Norm und Normalität

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

July 17, 2017

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Issue 15 / 2017:
|
July 2017
Mensch & Maschine
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Neulich sah ich mich veranlasst, in der Notaufnahme eines Krankenhauses vorstellig zu werden. Abweichende Laborwerte gaben den Medizinern und mir anschließend Rätsel auf. Ich bemerkte, dass ich kaum wusste, welche Abläufe tagtäglich in meinem Körper stattfinden. Es erwachte eine Dankbarkeit für meine Organe und ihre jahrzehntelange, selbstverständliche Leistungsfähigkeit. Mir wurde bewusst, was für ein Wunder der Körper ist und wie der oft defizitäre Blick dies nicht bemerkt. Die Werbung zeigt uns, was als schön, gesund und richtig gilt. Dabei wird übersehen, dass im Körper eine unglaubliche Intelligenz am Werke ist. In Antwort auf innere und äußere Herausforderungen, Vorgaben und Prägungen reagiert er fortwährend mit maßgeschneiderter, körpereigener Medizin. Er richtet sich nach der äußeren Situation und den – uns oft unbewussten – seelischen Botschaften. Diese fortwährende Fluidität, Reaktions- und Anpassungsfähigkeit entzieht sich unserer Wahrnehmung und Wertschätzung. In Anbetracht meiner Situation stellte sich mir die Frage, ob es denn nicht so sein könnte, dass auch die Abweichungen von den Normwerten eine ebenso intelligente Antwort auf eine gewisse Situation sind?

In den darauffolgenden Tagen wurde mir zunehmend bewusst, wie nicht nur in der Medizin, sondern auch in vielen anderen Lebensbereichen Messbarkeit und Normwerte unser Leben und Denken prägen. Ob es die EU-Vorgaben in der Landwirtschaft oder die Pisa-Studien sind, in alldem lebt der Glaube an Vergleichbarkeit und an eine allgemeingültige Norm, die vorgibt, was richtig und normal ist. Normen gaukeln uns vor, dass Situationen gerecht und rational gehandhabt werden. Dahinter wird aber oft eine lebensfremde und manchmal sogar lebensfeindliche Fratze sichtbar. Vielerorts werden Arbeitsabläufe durch das, was im Durchschnitt an Zeit gebraucht wird, bestimmt. Menschen, die in der häuslichen Pflege tätig sind, hetzen von einem Patienten zum nächsten. Ärzte haben im Bewusstsein, wie viel Zeit sie pro Patienten bei der wievielten Konsultation bezahlt bekommen. Krankenhäuser entlassen Menschen entsprechend den Angaben für die Verweildauer bei einer bestimmten Krankheit. Am Ende einer jahrelangen Schulzeit stehen die Noten, die den Zugang zur weiteren Bildung oder Lehre ermöglichen oder erschweren. Lebensmittel werden nach dem Haltbarkeitsdatum entsorgt. Äpfel mit weniger als sechs Zentimeter Durchmesser dürfen nicht verkauft werden. Ein Auto mit abgelaufenem TÜV soll man nicht fahren. Aktienkurse brechen ein aufgrund von Abgasnormen, die nicht wahrheitsgemäß angegeben wurden. Der Emissionshandel bildet als Maß- und Regulationsinstrument die Grundlage der Klimapolitik. Und so weiter.

NORMEN GAUKELN UNS VOR, DASS SITUATIONEN GERECHT UND RATIONAL GEHANDHABT WERDEN.

Obwohl das Normdenken unseren Alltag bestimmt, leben wir zugleich in einer Zeit, in der Inklusion und Integration eingefordert werden. Im Idealfall gilt Behinderung immer weniger als ein Mangel, den man reparieren soll, sondern zunehmend als einzigartiger Ausdruck des Menschseins. Der Fremde trägt zur Vielfalt der Gesellschaft bei. Die Beweggründe für das Aufgreifen dieser Ideale sind nicht immer nur humanitär, sondern oft auch monetär begründet. Inklusion ist somit zunehmend zum Reizthema in der Bildungspolitik geworden. An den Grenzen und Chancen der Integration von Menschen ausländischer Herkunft scheiden sich ebenfalls die Geister.

Ob Inklusion und Integration gelingen oder zu Widerstand und Überforderung führen, hängt weitgehend davon ab, ob das Einmalige des jeweiligen Anderen erlebbar wird und geschätzt werden kann. Begegnungsfähigkeit, sowie das Erwachen am Seelisch-Geistigen des Anderen sind dabei vonnöten. Das Individuelle rückt dann in den Vordergrund, während das Normierte, das sogenannte Normale, an Bedeutung verliert. Damit dies möglich wird, braucht es aufrichtiges Interesse, menschliche Ressourcen und Zeit – Zeit, die wir unter dem Einfluss des Messbaren oft nicht zu haben scheinen.

Author:
Griet Hellinckx
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