzige Weise ist, in der sich das ausdrücken lässt. Poesie beinhaltet hier nicht nur die literarische Form, sondern auch Mythen, Erzählungen, Rituale oder Musik – eben alle indirekten Formen des Ausdrucks.
Die Welt wieder sehen
e: Man kann sein Verständnis von Liebe auf poetische Weise ausdrücken, und niemandem fällt es schwer, über universelle Liebe zu sprechen. Doch wenn wir über das Heilige sprechen, scheinen wir uns auf ein schwieriges Gebiet zu begeben. Warum ist das so und warum ist das Heilige so wichtig?
IMcG: Es ist schwierig, weil man uns glauben gemacht hat, real sei das, was man von außen beobachten und messen kann. Doch das ist völliger Unsinn. All diese Dinge, die ich erwähnt habe, können nicht von außen beobachtet und gemessen werden, sind aber Teil unserer Erfahrung. Doch wenn Ihnen jemand sagt, dass etwas nicht existiert, werden Sie es auch nicht sehen können. Als Thomas Cook mit seinem Schiff vor der Küste Neuseelands ankam, war er überrascht, dass die Menschen das riesige Schiff, das da auf dem Meer aufgetaucht war, gar nicht zu bemerken schienen und einfach weiter ihrer Arbeit nachgingen. Erst als er kleine Ruderboote ins Wasser ließ, um ans Ufer zu rudern, entstand Aufregung, denn kleine Boote konnten die Menschen erkennen. Nur das große Schiff konnten sie nicht sehen.
Es gibt etwas, das wir im Englischen als »den Elefanten im Raum« bezeichnen. Das bedeutet, dass eine Sache so offensichtlich ist, dass wir sie einfach nicht bemerken. Für mich ist das Heilige mit dem Gewebe des Seins verwoben, es ist Teil der Natur dieser Welt. Wir sehen es nur nicht mehr, weil wir auf eine Weise erzogen oder besser gesagt »fehlgebildet« wurden, die die Möglichkeit des Heiligen ausschließt.
Doch ohne einen Sinn für das Heilige werden wir überheblich und arrogant. Wir denken, wir wüssten alles. Wir denken, dass wir in alles eingreifen und es besser machen können. Wir haben das Gefühl der Ehrfurcht oder des Staunens vor dem, was existiert, verloren. Wir haben das Mitgefühl und die Demut verloren, die einen wirklich spirituellen Zugang zur Welt kennzeichnen. Wenn wir unsere Augen für die Welt öffnen, beginnen wir, sie auf eine viel umfassendere und bereicherndere Art wahrzunehmen.
e: Durch unsere naturwissenschaftliche Bildung wurden wir trainiert, die Welt nur mit einer der Gehirnhemisphären zu betrachten. Doch selbst in wissenschaftlichen Konzepten verwenden wir holistische Begriffe. Es gibt keine Möglichkeit, die Realität nur analytisch zu erforschen. Wir wissen, dass es Wahrnehmung gibt, Konzepte, aber auch Vorstellungskraft, die nur in Formen von Ganzheit existieren. Wenn wir diese wirklich zu schätzen wissen, sehen wir Dinge, die wir vorher nicht gesehen haben.
IMcG: Es ist gut, dass Sie die Vorstellungskraft erwähnen, denn sie ist äußerst wichtig und nicht zu verwechseln mit Fantasie. Fantasie kann uns von der Realität wegführen, aber die Vorstellungskraft ist unsere einzige Möglichkeit, die Realität zu entdecken. Ein Unterschied zwischen den beiden Hemisphären besteht darin, dass die rechte Hemisphäre die Welt mit all ihrem Reichtum und ihrer Komplexität für uns zum Leben erweckt. Die linke Hemisphäre hingegen sieht eine Re-Präsentation, das heißt, etwas, das nicht mehr präsent ist, ein Modell, eine Karte, ein Schema. Eine Landkarte ist eine feine Sache, mit der linken Hemisphäre ist alles in Ordnung. Aber Sie wären ein Narr, wenn Sie die Karte mit der Landschaft verwechseln würden, die sie abbildet. Sie enthält nur einen winzigen, winzigen Bruchteil der Informationen über die Welt, die sie abbildet.
Und da stehen wir heute: Wir schauen die Karte an und denken, sie sei ein Bild der Welt. Aber das ist sie nicht. Sie ist wie die trockenen, zersplitterten Knochen eines Skeletts im Vergleich zu einem lebendigen Menschen. Wir vermissen also etwas, empfinden Leere in unserem Leben. Daher die sogenannte Sinnkrise. Wir haben unser Verständnis der Welt reduziert durch eine erbärmlich vereinfachte Art des Denkens: nur kleine Steinchen, die in einem sinnlosen Universum herumfliegen. Und wir kommen für eine Weile irgendwie hinein und gehen dann irgendwie wieder hinaus, ohne etwas getan oder erreicht zu haben. Doch ich glaube das ganz und gar nicht, und ich glaube nicht, dass die Menschen auf dieses völlig naive, philosophisch simple Bild hereinfallen würden, wenn sie auf ihre Intuition und Vorstellungskraft vertrauen würden.
Jenseits der Repräsentation
e: Sie haben etwas sehr Entscheidendes gesagt, nämlich es sei kontra-intuitiv, die Vorstellungskraft als eine Form zu bezeichnen, die Realität wahrzunehmen. Wenn man in der Alltagssprache sagt: »Ich stell mir etwas vor«, bedeutet das, dass es nicht existiert. Doch Sie sagen genau das Gegenteil. Warum ist die Vorstellungskraft keine Fantasie, sondern etwas, das uns erlaubt, mehr von der Realität zu sehen?
¬ FÜR MICH IST DAS HEILIGE MIT DEM GEWEBE DES SEINS VERWOBEN, ES IST TEIL DER NATUR DIESER WELT. ¬
IMcG: Fantasie kleidet die Wirklichkeit in schöne Kleider und verdeckt sie dadurch. Vorstellungskraft schaut tief in die Wirklichkeit hinein und sieht sie zum ersten Mal. Der Dichter Wordsworth erkannte, dass die Welt, als er jung war, ehrfurchtgebietend war. Er wanderte über die Hügel und die Berge, an den Seen und den Wasserfällen vorbei, und sie waren für ihn echt, lebendig und spürbar präsent. Als er älter wurde, wurden sie zu Re-Präsentationen. Das passiert so schnell: Man sieht eine schöne Landschaft, und anstatt von ihr ergriffen zu sein, sagt man: »Oh, ja, eine malerische Landschaft, die hab ich verstanden.« Man steckt sie in eine Kategorie und das war's. Fertig. Sie ist nicht mehr präsent, weil sie in Ihrem Kopf als Abstraktion re-präsentiert wird.
Wenn man dagegen versucht, das Geschwätz des Verstandes zum Schweigen zu bringen und endlich präsent zu sein und die Landschaft als das zu sehen, was sie ist, wird die Welt wieder frisch, wird ein Schleier von ihr genommen. Dies wird oft von Menschen beschrieben, die meditieren, und auch von großen Dichtern oder eben Physikern.
e: Ja, bei diesem Prozess, in dem man etwas erst mit Ehrfurcht sieht und dann zur Re-Präsentation übergeht, geht etwas verloren.
IMcG: Es geht alles verloren.
e: So ist es. In dem Wort Ehrfurcht steckt etwas, das mich sehr an die Definition des Heiligen von Rudolf Otto erinnert. Man könnte sagen, dass ehrfürchtig ergriffen zu sein an sich schon bedeutet, die heilige Natur aller Dinge zu erkennen. Wenn wir alles nur re-präsentieren, verlieren wir diese Haltung.
IMcG: Ehrfurcht zu empfinden, ist sehr wichtig. Sowohl Platon als auch Aristoteles sagten, dass die Philosophie mit Staunen oder Ehrfurcht beginnt. Und Goethe sagte, dass die Philosophie mit Staunen beginnt und mit Staunen endet, was eine noch tiefere Einsicht ist.
Das Heilige als Privatvergnügen?
e: In unserer Kultur ist es völlig in Ordnung, wenn ich privat Ehrfurcht empfinde, wenn ich diese Erfahrung in der Kunst, im Museum, in einem Konzert oder der Natur mache. Doch wenn wir darüber sprechen, was uns als Gesellschaft zusammenhält, dann hat das Heilige aus dem Bild zu verschwinden. Das Empfinden des Heiligen ist also als Privatvergnügen gestattet, doch wenn es darum geht, was relevant dafür ist, wie wir als Menschheit auf diesem Planeten zusammenleben, dann stellt man es außerhalb des Diskurses. Ist das nicht Teil unseres Dilemmas?
IMcG: Ja. Es ist verständlich, dass Menschen sich nicht auf eine bestimmte religiöse Position festlegen wollen, wenn diese Aussagen beinhaltet, die für sie nicht annehmbar sind. Aber beim Sinn für das Heilige geht es nicht um bestimmte Aussagen, sondern um eine Haltung gegenüber der Welt. Für eine Gesellschaft ist es von großem Vorteil, eine Religion zu haben. Theoretisch sollten auch Menschen, die keinerlei Sinn für das Transzendente haben, in der Lage sein, sich ethisch zu verhalten, und einzelnen Menschen ist das auch möglich. Wenn aber eine Gesellschaft keinen Kompass hat, keine Ahnung, wohin sie geht, was sie tun soll, wird sie auseinanderfallen. Und das geschieht jetzt im Westen in zunehmendem Tempo. Ich stimme Solschenizyn zu, der sagte: »Wenn ich am Ende auf all die Gewalt, die Grausamkeit und das Schreckliche der letzten hundert Jahre zurückblicke, dann gibt es nur eine Erklärung für mich: Die Menschen haben Gott vergessen.«
Die Frage ist jedoch, was wir mit Gott meinen. Gott wird mit allen möglichen Bildern assoziiert, die an sich schon abschreckend sind, zum Beispiel ein alter Mann auf einer Wolke oder ein Tyrann. Doch all das hat nichts mit dem zu tun, was Gott wirklich ist. In vielen Religionen darf das Wort Gott nicht verwendet werden. Denn sobald man ein Wort dafür hat, glaubt man, verstanden zu haben. Selbst das Taoteking beginnt mit den Worten: »Das Tao, das man benennen kann, ist nicht das wahre Tao.« Und der heilige Augustinus sagte: »Wenn du Gott verstehst, dann ist es nicht Gott, den du verstanden hast.« Interessanterweise gibt es eine schöne Parallele zu dem Physiker Richard Feynman, der sagte: »Wer sagt, dass er die Quantenmechanik verstanden hat, hat sie nicht verstanden.« Wir bewegen uns also in einem Bereich, der schwer zu verstehen ist und sich nicht mit Sprache ausdrücken lässt. Ich mache Menschen auf Dinge aufmerksam, von denen sie wissen, dass sie sie erlebt haben, und mache ihnen klar, dass das mehr war als nur das Zwitschern von Neuronen in ihrem Kopf.
¬ OHNE EINEN SINN FÜR DAS HEILIGE WERDEN WIR ÜBERHEBLICH UND ARROGANT. ¬
e: Wie können wir uns in einer offenen Gesellschaft darüber verständigen? In traditionellen Gesellschaften war das einfacher. Es gab eine Tradition innerhalb eines bestimmten metaphysischen Kontextes, an den man glaubte und der die Gesellschaft zusammenhielt. Die wissenschaftliche Revolution hat diesen Rahmen gesprengt. Jetzt sind wir uns über das einig, was wir messen und objektivieren können. Für alles andere gilt: »Du kannst es machen, wie du willst«, aber es gibt nichts, worauf wir uns einigen, worauf wir unsere Gesellschaft aufbauen können.
Wie können wir als Gesellschaft das Heilige zu etwas machen, das für unser Zusammenleben auf diesem Planeten von Bedeutung ist? Solschenizyn hatte ein orthodoxes Verständnis des Christentums, dem die meisten Menschen aber nicht zustimmen werden, auch wenn sie seine Diagnose zutreffend finden. Wie lässt sich das verbinden, wenn wir einerseits anerkennen, dass es nicht darum geht, sich auf eine Tradition zu einigen und andererseits nicht alles auf das reduziert werden kann, was sich mathematisieren lässt? Das Dilemma ist: Wie kann das Heilige zu etwas werden, das nicht nur für mich privat, sondern für uns von gemeinsamer Bedeutung ist?
IMcG: Zunächst möchte ich auf den Begriff der Tradition eingehen, denn die Menschen glauben oft, dass Traditionen immer gleichbleiben. Doch eine Tradition ist etwas Lebendiges, das sich entwickelt und im Fluss ist. Sie ist eine Quelle des Lebens, denn sie verkörpert das, was unsere Vorfahren durch harte Erfahrungen an Weisheit gewonnen haben. Wenn man sich von einer Tradition abschneidet, schneidet man sich von der Möglichkeit einer sinnvollen Veränderung ab, die entsteht, wenn man zu einer Tradition gehört und sieht, wohin sie sich entwickeln will. Sie ist wie eine lebende Pflanze. Man wird sie an der Wand hochziehen und sie nicht mit den Wurzeln ausreißen und dann an die Wand kleben. Doch genau das haben wir getan, wir haben unsere Verbindung zum Heiligen abgeschnitten. Deshalb sind wir die ärmste Zivilisation, die je gelebt hat. Wir mögen großen materiellen Wohlstand genießen, aber wir haben jeglichen Bezug dazu verloren, wer wir sind, wo wir sind und was wir tun.
Aktive Empfänglichkeit
Jeden Tag bekomme ich E-Mails von Menschen, die sagen: »Vielen Dank für Ihre Arbeit, denn ich habe erkannt, dass die Welt auf einer tiefen Ebene wirklich so ist, aber ich war nie in der Lage, Worte zu finden, um das auszudrücken.« Ich glaube, die Menschen sind bereit zu erkennen, dass es etwas gibt, das ihnen fehlt, denn sie wissen es. Bei manchen psychischen Krankheiten ist der erste Schritt zur Genesung zu erkennen, dass man krank ist. Wenn Menschen ein Problem wahrnehmen, müssen sie erst einmal verstehen, was falsch ist, bevor sie etwas Neues versuchen können. Es kann sich eine völlig andere Welt auftun, die von den Neurowissenschaften, der Physik, der Philosophie und auch von den großen Weisheitstraditionen sowohl des Ostens als auch des Westens gestützt wird.
Auch Praktiken wie Meditation sind sehr wichtig. Sie können wie Portale zu dieser anderen Welt sein. Wenn die Menschen nur das ständige Geplapper des Affengeistes, wie er in der östlichen Tradition genannt wird, stoppen würden – dieser kleine Affe in der linken Hemisphäre, der ständig kommentiert und die Dinge in kleine Kästchen packt. Wenn man all diese Re-Präsentation stoppen und in der Realität präsent sein kann, dann ist das ein erster Schritt. Das heißt nicht, dass die Achtsamkeitsmeditation all unsere Krankheiten heilen wird, aber sie ist ein weiteres Werkzeug, das allen Menschen schon in der Schule beigebracht werden sollte.
Außerdem sollte es in religiösen Gruppen eine Offenheit für das Empfinden des Transzendenten geben. Im Christentum des Westens ging das fast völlig verloren. Ich bin aber gegen jede Art von Fundamentalismus, denn im Fundamentalismus spiegelt sich genau die Art und Weise, wie die linke Gehirnhälfte versucht, mit dem Empfinden für das Heilige umzugehen. Sie erkennt, dass es da etwas geben könnte, und will immer Recht haben und die Kontrolle behalten. Ihre Daseinsberechtigung besteht darin, dass sie uns zu mächtigen Manipulatoren der Welt macht. Sie sieht also das Heilige als eine Vergöttlichung ihrer eigenen Sichtweise der Welt, nämlich als den technischen Gott, der wie ein göttlicher Mechaniker alles überwacht und die Sache am Laufen hält. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was für mich – und auch für die großen mystischen Schriftsteller des Christentums und Judentums, des Buddhismus, Daoismus, Hinduismus und Sufismus – Religion bedeutet. Sie weisen alle auf dieselbe Realität hin.
e: Wie können wir dieses Verständnis heute wieder aufnehmen und beleben?
IMcG: Ich halte das Nicht-Wissen und die aktive Empfänglichkeit für wichtig. Die östlichen Traditionen haben das sehr klar erkannt. Wir im Westen müssen ständig etwas tun und sind von der Idee besessen, dass das, was wir tun, wichtig ist. Doch wir wissen heute, dass Nicht-Wissen ein wichtiger Schritt ist: zu erkennen, wie wenig wir wirklich wissen, und so den Raum zu schaffen, damit etwas in unser Leben treten kann, für uns ins Sein treten kann. Es geht mir nicht um eine bestimmte Wahrheit. Doch wenn wir uns für die Möglichkeit bestimmter Arten von Wahrheit öffnen, sind wir in der Lage, sie zu erforschen und zu sehen, ob sie mit der Erfahrung übereinstimmen oder nicht. Für mich und für eine große Zahl meiner Leser war diese Erfahrung befreiend. Es gibt also Hoffnung, denke ich.
¬ WIR HABEN DAS MITGEFÜHL UND DIE DEMUT VERLOREN, DIE EINEN WIRKLICH SPIRITUELLEN ZUGANG ZUR WELT KENNZEICHNEN. ¬