Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 24, 2022
Unser Blick auf Entwicklung ist immer auch kulturell geprägt. Die schwarze Feministin Minna Salami spricht von einer euro-patriarchalen Sichtweise, die unser Denken bestimmt. Welche ganzheitlicheren Formen des Erfahrens werden uns zugänglich, wenn wir diese Sicht weiten?
evolve: Sie sprechen von sinnlichem Wissen. Was meinen Sie damit?
Minna Salami: Das Wort »sensual« (übersetzt etwa: sinnlich) ist ein einzigartiges Wort in der englischen Sprache, das von dem Dichter John Milton geprägt wurde, um das Wesen der Poesie zu beschreiben. Er verwendete dieses Wort für eine Qualität, die aus der Integration von Verstand, Körper und Geist entsteht. Denn er war der Meinung, dass Poesie über die Fähigkeit verfügt, den Leser auf der Ebene des Verstandes, des Körpers und des Geistes zu erreichen. Auch mit meinem Ansatz möchte ich für eine Art von Wissen eintreten, das den Verstand, den Körper und den Geist betrifft, eine ganzheitliche und multidimensionale Art des Wissens. Damit meine ich nicht nur die Fähigkeit, beim Nachdenken über ein einzelnes Thema eine Vielzahl von Perspektiven erkennen zu können.
Um diesen Ansatz zu veranschaulichen, verwende ich gerne das folgende Beispiel: Ich frage jemanden, was er oder sie morgens zum Frühstück gegessen hat. Ich habe zum Beispiel Toastbrot gegessen. Ich kann diesen Toast mit dem konventionellen Wissen beschreiben, das ich als euro-patriarchales Wissen bezeichne, welches von Messungen und Klassifizierungen geprägt ist. Das ist eine roboterhafte, instrumentelle Art des Wissens. So könnte ich Ihnen sagen, dass das Toastbrot so und so viele Kalorien und Nährstoffe enthält. Aber wenn ich den Toast stattdessen mit sinnlichem Wissen beschreiben würde – einem ganzheitlichen und verkörperten, voll wirksamen Wissen – könnte ich nicht nur den Nährstoffgehalt, sondern auch die Textur des Brotes beschreiben. Wie hat es sich angefühlt, als ich es gegessen habe? Welche Geräusche hörte ich um mich herum, während ich es aß? Wer hat das Brot gebacken? Was ist die Tradition des Brotes? Vielleicht könnte ich sogar die Frage beantworten, ob ich in einem Kunstwerk schon einmal einem Laib Brot begegnet bin, wie etwa in einem Stillleben.
Es geht also darum, diese multiperspektivische oder multidimensionale Sichtweise von Wissen zu berücksichtigen, um die Wahrheit besser zu erfassen. Denn wenn ich schon etwas so Alltägliches wie mein Frühstück auf diese mehrdimensionale Weise beschreiben kann, wird vielleicht eher vorstellbar, wie wir über wesentlich komplexere Dinge in dieser umfassenden, ganzheitlichen Weise nachdenken können.
Beziehung eröffnen
e: Ich höre in dem, was Sie sagen, auch, dass Sie das Objekt quasi aufbrechen. Anstelle eines Stücks Toast mit Butter darauf geht es um eine komplexe Beziehung. Sie stellen das Objekt in einen vielfältigen Beziehungskontext.
MS: Mir gefällt der Ausdruck »das Objekt aufbrechen« sehr. Denn dadurch wird das Wissen intimer und wir beginnen, außerhalb von uns selbst nach Wissen zu suchen. Wir beachten die mehr-als-menschliche Welt der Natur und verschiedene Arten des Wissens aus anderen Teilen der Welt. Es ist eine Art paradoxes Denken. Es bedeutet, dass wir uns mit dem Paradoxen anfreunden, mit Dingen, die verwirrend oder fragwürdig sind. Und wir müssen dringend Wege finden, unsere Fähigkeit zu komplexerem Denken zu kultivieren, weil es in unserer Zeit so viele Informationen gibt.
¬ DIE INTELLEKTUELLEN INSTITUTIONEN REPRODUZIEREN DIE GLEICHEN PROBLEME IMMER WIEDER AUFS NEUE. ¬
e: Inwiefern kann hier ein sinnliches Wissen hilfreich sein?
MS: Fangen wir bei der Wurzel des Problems an. Wenn Philosophinnen, Denker, Aktivistinnen, Künstler – also Menschen, die sich mit sozialen Fragen beschäftigen – die vielen Probleme analysieren, mit denen wir in der Welt konfrontiert sind, sagen sie normalerweise, dass es ein Problem mit dem System gibt. Das System ist fehlerhaft oder korrupt. Und damit meinen wir in der Regel die Institutionen, die unser Leben prägen, wie Bildungseinrichtungen oder rechtliche, politische und wirtschaftliche Institutionen. Wir beziehen uns auf Strukturen wie die weiße Vorherrschaft, das Patriarchat oder die Klassendiskriminierung. Und natürlich ist das wahr.
Aber auf einer noch tieferen Ebene steckt das Problem meiner Meinung nach im Wissen selbst. Die intellektuellen Institutionen reproduzieren die gleichen Probleme immer wieder aufs Neue. Wenn wir neue Technologien, neue Gespräche oder neue Institutionen entwickeln, reproduzieren wir dasselbe Problem. Das Internet und die sozialen Medien waren bei ihrer Einführung so vielversprechend, dass die Menschen wirklich glaubten, sie würden die Gesellschaft verändern. Aber jetzt sehen wir, dass wir viele der Probleme, die bereits bestanden, nicht nur reproduzieren, sondern sogar noch verstärken. Und das liegt daran, dass der Intellekt und das Wissenssystem, das diesen Technologien zugrunde liegt, fehlerhaft, trennend und roboterhaft funktionieren. Ihnen fehlt es an Seele.
Das euro-patriarchale Wissen trennt zwischen Dingen, die eigentlich miteinander im Dialog sein sollten. Während der gesamten Neuzeit gab es das Bestreben, eine wissenschaftliche Haltung einzunehmen. Das ist heute bei der Pandemie sehr deutlich zu sehen. Wir brauchen die wissenschaftliche Haltung, aber wir brauchen auch eine poetische Haltung. Eine poetische Haltung bedeutet letztendlich, präsent zu sein. Wenn man ein Gedicht liest, muss man unweigerlich präsent sein. Ein Gedicht bringt einen immer in den gegenwärtigen Moment, es bringt dich in einen Raum, in dem du beobachten kannst, wie immer du beobachten willst, ob kritisch oder mitfühlend. Diese Präsenz ist ein Bewusstsein, das von der wissenschaftlichen Einstellung nicht kultiviert wird, die sich auf Fakten konzentriert, auf den Wunsch, Schlussfolgerungen zu ziehen, zu argumentieren und zu diskutieren. Auch diese Qualitäten brauchen wir in zukunftsfähigen Gesellschaften, und ich will das keineswegs anprangern. Aber wir sind auch auf den poetischen Zugang angewiesen.
Unter die Oberfläche schauen
e: Meiner Erfahrung nach gehört es zur poetischen Haltung, unter die Oberfläche der Dinge zu blicken, um die Essenz eines Moments zu ergründen. Ich höre Sie unter anderem sagen, dass wir Formen des Wissens und Wege zur Vermittlung dieses Wissens brauchen, die auf einer tieferen Ebene ansetzen, die nicht einfach messbar ist. Man könnte sogar sagen: Das ist das Unermessliche, das Bedeutsame, das Wesentliche. Es ist etwas, das aus unseren Wissenssystemen herausgerissen wurde. Und dadurch werden Aspekte unserer Menschlichkeit verleugnet, die wir zutiefst brauchen.
¬ DAS EURO-PATRIARCHALE WISSEN TRENNT ZWISCHEN DINGEN, DIE EIGENTLICH MITEINANDER IM DIALOG SEIN SOLLTEN. ¬
MS: Es gibt sicherlich Möglichkeiten, die äußere Welt zu messen, zu konsolidieren und zu kategorisieren. In der inneren Welt können wir das nicht wirklich, aber wir können die innere Welt ernst nehmen. Das bedeutet auch, Dinge wie Freude und Liebe ernst zu nehmen, denn das sind Qualitäten, die für die innere Welt wichtig sind.
Was Sie gesagt haben, hat mich auch an Eros denken lassen – im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: Verbundensein in Liebe. Wenn wir das Wort Eros hören, denken wir an die Beziehung zwischen Intimität und Liebe. Aber wir sollten auch in der Lage sein, die äußere Welt mit dieser fantasievollen, neugierigen und aufgeschlossenen Einstellung zu betrachten. Das entspricht der Art und Weise, wie Dichter oft das Verfassen eines Gedichtes beschreiben. Es ist ein spontaner Moment, in dem die Eingebung zu einem Gedicht erscheint, und dann arbeiten sie oft lange daran. Aber diese erste Inspiration ist sehr spontan, sie scheint mit all der Wahrheit und Weisheit einherzugehen, die das endgültige Gedicht dann hoffentlich vermitteln wird.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Aufgrund der innigen Beziehung, die ich bewusst zu Flüssen pflege, hatte ich irgendwann den spontanen Geistesblitz, dass Flüsse uns etwas über Macht lehren können. Ein solcher Ansatz bedeutet, auf eine intime Art zu leben, auf eine neugierige Art. Denn das euro-patriarchale Wissen trennt zwischen dem Abstrakten und dem Verorteten. Sinnliches Wissen, das sich auf eine verkörperte Art des Wissens beruft, zeigt uns, dass wir uns selbst verorten, unsere Welt um uns herum betrachten und Wissen aus unserem Körper, aus unseren Freundschaften, aus unseren Ökosystemen ableiten können.
e: Was Sie in Ihren Gesprächen mit Flüssen über Macht anzusprechen scheinen, impliziert, dass Intimität eine andere Art des Wissens ist.
MS: Das Euro-Patriarchat unterscheidet zwischen dem Theoretischen und dem Imaginativen. Und ich bin bestrebt, diese beiden Welten zusammenzubringen, denn das macht das Leben der Menschen tatsächlich aus. Die Menschen fühlen sich zu Geschichten, zur Kunst, zur Natur und zu Gefühlen hingezogen und nicht nur zu Theorie, Fakten und Statistiken.
Mein ganzes Leben wurde durch verschiedene Perspektiven und Realitäten geprägt. Meine Mutter ist Finnin, mein Vater Nigerianer, aber sie haben sich in Deutschland kennengelernt. Sie haben also immer Deutsch miteinander und mit mir gesprochen. Mein Vater ist Muslim, meine Mutter war Protestantin. Ich hatte immer mehrere Sprachen, Religionen und Ethnien um mich herum und sie haben mich geprägt. Aber ich hatte immer das Gefühl, nicht dazuzugehören, die Gesellschaft hat immer versucht, mich zu korrigieren. Der Ort, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Zuhause fand, wenn auch eine intellektuelle Heimat, war der schwarze Feminismus.
Auf meiner persönlichen Reise habe ich gelernt, Wissen als Aktivismus zu betrachten. Und ich bin sicher nicht die einzige Person mit einem kosmopolitischen und multidimensionalen Hintergrund. Aber meine besondere Erfahrung hat mich gelehrt, dass ein anderer Weg möglich ist. Eine der Grenzen des euro-patriarchalen Wissens und der konventionellen Erziehung besteht darin, dass wir nicht glauben, dass andere Wege des Wissens, des Lebens und der Schaffung von Systemen und Institutionen möglich sind.
Entwicklung ernst nehmen
e: Ihre Arbeit weist also darauf hin, wie wir beginnen können, die Dinge zu verändern, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken.
MS: Und es ist wichtig, dass es nicht nur darum geht, wie wir persönlich mit dem Leben umgehen. Ich sehe meine Arbeit als Teil einer politischen und sozialen Bewegung. Selbst bei fortschrittlichen, komplexen Denkern gibt es die Tendenz anzunehmen, dass wir zuerst an der inneren Entwicklung arbeiten und dann bestimmen, was für die Gesellschaft nützlich ist. Was ich sage, ist fast das Gegenteil: Weil es so viele dringende Probleme in der Gesellschaft gibt, sind wir gezwungen, uns innerlich zu entwickeln. Sogar in der feministischen Welt habe ich festgestellt, dass viele Frauen, aber auch Männer, durch ihre eigene persönliche Reise zum Feminismus kommen, vielleicht durch Diskriminierung oder Traumata, die sie erlebt haben.
Oft besteht ein gewisses Gefühl einer Errungenschaft: »OK, ich bezeichne mich als Feministin, ich habe ein paar Bücher gelesen und jetzt bin ich Feministin.« Wenn man das umkehrt und an sich selbst für die größere Bewegung arbeitet, wird deutlich, dass Feminismus etwas ist, das man ernst nehmen muss. Man muss sich konkret und verbindlich engagieren, weil man Teil einer größeren sozialen und politischen Bewegung ist. Wenn wir über innere Entwicklung sprechen, müssen wir das sehr ernst nehmen, weil wir an einer kollektiven Veränderung beteiligt sind.
¬ WENN MAN EIN GEDICHT LIEST, MUSS MAN UNWEIGERLICH PRÄSENT SEIN. ¬
Ich habe ein Bild für die Zeit, in der wir leben. Es ist, als wäre man in einem langen, rechteckigen Haus, und an beiden Enden des Hauses gibt es ein Fenster. Und wenn man aus dem einen Fenster schaut, sieht man einen schönen Park, vielleicht eine Stadt und eine urbane Landschaft, man sieht etwas sehr Anziehendes. Aber wenn man dann aus dem anderen Fenster schaut, sieht man ein Feuer, man sieht einen gewaltigen Zusammenbruch, einen Zustand fehlender sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Und was für ein Gefühl hat man, wenn man in diesem Haus mit zwei Fenster mit so diametral entgegengesetzten Aussichten ist?
Das bringt uns wieder zurück zum gegenwärtigen Moment. Lange Zeit wurden wir in spirituellen oder psychologischen Kreisen einerseits von euro-patriarchalem Wissen beeinflusst und auf der anderen Seite von der Kehrseite des euro-patriarchalen Wissens, was die andere Seite derselben Medaille ist: immer noch individualistisch geprägt, egoistisch motiviert und vielleicht sogar von einer Haltung des Rückzugs bestimmt.
Es gibt oft diesen Anreiz, nur aus dem einen Fenster auf die schöne Aussicht zu schauen und sich auf die innere Welt zu konzentrieren, die in diesem Raum kultiviert werden kann, während die andere Seite in Flammen steht. Mit diesem Bild vor Augen wird man hingegen in die Gegenwart geholt: Ja, es gibt Schönheit, und es ist sehr wichtig, dass wir Schönheit praktizieren und uns innerlich weiterentwickeln. Aber es ist auch sehr wichtig, dass wir uns des Leidens um uns herum bewusst sind und der Art und Weise, wie wir dazu motiviert werden, blind für dieses Leiden zu werden. Das euro-patriarchale Wissen hat die Agenda, uns blind für das Leiden zu machen, damit das euro-patriarchale Wissen weiterhin dominieren und gedeihen kann.
Mutiges Denken
e: Es geht also um Präsenz, d. h. darum, in diesem Moment anwesend zu sein und die Spannung und das Potenzial wahrzunehmen, die in ihm stecken.
MS: Es geht darum, sich auf verschiedene Denkweisen einzulassen, die zu verschiedenen Arten des Handelns und des Seins führen. Und diese verschiedenen Denkweisen können paradoxes Denken, intimes Denken, poetisches Denken, wissenschaftliches Denken, vereinheitlichendes Denken und hinterfragendes Denken, neugieriges Denken und schließlich mutiges Denken sein. Mutig zu sein, mutig zu sprechen, so klar und ehrlich wie möglich. Während das euro-patriarchale Wissen uns mit seiner beschönigenden, verschleiernden und den Status quo aufrechterhaltenden Propaganda blendet, die die europäische eurozentrische Männlichkeit bevorzugt, bedeutet mutiges Denken, im Angesicht der Macht die Wahrheit zu sagen und ihr nicht zu erlauben, Lügen zu verbreiten.
e: Ich schätze es sehr, dass Sie hier nicht nur von einem individuellen Prozess sprechen, sondern dass sich dieser Wandel in Beziehung und Gemeinschaft vollzieht.
MS: Wir müssen ehrlicher sein und komplexer wahrnehmen, wenn wir über Individualismus sprechen. Es gibt einen Individualismus, der mit einer alles verschlingenden Konsumhaltung verbunden ist, der offensichtlich der Fluch unseres schönen Planeten ist. Aber gleichzeitig ist das Individuum der Keim der radikalen Veränderung und das Kollektiv ist oft der Keim der Konformität. Wir müssen diese Paradoxe aushalten und überlegen, was das für die Schaffung von Gemeinschaft bedeutet. Auf einer kollektiven Ebene wollen wir eine radikale Transformation, hin zu nicht-kapitalistischen Formen des Wirtschaftens. Aber diese Einsicht beginnt oft beim Einzelnen, der sich von der Konformität befreit, um auf eine neue Art zu handeln und Gemeinschaft in einer neuen Weise aufzubauen.