Lauschen auf das, was entstehen will

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Interview
Published On:

April 17, 2023

Featuring:
Rainer von Leoprechting
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Issue:
Ausgabe 38 / 2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Erfahrungen mit praktischer Weisheit

Rainer von Leoprechting hat als EU-Beamter, Organisations- und Führungskräfteentwickler, in der Aufstellungsarbeit sowie im Art of Hosting nach Wegen gesucht, Menschen und Systeme tiefer zu verstehen. Wir sprachen mit ihm über die Weisheit, die sich in einem solchen Wahrnehmen subtilerer Ebenen des Menschseins zeigen kann.

evolve: Du arbeitest heute in der Organisations- und Führungskräfteentwicklung und nutzt dabei die Aufstellungsarbeit. Zeigt sich in diesem Prozess für dich eine Form von Weisheit?

Rainer von Leoprechting: Wenn ich mit Aufstellungen arbeite, dann nutze ich eine schöpferische Vernunft. Es gibt keine Vorschrift, wie ich mich zu verhalten habe, außer dass jeder im Raum auf sein inneres Gespür achtet und den Impulsen folgt, die dann kommen. Kein Mensch weiß, woher diese Impulse kommen. Aber das ist ja auch so bei dir und mir, wenn wir dieses Gespräch führen. Wir spüren Impulse und folgen ihnen. Das ist also ein Prozess, der ständig stattfindet. In einer Aufstellung erhält dieser Prozess einen geschützten Raum und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Impulse und Einflüsse. Dadurch entsteht eine besondere Beziehung. Das ist kein magischer Raum in dem Sinne, dass uns eine übernatürliche Kraft irgendwohin schubst, sondern es ist ein tiefer Erkenntnisraum.

Ein ungeplanter Prozess

e: Ich finde es spannend, den Unterschied zwischen Wissen und Weisheit hier etwas auszuleuchten. Wissen hängt mit der diskursiven Vernunft zusammen, vielleicht auch mit kommunikativer Vernunft im Sinne eines herrschaftsfreien Diskurses, in dem die besseren Argumente gewinnen. In der Aufstellungsarbeit zeigt sich noch eine andere Qualität. Das Kraftvolle an dem Begriff der Weisheit ist ja, dass er auch in einer säkularen Welt bedeutsam ist. Selbst für einen materialistischen Atheisten ist es schwierig zu sagen: Weisheit ist eigentlich lächerlich. Gleichzeitig meint Weisheit eine andere Qualität als einfach eine hochentwickelte, hochkomplexe, multiperspektivische Vernunft. Wie würdest du diese Qualität beschreiben, die sich in solchen intuitiven Prozessen wie der Aufstellungsarbeit zeigt?

»The Art of Hosting ist Führen durch Raum geben.«

RvL: In der Aufstellung haben wir eine vollständige Wahrnehmung mit allen Sinnen. Auch das Denken ist beteiligt, ist aber nicht dominant, sondern ein Mitspieler unter vielen Einflüssen und Wahrnehmungen. Auch die Emotionen sind nicht leitend, sondern wir nehmen sie wahr und sie geben uns Impulse. Es ist also in dem Sinne durchaus ein vernünftiger Prozess. Dafür sollten wir vielleicht zwischen Verstand und Vernunft unterscheiden. Der Prozess ist nicht geplant. Es gibt kein Skript, sondern nur ein Gefühl dafür, was mich mehr anzieht, was mich abstößt. Darin zeigt sich, was in einem System entstehen will, welche Dynamik ­darin wirkt. Das System umfasst verschiedene Elemente, die miteinander etwas Gemeinsames bilden, das durch die Erfahrungen der Beteiligten wirkt. Hinzu kommen die Interventionen des Aufstellungsleiters, die von der Frage geleitet werden, was noch möglich ist, was sich nicht von alleine zeigt. Wir lassen gewissermaßen etwas aus dem Nichts entstehen. Wir geben dem System noch einen Impuls hinzu, der sich im System nicht von alleine entwickeln kann.

e: Es scheint, dass du in der Arbeit mit Organisationen und Führungskräften etwas in Menschen freilegst, dass du Öffnungen in ihre eigene Entwicklung leichter zugänglich machst. Was leitet dich in deiner Arbeit mit Führungskräften?

RvL: Ich kann es am ehesten als ästhetischen Prozess ansprechen. Es ist die Wahrnehmung des Kunstwerks Mensch oder Mensch und Organisation, das sich in einer gewissen Phase befindet. Ich versuche zu verstehen, was ich sehe. Und das gebe ich dann zurück. Ich hatte vor ein paar Tagen ein kognitives Interview mit einem Unternehmer aus Manila auf den Philippinen. Darin ging es über verschiedene Aspekte dessen, was er in seiner Arbeit tut. Während des Gesprächs unterbrach er das Interview und sagte: »Rainer, was du da machst, das ist ja genial. Das habe ich vorher noch gar nicht verstanden. Und du verbindest ja gerade die losen Enden. Jetzt sehe ich erst, was ich hier wirklich tue.« Meine Arbeit besteht also darin, erkennbar und sichtbar zu machen, was entstehen will. Und das ist die gleiche Dynamik wie in einem Aufstellungsprozess, wo ich schaue: Was ist in diesem System möglich? Was kann sich darin noch zeigen? Welcher Impuls kann einen Anstoß geben, damit sich das auch zeigt?

Vernunft und Ästhetik

e: Mit deiner Antwort hast du mich überrascht. Du sagst, es geht um Ästhetik, ums Schauen, um ein ästhetisches Urteil. In welcher Weise ist die Ästhetik ein Leitstern, um Entwicklung wahrzunehmen?

RvL: Es geht darum, was ich wahrnehme und was ich noch wahrnehmen könnte. In der Wahrnehmung dessen, was noch sein könnte, steckt das Potenzial. Ich möchte also sehen, was noch nicht sichtbar ist. Die Entwicklungsarbeit besteht darin, dem noch etwas mehr Raum und Platz zu schaffen, damit es herauskommt und verständlicher wird.

Dabei ist für mich die Vernunft nicht der Ästhetik untergeordnet, sondern die Ästhetik sorgt dafür, dass Vernunft mehr ist als Verstand. Sie ist der schöpferische Arm der Vernunft, der verstehende, aufnehmende und letztlich nicht-sprachliche Vermittler. Wogegen der Verstand sich in Zahlen, Fakten, Sprache ausdrückt.

»Die Ästhetik sorgt dafür, dass Vernunft mehr ist als Verstand.«

e: Wenn ich dir zuhöre, fällt mir die grundlegende Triade der abendländischen Philosophie ein, die Dreiheit des Wahren, Schönen und Guten. Vernunft und Ästhetik, das Wahre und das Schöne gehören zusammen und auch das Gute gehört dazu. Man könnte vielleicht sagen, dass wir jemandem, der oder die das Wahre, Schöne und Gute verwirklicht, Weisheit zugestehen.

RvL: Ja, in dieser Einheit kommt das Erkenntnismotiv der Verstandeswahrheit mit der Schönheit der Wahrnehmung des Phänomens zusammen. Und das in praktischer Absicht, um zu wissen, was das Gute ist, das wir tun können. Wenn das zusammenkommt, kann man schon von Weisheit sprechen.

Gastgebende des Raumes

e: Ein wichtiger Bestandteil deiner Arbeit ist das Dialogische. Du hast eine langjährige Erfahrung mit Art of Hosting. Welche Bedeutung hat diese Praxis für dich?

RvL: Es basiert auf der Einsicht, dass der Dialog am besten funktioniert, wenn ich ihn nicht behindere, indem ich als Moderator oder als Gesprächsleiter zu viel manipuliere. Ich bleibe mit einer sehr zurückhaltenden Art am Rande des Geschehens und halte den Raum. Ich kann einen Impuls geben, damit die Teilnehmenden diese aktive Rolle auch annehmen und gleichzeitig merken, dass Teilnehmen im Wesentlichen Zuhören bedeutet, das aber aktiv werden kann.Im Hosting nehme ich eine gastgebende, unterstützende Rolle ein, keine heldische, führende Rolle in der traditionellen Form. Es ist Führen durch Raum geben.

e: Raum geben, wofür?

RvL: Dafür, dass sich die Menschen tatsächlich in einem Dialog engagieren, für Dinge, die für sie und die ganze Gruppe wichtig sind. In der Organisationsarbeit nutzen wir das, wenn wir verschiedene Stakeholder in einen Raum holen, so dass das ganze System miteinander in Dialog tritt. Man kann Gespräche über Themen provozieren, über die bisher nicht wirklich geredet wurde. Die Menschen kommen an die Grenze ihres Wissens. Dabei können wir erkennen, was noch nicht da ist, aber fast schon da. Das kann als Gestalt gespürt werden. Die Kunst besteht darin, auf diesen Raum zu hören.

The Art of Hosting ist eine echte Kunstform. Ich muss dafür sorgen, dass das Feine wirkt, das durch grobschlächtige Moderation nie zu dem werden kann, was es sein könnte, weil es zu schnell oder zu laut abgewürgt wird. Der Host muss sich seiner eigenen Vorannahmen enthalten, damit sich etwas zeigen kann, das von woanders herkommt als von ihm selber. Als Host diene ich dem größeren System. Ich habe eine Rolle darin, die für den Moment hervorgehoben ist, weil ich diesen Event vorbereitet habe. Ich bereite den Raum, gestalte eine gewisse Choreografie. Ich habe eine große Verantwortung für die Architektur dieses Gesprächsraums. Aber der spannende Moment ist dann, wenn ich das Experiment mit möglichst geringer Intervention laufen lasse. Wir wollen ja, dass die Leute zum Ausdruck bringen, was in ihnen steckt, und nicht, dass sie das wiederholen, was ich in sie hineingesteckt habe. Es ist also ein Zurücknehmen des Selbst, aber gleichzeitig ein sehr hoher Anspruch an das Selbst.

Woher der Wind weht

e: Würdest du das, was du hier beschreibst, auch als die Emergenz von kollektiver Weisheit bezeichnen?

»Eine Gemeinschaft von Lernenden verwandelt sich in eine Gemeinschaft, die lernt.«

RvL: Das ist für mich ein wirkliches Phänomen, das manchmal physisch im Raum spürbar ist. Vor Kurzem habe ich ein Unternehmen durch einen Prozess begleitet. Da gab es das Phänomen, dass die Leute an den verschiedenen Tischen alle das gleiche Gespräch geführt haben, ohne voneinander zu wissen, dass sie es taten. Es gab so etwas wie einen gemeinsamen Geist, der im ganzen Raum präsent war. Mitten im Prozess kam der Eigentümer der Firma auf mich zu und fragte: »Rainer, was machst du da?« Er spürte diese kollektive Präsenz auch. Weil er ein begeisterter Segler ist, antwortete ich ihm mit der Metapher: »Wenn du mit einer Rennyacht segelst, dann kannst du auf den Wellen ins Surfen kommen. So ist das jetzt auch.« Kollektive Intelligenz entsteht, wenn die Leute merken, sie sind an der gleichen Sache beteiligt, und zwar so sehr, dass es für sie wirklich etwas bedeutet. Es ist eine Gemeinschaft von Lernenden, die sich verwandelt in eine Gemeinschaft, die lernt.

e: Um in deinem Bild der Segeljacht zu bleiben: Woher kommt der Wind?

RvL: Der ist immer schon da …

Ich würde nicht behaupten, dass ich diesen Wind der Emergenz hervorgerufen habe. Bestenfalls ist es mir gelungen, ihn in dem Moment nicht zu stören, damit das Neue entstehen konnte. Es ist immer schon da, es ist latent ständig präsent. Wenn es uns gelingt, die Aufmerksamkeit so zu konzentrieren oder sie offen sein zu lassen für das, was entstehen will, dann wächst die Lebendigkeit. Es gibt einen Lebensimpuls, eine Gestaltungskraft, eine schöpferische Kraft in uns, und das hat auch mit künstlerischer Fertigkeit zu tun. Mit Joseph Beuys können wir sagen, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Aber die meiste Zeit nehmen wir uns nicht so wahr, dass wir eigentlich künstlerisch unterwegs sind. Wenn wir aber einen Raum schaffen, in dem die Menschen ihre Zukunft gemeinsam gestalten und sie davon erfasst werden, dann ist die Kunst mit den Künstlern präsent.

e: Wenn du dieses Lebendige in uns ansprichst, dann ist es nicht nur das Lebendige in mir und in dir, sondern auch das Lebendige in uns gemeinsam.

RvL: Ja, das größere Wir. Das meint uns als lebende Wesen und schließt auch andere Wesen ein. Das ist nicht nur die menschliche Intelligenz, wir sind darin eins mit der Natur und mit allem. Sobald man sich diesen Phänomenen zuwendet, tritt die eigene getrennte Individualität in den Hintergrund. Da geht es nicht mehr nur darum, ob ich erlebe, was da als Kunstwerk entsteht, sondern es geht um das Kunstwerk selbst, um das, was neu entstehen will.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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