Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 23, 2015
Fast jeder Mensch, der sich heute auf die Suche nach dem Sinn seines Lebens begibt, wird über kurz oder lang auf die Schätze der alten Weisheitstraditionen, die sich zum Teil seit bald 4000 Jahren um den Sinn des Daseins kümmern, stoßen. Unabhängig davon, ob es sich um indianische, keltische, chinesische, jüdische, islamische, christliche, indische oder sonstige Weisheiten handelt, gelten sie als universelle Anleitungen für ein gutes und sinnvolles Leben. Leider beschleicht mich manchmal der Verdacht, dass nicht alles, was alt ist und vielleicht einmal gut und hilfreich war, es heute noch ist. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass Weisheit und das damit verbundene gute Leben nun doch nicht so völlig zeit- und raumunabhängig sind, wie viele Menschen meinen.
Und dennoch gibt es einige Perlen, die sich auch über die Jahrhunderte hindurch ihren erfrischenden und inspirierenden Charme erhalten haben, vielleicht, weil sie, als sie entstanden, ihrer Zeit Lichtjahre voraus waren. Eine dieser Perlen ist für mich der mittelalterliche christliche Mystiker und Philosoph Meister Eckhart. Aber es scheint nicht nur mir so zu gehen. In meinen Kursen kann ich immer wieder erleben, dass Menschen, die sich noch nie mit seiner Lehre beschäftigt haben, von verschiedenen Gedanken regelrecht angefixt werden.
Eckharts Schriften sind beileibe nicht immer einfach zu lesen, auch wenn nahezu alles, was er auf Deutsch von sich gab, Predigten waren, denen die Menschen zu seiner Zeit im Gottesdienst einfach nur zuhörten. Auch sie verstanden vieles nicht und dennoch waren sie fasziniert. Eine mittelalterliche Nonne schrieb einmal sinngemäß über einen Besuch Eckharts in ihrem Kloster: „Heute war der große Meister Eckhart da, verstanden habe ich nichts von dem, was er sagte, aber schön war es.“ Dem stimmen die meisten Leute zu, mit denen ich über Eckhart rede. Was macht seine Gedanken schön, ohne dass man sie sofort versteht?
Ich glaube, ein wesentlicher Punkt ist der, dass Eckharts Anleitung zum guten Leben für seine Zeit sehr unkonventionell, ja schon modern anmutet: Er war überzeugt, jede Lebenssituation eigne sich für ein spirituelles Leben. Die mittelalterliche Trennung von aktivem und kontemplativem Leben war ihm ebenso fremd, wie die Höherbewertung des kontemplativen Lebens. In einer seiner Predigten sagte Eckhart, dass die Erfahrung des Einheitsgrundes an jedem Ort möglich sei, im Stall, auf dem Feld, genauso wie in der Kirche, und dass dafür keine Bußübungen oder sonstige Praktiken von Nöten seien. Er betonte, dass es auf die innere Haltung des Im-Jetzt-völlig-präsent-Seins ankomme. Solche Aussagen erinnern doch eher an einen modernen Satsanglehrer als an einen mittelalterlichen christlichen Mönch. Eine meiner Kursteilnehmerinnen meinte, als wir diese Predigt gelesen hatten, der ganze Kurs habe sich für sie schon wegen dieser Erkenntnis rentiert, denn jahrelang habe sie darunter gelitten, viel zu wenig Zeit für meditative Übungen in ihrem Alltag zu finden. Den Alltag zum spirituellen Raum zu machen, was Eckhart empfahl, hatte für sie eine ungemein befreiende Kraft.
Eckhart war überzeugt, jede Lebenssituation eigne sich für ein spirituelles Leben.
Aber auch die Art und Weise wie er lehrte, hebt ihn hervor. Man spürt neben aller Ernsthaftigkeit immer auch den tiefen Humor in seinen Worten. Spiritualität darf erfrischend und witzig sein, Eckhart wusste es und lebte es. So konnte er auch über die sich selbst so wichtig nehmende Theologenzunft, zu der er als Professor an der Pariser Universität ebenfalls zählte, einfach lachen. Er wusste um die Eitelkeiten, die sich unter dem Mantel der Spiritualität verbergen können.
Und noch etwas spürt man in seinem Denken, ohne immer alles sofort kognitiv zu verstehen: Eckhart war ein wahrer und großer Humanist, völlig durchdrungen von der Überzeugung, dass der Mensch – und zwar Mann wie Frau – ein ungemeines Potenzial in sich trägt, das man fördern und pflegen müsse. Auf den Vorwurf seiner Ankläger – Eckhart wurde von der Inquisition verurteilt – er lehre von zu hohen Dingen vor dem gemeinen Volke, antwortete er: Wie sollen Menschen jemals verständig und weise werden, wenn man nicht anfängt, die Ungelehrten zu lehren?