Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 12, 2015
Markus Stockhausen macht seit seiner Kindheit Musik. Er ist Trompeter und Komponist. Außer seiner Konzerttätigkeit nutzt er Musik immer mehr auch in Seminaren: Dabei verbindet sich Musik mit Kommunikation und einem Eintauchen in eine tief spirituelle Dimension. Anna-Katharina Dehmelt und Renata Keller haben ihn besucht und mit ihm über die Hintergründe seiner Arbeit gesprochen.
evolve: Du arbeitest in deinen Konzerten und Seminaren mit dem Wechselspiel zwischen Klang und Stille. Was bedeutet die Stille für dich im Bezug zum Ton?
Markus Stockhausen: Kürzlich bei einem Seminar war ein älterer Herr dabei, der schon viel Meditationserfahrung hatte. Er saß einen ganzen Nachmittag lang auf seinem Stuhl, während wir sangen, still waren und wieder sangen, und war ganz innig in sich. Ich fragte ihn nachher, was er erlebt hat. Er sagte: „Ich habe einen neuen Weg kennengelernt, den inneren heiligen Raum zu erfahren.“ Das ist mein Ansatz, dass über Klänge ein unmittelbarer Weg zur Stille geschaffen wird. Etwas ist geschehen im Klang und es schwingt in uns nach. Nach einer Weile verklingen die Töne und wir betreten einen Raum, einen stillen Raum, der oft erst mal gar nicht still ist, weil Erinnerungen, Gedanken oder Wahrnehmungen kommen. Ich versuche, dahin zu führen, dass wir uns als Bewusstsein erfahren. Ich sage zum Beispiel, „seid euch bewusst, bewusst zu sein, seid präsent, seid in eurer Mitte.“ Und dann lasse ich jeden frei zu fühlen, was seine Mitte ist. Aus vielen Seminaren weiss ich, dass die Menschen dabei sehr unterschiedlich empfinden. Man kommt in diesen heiligen Raum der Stille, und der ist in gewisser Weise unspektakulär, aber er ist frei.
Das Leben feiern
e: Wonach suchst du mit deinen neuen Formen der Musikvermittlung?
MS: Ich möchte neue Rituale schaffen! Mehr als die paar Feste, die man im Jahr feiert. Jedes Konzert, jede Klangmeditation, jedes Seminar hat etwas Rituelles. Die Basis ist das Gemeinsame, dass eine Gruppe von Menschen etwas gemeinsam erleben möchte. Es geht immer um die Gestaltung, es ist eine Komposition. Da gibt es eine Aufwärmphase, einen Höhepunkt, irgendwann ein Abklingen, zwischendurch vielleicht Stille-Momente – immer findet eine bestimmte Gestaltung statt, die wirkt. So etwas auch im öffentlichen Raum mit Menschen zu machen, die mir vielleicht zunächst unvertraut sind, aber die doch dasselbe Bedürfnis haben, macht eine Tür auf. Es zeigt, dass es neue Formen gibt, wie man mit Musik das Leben feiern kann, wie wir uns feiern können in unserer Kreativität, in unserer Spiritualität, in unseren Urbedürfnissen der Gemeinsamkeit.
Ich versuche, dahin zu führen, dass wir uns als Bewusstsein erfahren.
Warum gehen mehr Leute in Konzerte als in die Kirche? Weil Musik ein nicht-mentaler Raum ist. Sie ist nicht durch mentale Strukturen geprägt, durch Wörter, Sätze, Konzepte. Musik hat andere Strukturen, die aber nicht so belegt sind, sie sind freier. Und damit kann sie sehr schön zur Stille überleiten. Und umgekehrt, aus der Stille können wir dann sehr frei auch die nächsten Klänge entstehen lassen. Für mich ist Musik der freieste Raum.
Und das Wesentliche für mich ist: Wir können uns darin erneuern. In dem Moment, wo wir frei sind von den gewohnten Inhalten unseres Bewusstseins, von gewohnten Identifikationen, schaffen wir die Möglichkeit, uns zu erneuern und nicht immer auf vorgegriffene, vorgefertigte Formen zurückzugreifen, sondern immer wieder von diesem leeren Raum auszugehen.
e: Was geschieht in deinen Seminaren, wenn die Leute miteinander singen oder improvisieren und in die Stille gehen und wieder singen, harmonisiert sich da etwas zwischen den Menschen?
MS: Ja. Bereits nach wenigen Stunden gemeinsamen Musizierens entsteht eine tiefe Vertrautheit mit den anderen Musikern. Der Schlüssel ist das Hören. Wenn ich auf die anderen höre, dann reagiere ich auch auf sie und eine Kommunikation beginnt. Mit fünfzig Prozent der Aufmerksamkeit kann man ganz bei sich selber sein, mit eigenen Ideen und Gefühlen. Aber gleichzeitig, und das ist nicht leicht, sollte man mit fünfzig Prozent der Aufmerksamkeit im Umfeld sein – wer spielt oder singt da gerade alles, mit welchen Klangfarben, welchen Tonhöhen, entscheide ich mich höher oder tiefer oder in derselben Lage zu spielen, will ich etwas unterstützen oder kontrastieren usw. Es gibt viele Gestaltungselemente, die wir beim Musizieren benutzen und bewusst wählen können.
Also, es geht um Bewusstheit! Insofern ist das intuitive Musizieren oder das gemeinsame Singen immer auch eine Bewusstseinsschulung – wie viel bekomme ich von den anderen mit und wie beziehe ich mich darauf? Es ist ein sozialer Prozess, der sich im Laufe von Stunden oder eines Tages oder mehreren Tagen entfaltet. Erwähnt werden sollte auch, dass das Ganze sehr viel Spaß macht. Alle kommen immer mehr in die eigene Kraft.
Wir modulieren uns ständig. Auch in diesem Gespräch – sobald Menschen miteinander sind, moduliert man einander durch Äußerungen, durch Bewegungen, Blicke, die wir einander zuwerfen. Das harmonisch zu steuern, darin sehe ich meine Aufgabe als Leiter einer musikalischen Begegnung. Ich führe das Ritual nach musikalischen Gesetzmäßigkeiten, nach meinem Empfinden von Harmonie. Das ist für mich ein intuitives Geschehen, das ich nicht erklären kann und auch nicht erklären will oder muss.
Musik im Moment
e: Wie bist du zur intuitiven Musik gekommen?
MS: In der klassischen Musik und auch in der zeitgenössischen Musik, in aller komponierten Musik, vertrauen wir den Komponisten, dass sie den Prozess gestalten. Sie übernehmen die Verantwortung. Ein Bach, ein Beethoven, ein Schönberg, Karlheinz Stockhausen – der Komponist entscheidet, welche Töne, Klänge, Melodien in einer gegebenen Zeit gehört werden soll, in welchem Rhythmus, in welcher Folge, und dadurch entsteht für die Zuhörer eine spezifische Modulation. Wir haben die Verantwortung bereitwillig an den Komponisten abgegeben.
Im letzten Jahrhundert ist dann die Improvisation wieder aufgelebt, im Jazz und im Free Jazz zunächst sehr stark, und dann auch angeregt durch meinen Vater, der in den 1960iger Jahren eine Zeit lang die intuitive Musik für sich formuliert und mit einer Gruppe gespielt hat. Bis er sich als Komponist damit selber ausgehebelt hat, weil er ja als Komponist überflüssig wurde. Er hat dann sehr genaue und determinierte Kompositionen gemacht. Mit ihm habe ich 25 Jahre lang musiziert und das gründlich kennengelernt.
Manchmal habe ich gelitten, wenn ich bestimmte Werke aufführen musste, die wir lange geübt hatten und die sich vielleicht grandios anhörten, die ich aber in dem Moment nicht fühlen konnte. Ich war dann „nur“ Handwerker, und dieser Widerspruch war sehr schwierig für mich. Im Idealfall kommt das zwar genau zusammen, dass der Musiker sich so vorbereitet, dass er mit seiner ganzen geistigen Kraft, mit seinem Willen, mit seinem Gefühl in dem Moment, wo er ein Werk aufführt, wirklich da und eins mit der Musik ist. Das ist die hohe Kunst der Interpretation und das habe ich auch oft erlebt. Aber das geht nicht immer.
Das hat mich dazu gebracht, mehr und mehr zu improvisieren. Ich habe auch die Art meines Vaters, intuitiv zu musizieren, ausgeübt. Bereits 1975 durfte ich mit ihm eine Schallplattenaufnahme machen in London mit intuitiver Musik. In den 80iger Jahren dann vor allem mit dem „Ensemble für Intuitive Musik Weimar“, das es heute noch gibt. Das war etwas ganz Besonderes und auch Provokatives in der damaligen DDR, und es gestaltete einen Freiraum, zu dem viele Menschen hinpilgerten, nach Weimar in eine kleine Kirche, weil da plötzlich eine geistige Offenheit spürbar wurde. Dann bin ich weitergegangen, habe auch Elemente des Jazz einbezogen – ich wollte einfach frei sein in der Musik, mich stilistisch nicht eingrenzen.
Intuitiv heißt ja nicht, den Verstand und das Gewusste ganz auszublenden.
Ich habe auch selber angefangen zu komponieren, habe viele Mischformen von Komposition und Improvisation ausprobiert, bin aber dann immer intensiver in die improvisierte und intuitive Musik eingestiegen, denn dabei wird man selbst zum unmittelbaren Gestalter von Inhalt und Form, man hat die ganze Verantwortung. In der Maternuskirche in Köln habe ich zwischen 2000 und 2010 mehr als einhundert Konzerte mit intuitiver Musik gegeben, jeden Monat ein Konzert. Dabei konnte ich wertvolle Erfahrungen sammeln. In der intuitiven Musik trifft man im Bruchteil einer Sekunde ganz viele Entscheidungen. Man wird zum Komponist in real time – instant composing, wie Gary Peacock das mal genannt hat. Mit Kompositionen, die auf dem Papier (oder heute am Computer) entstehen, kann man es und soll es meiner Meinung nach auch nicht vergleichen. Improvisation kann sich in der Komplexität und Genauigkeit nicht mit einer Komposition messen, wo ich mir z. B. einen ganzen Tag Zeit nehme, um eine oder zwei Minuten zu komponieren.
Aber wir können etwas anderes schaffen, was die Komposition nicht kann. Wir können etwas schaffen, was unmittelbar mit diesem Moment zu tun hat, mit der Aktualität dieses Momentes, sodass das innere Gefühl mit dem, was jetzt genau passiert, übereinstimmt – dann ist da keine Differenz. Ich sehe die intuitive Musik als einen wirklich neuen Weg des Musizierens, der in Zukunft gültig neben allen anderen Formen des Musikmachens stehen wird.
e: Das ist ja eigentlich ein revolutionärer Bruch: hier zu sein mit dem, was jetzt geschieht, und nichts Vorgegebenes spielen müssen.
MS: Ja! Ich habe mich früher u. a. mit dem Sufi-Meister Hazrat Inayat Khan beschäftigt, der von einem anderem, einem intuitiven Bewusstsein spricht. In diesem Bewusstsein bin ich nicht mehr nur horizontal orientiert auf die Strukturen, die es schon gibt und die den Boden bereitet haben, auf dem ich mich bewege. Die intuitive Führung geschieht durch eine Vertikalität. Das kann man üben, schulen. Stellen wir uns eine erleuchtete Gesellschaft vor, in der jeder sich selber folgen kann und gleichzeitig so achtsam und bewusst ist, dass er alles, was um ihn geschieht, wahrnehmen kann – das können wir natürlich nie hundertprozentig, aber doch zu einem gewissen Grade. Dann passt die eigene Intuition sich ständig an das an, was jetzt ist. Ich nehme wahr, wie eine Situation ist, und tue meinen nächsten Schritt, der jetzt in dieser Situation passt. Ich handele nicht, nur weil ich dies will oder weil ich jenes richtig finde, sondern ich sehe, dass es gar keinen Sinn macht, der Situation etwas überzustülpen. Ich tue das, was in dieser Situation harmonisch ist.
Das ist die Freude und der Reichtum der Schöpfung, dass sich in jedem ein anderer Aspekt spiegelt.
Wir bewegen uns als Menschheit, glaube ich, darauf hin, aber es ist noch ein sehr weiter Weg. Für mich als Musiker ist es eigentlich schon klar, wie das sein könnte. Wenn ich in einer gewissen Situation offen bin, dann ist das, was sich zeigt, das Ergebnis aller Komponenten, die in diesem Moment mitspielen. Und: das kann ganz unvorhergesehen auch in eine neue Richtung gehen. Es ist offen, ja, es ist Schöpfung, es ist eine freie Form von Schöpfung.
Im gedankenfreien Raum
e: Wie geht dein tiefes Wissen über Musik mit dem Improvisieren zusammen? Musst du das nicht alles loslassen?
MS: Grundsätzlich steht mir mein Wissen und Können zur Verfügung. Das ist sehr hilfreich und je nach Situation abrufbar. Intuitiv heißt ja nicht, den Verstand und das Gewusste ganz auszublenden. Aber wir versuchen, aus einem gedankenfreien Raum zu spielen, ohne eine bestimmte Absicht. Man kann vertrauen, dass das Leben, als Ganzes gesehen, die Informationen zur Verfügung stellt, die helfen, den nächsten Schritt zu gehen, den nächsten Ton zu spielen. Ich hätte auch einen anderen spielen können, vielleicht einen viel besseren, aber das nützt mir nichts, er ist mir nicht eingefallen, also spiele ich den nächsten. Und jemand anderes hätte sicherlich auch einen anderen gespielt, weil er anders empfindet und einen anderen Zugang hat, zu anderen Quellen. Jeder von uns ist ein Kanal und stellt einen anderen Aspekt dar, und so ergänzen wir uns alle. Das ist die Freude und der Reichtum der Schöpfung, dass sich in jedem ein anderer Aspekt spiegelt.
e: In dem Sinne ist intuitive Improvisation wirklich eine Metapher fürs Leben. Immer wieder den nächsten Schritt tun, zuhören, spielen, verweilen…
MS: … und die Menschen in den Konzerten spüren das. Sie sind interessiert an diesem kreativen Prozess, und wenn so ein Konzert mit intuitiver Musik stattfindet, sind sie innerlich beteiligt und nehmen etwas mit nach Hause von diesem Freiheitsmoment, von diesem Gefühl: Schöpfung geschieht jetzt.