Leben im Anthropozän

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 17, 2017

Featuring:
Jeremy D. Johnson
Kevin Kelly
Bruno Latour
Marshall McLuhan
Claude ­Lévi-Strauss
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Issue 15 / 2017:
|
July 2017
Mensch & Maschine
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Wenn die Zeit durchsichtig wird

Unsere neue Rolle als Menschen auf unserem Planeten wird vielerorts mit dem Begriff Anthropozän benannt, das Zeitalter, in dem der Mensch und sein Handeln den ganzen Globus umgestaltet. Der junge Bewusstseinsforscher Jeremy Johnson sieht in dieser Entwicklung Gefahren wie auch Möglichkeiten. Wir sprachen mit ihm über unsere Zukunft und die Vorzeichen eines integralen Bewusstseins.

evolve: Du hast dich als erklärter Futurist eingehend mit der Beziehung zwischen Technologie, Kultur und der menschlichen Psyche befasst. Wie siehst du unsere Zukunft in Zeiten exponentieller technologischer Entwicklungen?

Jeremy Johnson: Ich sehe hoffnungsvoll und ohne Zynismus in die Zukunft. Viele Menschen versuchen heute, neue Mythen und Narrative zu finden und zu verstehen, wie komplex die Situation tatsächlich ist – der Brexit, die Wahl Donald Trumps, der Zusammenbruch unseres ökonomischen Systems und die Auseinandersetzung mit ökologischen Problemen wie dem Klimawandel – das ganze Konglomerat der Herausforderungen, denen wir heute gegenüber stehen. Meiner Ansicht nach finden wir interessante neue Denkansätze und Beziehungsweisen, die heute vielleicht noch etwas merkwürdig erscheinen und sich an den Rändern entwickeln, aber das heißt nicht, dass es so bleiben wird. Unser Selbstverständnis und unsere Identität verändern sich. So furchteinflößend, wie Trump und andere regressive Bewegungen auch sein mögen, sie können auch als ein Indikator dafür gesehen werden, dass wir schon einen Schritt in die Zukunft getan haben. Die Menschen fühlen sich unwohl und versuchen, einen Sinn darin zu finden.

Neue Narrative

e:Welche neuen Mythen oder Narrative siehst du hier entstehen?

JJ: Momentan wird die Idee des Anthropozäns immer populärer. Es hat die Merkmale eines neuen Mythos. Bruno Latour bezeichnete »Gaia« als die letzte globale Religion, weil dieses Narrativ auch seine Propheten hat und in vielerlei Hinsicht wie eine Religion funktioniert. Zum Beispiel empfinden viele Menschen eine Schuld, weil sie an der Erbsünde, der Zerstörung des Planeten, teilhaben. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Anthropozän und dem Klima­wandel, der die Unterscheidung zwischen Zivilisation und Natur zusammenbrechen lässt. Diese seltsame Wechselwirkung löscht die einfache Trennung zwischen Kultur und Natur aus, weil die Zivilisation extreme Wetterphänomene, das Ansteigen des Meeres­spiegels und andere vormals »natürliche« Ereignisse verursacht. Sogar jemand, der in einem abgelegenen Gebiet der Welt lebt, ist betroffen von Umweltverschmutzung und Temperaturwandel. Das Anthropozän betrifft jeden. Oder: Jeder von uns ist das Anthropozän. Das Anthropozän zwingt uns dazu zu erkennen, dass wir ein integraler Teil des Planeten sind. Es gibt Milliarden Wesen, die leben und sich entfalten und vollkommen abhängig sind von uns – und wir von ihnen. In Wirklichkeit sind wir ein Super-­Organismus und zum ersten Mal versuchen wir, als ein solcher zu denken.

Die Mythen, die wir heute entwickeln, unterstützen uns da­rin, den Zusammenbruch unserer bisherigen Trennung zwischen Zivilisation und Natur zu verstehen. Es gibt von Angst gesteuerte Szenarien, die das Bild einer Apokalypse ausmalen. Diese Geschichten waren in den frühen 2000er Jahren besonders verbreitet. Aber heute werden unsere Geschichten interessanter, weil sie nicht das Ende der Welt beschreiben, sondern eine neue Welt. Die spannenden Fragen im Anthropozän sind: Wie bleiben wir am Leben? Was machen wir jetzt? Wir sind immer noch da.

Ein gutes Beispiel für einen modernen Mythos ist William­Gibsons »Peripherie«, das den Zusammenbruch der Grenzen zwischen Selbst und Welt durch virtuelle Realität untersucht. In dem Buch kann man sein Bewusstsein in ein »Peripheral« projizieren, z. B. in ein Objekt oder eine Puppe. Es kann wirklich alles sein und ist nicht auf das Menschliche beschränkt. Du kannst dich in einen Roboterfrosch, einen Homunkulus oder irgendeine andere Kreatur projizieren und erfahren, wie es ist, andere Gliedmaßen und einen anderen Körper zu haben. Spielerisch kannst du dich in deinen menschlichen Körper hineinbegeben, ihn wieder verlassen und andere Körper aufsuchen. Auch hier entsteht eine durchlässige Membran, wo zuvor die sichere Grenze zwischen Zivilisation und Natur und auch zwischen menschlichen und anderen Wesen bestand. Diese Geschichte behandelt auch die globale Krise, die wir gerade durchlaufen. Gibson beschreibt sie als den »Jackpot«. In dieser Geschichte, die in naher Zukunft spielt, durchleben die Menschen ein Jahrhundert der Krisen. Es ist keine Krise, bei der an einem Tag Städte überflutet werden. Stattdessen gibt es global verteilt viele Ereignisse, die fast zu Katastrophen führen. Es ist eine sich zuspitzende Katastrophe. Die Menschen, die sie erleben, können nicht ihr gesamtes Ausmaß überblicken und verstehen nicht, dass sie in einem Übergangsstadium leben, das das Ende eines Zeitalters und den Beginn eines neuen markiert. Aber wie ist es bei uns? Sehen wir das ganze Ausmaß der Veränderungen? Darauf will das Buch hinweisen.

¬ Technologie ist weder eine vollkommen künstliche Angelegenheit noch eine vollkommen natürliche Kraft. ¬

Wir müssen in anderen Dimensionen denken. Der Klimawandel und das Anthropozän sind sich kontinuierlich entfaltende Entwicklungen, sie ereignen sich nicht in einem eschatologischen Bruch, durch den sich alles auf einmal verändert. Ob man über technologischen Wandel, der die Gesellschaft erschüttert, oder über ökologische Themen spricht, all das entzieht sich unserem Wunsch, es auf einzelne historische Ereignisse zu reduzieren. Solche Bücher fordern uns dazu auf, anders zu denken und zu verstehen, was es bedeutet, in einer Periode relativ schnellen Wandels über einen Zeitraum von einem Jahrhundert oder länger zu leben.

Das Ende der Kontrolle

e: Was geschieht in diesem Prozess mit dem menschlichen Bewusstsein? In welcher Weise wird sich unser Menschsein verändern?

JJ: Wir haben uns bereits verändert. Viele Filme der letzten Jahrzehnte haben das erforscht. Wenn wir allein die Technologie betrachten, ist das Bild des Cyborgs höchst interessant. Der Film »Ghost in the Shell« (die Originalversion, nicht die Hollywoodproduktion) erforscht die Frage: Was bedeutet es, Mensch zu sein, wenn wir in der Lage sind, jedes Organ und alle Gliedmaßen zu modifizieren? Was bleibt dann von unserer Menschlichkeit? Ich kenne die Antwort nicht, aber wir werden vielleicht mehr, als wir sind, oder mehr, als wir zu sein scheinen.

In den frühen 1990ern schrieb Kevin Kelly »Das Ende der Kontrolle« und kürzlich »What Technology Wants«. Beide Bücher erforschen Technologie als eine Kraft, die so handelt, als hätte sie einen eigenen Willen, ihren eigenen Telos, ihr eigenes Ziel. Es ist ein seltsames Gefühl, in einer Zivilisation aufzuwachsen, die menschliche Wesen an die Spitze des evolutionären Prozesses stellt und die plötzlich behauptet – wie Marshall McLuhan sagt –, dass wir die Sexualorgane der Maschinen sind. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll!

Technologie ist weder eine vollkommen künstliche Angelegenheit noch eine vollkommen natürliche Kraft. Sie überwindet diese Unterscheidungen (wie das Anthropozän). Die Technologie ermöglicht es, dass sich Aspekte des Menschen zeigen dürfen, die zuvor nicht die Möglichkeit dazu hatten.

e: Welche Aspekte zum Beispiel?

JJ: Das Ausagieren von Ideen, eine Art Psycho-Geografie, in der Welt – im buchstäblichen Sinne. Wir schaffen eine Welt, die durch intelligente oder zumindest halb-intelligente Maschinen verändert wird. Ich glaube, es wird auf sozialer Ebene Gelegenheiten geben, an dieser »Planetisierung« mitzuwirken, wie Teilhard de Chardin es nennt – die Schaffung eines global vernetzten Geistes. Dies geschieht gerade rechtzeitig, damit wir beginnen können, als ein Superorganismus zu denken.

Eine der größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts besteht darin, das vernetzte Denken und die damit verbundenen Technologien zu nutzen, um egalitäre und nachhaltige kulturelle Prozesse zu ermöglichen, damit wir das Anthropozän überleben können. In gewisser Weise ist das eine Evolution über die Zivilisation hinaus. Das ist etwas vollkommen Neues. Eine dezentralisierte Welt, die über die Organisation unserer bisherigen Zivilisation hinausgeht, ist möglich oder gar notwendig, aber sie erfordert einen gewaltigen kollektiven, kreativen Handlungswillen. Wir sind frustriert von der gegenwärtigen Lage der Welt, aber diese Spannung ist hoffentlich die Geburt von etwas wirklich Neuem.

Eine dezentrale Welt

e: Wie wäre es, in einer dezentralisierten Gesellschaft zu leben? Wie würde das konkret aussehen?

JJ: In meiner Vorstellung sehe ich das Entstehen lokaler und nachhaltiger Wirtschaftszweige. Ich sehe Gemeinschaften, die lokale Probleme mit »planetarem Denken« oder dezentralisierter Problemlösung angehen. Eine Gesellschaft, die wie ein lebendiges, dynamisches System funktioniert. Wir sehen heute, wie Einkaufszentren in lokale Business-Hubs umgewandelt werden, oder Tankstellen, die zu Lebensmittelläden werden (wie an meinem Wohnort St. Petersburg, Florida). Dahinter steht die Idee der kreativen Neu-Nutzung der Hinterlassenschaften einer überdimensionierten Zivilisation. Es ist eine Antwort, die über die alte Denkweise grenzenlosen ökonomischen Wachstums und des hypermodernen, absterbenden Kapitalismus hinausweist. Die neue Kultur nimmt die Überreste der Dinosaurier und gibt ihnen einen neuen Zweck, nicht für endloses Wachstum, sondern für ein neues Leben. Das ist ein wesentlicher Antrieb, der meine Generation bewegt.

Jean Gebser spricht viel darüber, dass Zeit und die Durchbrechung von Zeit ein Symptom des integralen Bewusstseins ist. In der vorhergehenden Bewusstseinsstruktur, die er als mental bezeichnet, weist er auf das Entstehen der Perspektive in der Renaissance hin – ein räumliches Bewusstsein in der Kunst und in der Physik. Wenn wir betrachten, womit die ­Millennial-­Generation in der zeitgenössischen Kunst experimentiert, wie z. B. dem digitalen Remixing, dem Spiel mit verschiedenen Klängen der 1970er, 80er und 90er Jahre in einer Komposition, dann sehen wir einen Hinweis auf die Entwicklung eines Bewusstseins der Zeit. (Gebser sah diese Entwicklung auch in den Werken seiner Zeitgenossen, wie bei Picasso die Anwesenheit der Zeit in seinen Malereien). Die Zeit hat eine Qualität. Jahrzehnte haben eine eigene Ästhetik. Die digitale Generation sieht durch die Zeit hindurch und nutzt sie für das kreative Spiel. Wir werden immer mehr mit Zeit spielen und mit der Ästhetik verschiedener Dekaden. Wir haben eine andere Zeitwahrnehmung und verbinden komplexe Stränge von Beziehungen zwischen vielschichtigen Kunstwerken in einem Netzwerk der Bricolage – ein Wort, das Claude Lévi-Strauss geprägt hat und damit das Schaffen von etwas Neuem aus dem unmittelbar Vorhandenen meint. Das ist die gleiche Denkweise, über die wir bereits beim Thema Anthropozän gesprochen haben: die wechselseitige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in einem Netz des Seins. Dezentraler Geist in einem dezentralen globalen Organismus. Transparente Grenzen zwischen Selbst und anderen, zwischen der ursprünglichen Vergangenheit und der weit entfernten evolutionären Zukunft. Die Kunst ist meist einer der Bereiche, in denen sich ein neues Bewusstsein zuerst artikuliert, das ist also ein gutes Zeichen. Auch die ökonomischen, politischen und institutionellen Ausdrucksformen dieses Bewusstseins werden sich zeigen.

Menschsein als Verb

e: In unserem Gespräch haben wir mehrere Male angesprochen, wie sich unser Verständnis des Menschseins verändert. Was bedeutet es für dich, heute Mensch zu sein?

JJ: Im Sinne des Zusammenfalls der Grenzen zwischen Widersprüchen und Unterscheidungen sehe ich unsere Spezies als einen Ausdruck der kreativen Kraft des Lebens. Der Mensch ist eine Art Tinktur auf mikrokosmischer Ebene, von dem, was das Leben als Ganzes will. Menschsein ist ein Verb, ein Handeln: diese zutiefst kreative Kraft, die sich anpasst, überlebt, sich entfaltet und neue imaginative Formen erschafft. Jean Gebser bezeichnet das integrale Wesen als ewige Gegenwart. Wir sind dieses unbeschreibliche, kreative, spirituelle Wesen. In »Akira«, einem bekannten Zeichentrickfilm aus den 80ern, durchläuft die gleichnamige Hauptfigur eine Mutation und erhält unbegrenzte psychische Kräfte, verliert aber bald die Kontrolle darüber. Sie wird zu einer Art Monster, halb Cyborg, halb Lebewesen, das sich endlos und unkontrolliert ausbreitet. Ich denke, das ist eine gute Metapher für das, was wir unserem Planeten und uns selbst antun: Wir haben die Kräfte, die wir in uns befreit haben, nicht mehr unter Kontrolle. Wir haben unser eigenes wahres, grenzenloses Wesen entdeckt. Unsere eigene Singularität. Aber das mentale Bewusstsein kommt hier nicht mehr mit. Wir wissen nicht, wie wir sie beherrschen können.

¬ Ich sehe unsere Spezies als einen Ausdruck der kreativen Kraft des Lebens. ¬

In der modernen Welt ist die Unterscheidung oder die Lücke zwischen unserem inneren psychischen Zustand und der äußeren Wirklichkeit zusammengefallen. Unser Inneres, unseren Bewusstseinszustand, bringen wir mit Lichtgeschwindigkeit zum Ausdruck. Aber hier zeigen sich das Licht und das Dunkel unserer evolutionären Reise – die Träume und die Albträume. Die Technologie und die komplexe, planetare Gesellschaft, die heute geboren werden, verstärken unseren Zustand. Deshalb stellt sich die Frage: Welche Welt wollen wir schaffen? Plötzlich stehen wir dieser Frage gegenüber, während wir in einer vollkommenen und totalen Unmittelbarkeit mit unserem eigenen Wesen konfrontiert werden.

e: Zu Anfang sagtest du, du seist in Hinblick auf unsere Zukunft optimistisch. Was ist die Quelle dieses Optimismus?

JJ: Mein Optimismus gilt den »Disruptors« und »Innovators«, der Wandlung und denen, die sich wandeln. Wo etwas Neues in der Kultur entsteht, dort ist die »schöpferische Evolution«, wie sie Henri Bergson verstand, am Werk. Mich erfüllt ein nüchterner Optimismus, weil die Transformation nicht linear ist und sich über scheinbar zufällige Ereignisse in der Geschichte und Kultur verteilt, sodass sich die Evolution des Bewusstseins in einer Art Wechselspiel von Krisen und kreativen Antworten darauf ereignet. Es ist nicht so, dass es keine Probleme geben wird, und manchmal wird es auch vorübergehende Rückschritte geben. Das Leben durchläuft nun mal solche Katastrophen. In dunklen Zeiten können wir Optimisten sein, nicht indem wir ein abstraktes »Größeres Bild« beschwören, sondern indem wir spüren, was im Verborgenen wirkt und sich im Laufe der Zeit zum Ausdruck bringen will, die musikalische Komposition, die aus allen Klangfragmenten entsteht. Ich selbst sehe mich an dieser Arbeit beteiligt und versuche den Menschen zu vermitteln, dass sie zuversichtlich bleiben können. Es wird eine lebenswerte Zukunft geben, aber wir sollten kein Utopia erwarten. Die Zukunft wird aber etwas Großes sein, die Verwirklichung unseres innersten – integralen – Wesens. Wir werden dorthin gelangen. Aber wir müssen, wie Gebser vorschlägt, ein Gespür für die Zeit haben, für die Zukunft in der Gegenwart.

Das Gespräch führte Elizabeth Debold.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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