Die Lebendigkeit an den Rändern
May East begann in den 80er-Jahren als erfolgreiche Sängerin und Musikerin und engagierte sich dann in der Nachhaltigkeitsarbeit im Ökodorf Findhorn, in der Transition-Town-Bewegung und bei der UNO. In ihrer Arbeit bewegt sie sich an den Rändern ökologischer und sozialer Systeme, um Kreativität und Potenziale zu befreien.
evolve: Sie bezeichnen sich selbst als Edgeworker, als »Grenzarbeiterin«. Was bedeutet das für Sie?
May East: Eine Grenze ist dort, wo zwei Ökosysteme aufeinandertreffen. In dem Bereich, wo ein Wald an eine Savanne grenzt, findet man spezifische Arten des Waldes und der Savanne. Wir schaffen dort Bedingungen für Arten, die hauptsächlich in dieser Pufferzone vorkommen. In der Regel ist die Artenvielfalt an den Rändern größer als in den Ökosystemen selbst. Ränder sind also Orte, an denen es mehr Vielfalt, mehr Leben, mehr Intensität gibt. In der Ökologie wird dies als Ökoton bezeichnet, was bedeutet, dass Ökosysteme in Spannung zueinander stehen und deshalb mehr Produktivität, mehr Potenzial enthalten. Einer der Grundsätze für ökologisches Design lautet: Wenn man das Leben vermehren will, muss man die Grenzbereiche vermehren.
Auf der Grundlage des Ökotons habe ich ein Konzept namens Sozioton entwickelt, also Gesellschaften in Spannung. Wenn man an den Rändern von sozialen Systemen arbeitet, hat man möglicherweise mehr Potenziale. So wie es möglich ist, die Ränder, die Vielfalt und die Produktivität zwischen benachbarten biologischen Gemeinschaften zu vermehren, so ist es auch möglich, in der Gesellschaft zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen mit unterschiedlichen Weltanschauungen, Machtstrukturen und Absichten einen kraftvollen Randeffekt zu schaffen.
e: Wie arbeiten Sie mit dem Konzept des Soziotons?
ME: Ein praktisches Beispiel: Im Jahr 2016, als sehr große Migrantenwellen Europa erreichten, war einer der häufigsten Ankunftsorte Sizilien. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade dabei, eine Forschungsarbeit über die Wiederbelebung von Geisterstädten in Süditalien abzuschließen. Ich wusste also, dass es ein riesiges Potenzial an leeren Dörfern gab und dass gleichzeitig all dieses menschliche Potenzial in die Region kam. Gleichzeitig gab es ein riesiges Potenzial für die ökologische Lebensmittelproduktion, da die europäischen Märkte Sizilien als »Garten Europas« und einen der wichtigsten Erzeuger von Olivenöl, Zitrusfrüchten, Orangen und Zitronen erkannten. Es gab die Universitäten und Nichtregierungsorganisationen, die Landwirte, die europäischen Märkte, die jungen Einwanderer und das landwirtschaftliche Erbe Siziliens. Wir haben die Voraussetzungen für neue Arbeitsfelder geschaffen, um die Region zu beleben und die Fähigkeiten von Immigranten und jungen Sizilianern auszubilden.
»Wenn man das Leben vermehren will, muss man die Grenzbereiche vermehren.«
Eine soziotone Intervention war ein projektbasiertes Lernen namens Herbal Youth Chocolate mit jungen Migrantinnen. Sie erlernten Fähigkeiten in allen Phasen der Schokoladenherstellung – vom Baum bis zur Tafel, einschließlich der Umwandlung der Kakaobohnen in Likör, Butter, Pulver und Schokolade. Indem sie die Qualitäten der Schokolade und ihre Lernerfahrungen aufzeichneten, konnten sie den Prototyp für die erste Lieferung von »Courage«-Schokolade herstellen. Fünfhundert Schokoladen, die von den jungen Migrantinnen in Sizilien handgefertigt wurden, konnten 2018 erfolgreich auf den Markt gebracht werden. Im Sommer 2019 erhielt das Produkt einen Zuschuss für die Entwicklung einer Machbarkeitsstudie und eines Geschäftsplans für die nächsten fünf Jahre.
e: Es scheint so, als ob Sie auf die verschiedenen Potenziale achten, die in einer Situation vorhanden sind. Sehen Sie Ihre Arbeit als einen regenerativen Impuls, um diese Potenziale zusammenzubringen?
ME: Ja, es ist eine regenerative Arbeitsweise, denn die meisten Projekte werden aufgrund von Problemen entwickelt und versuchen, diese zu lösen. Aus einer regenerativen Perspektive sieht man das Potenzial. Bei der Lösung eines Problems geht es um die Vergangenheit, beim Blick auf das Potenzial geht es um die Zukunft. Wenn man sich mit der biokulturellen räumlichen Einzigartigkeit eines Ortes vertraut gemacht hat, kann sein Potenzial zum Vorschein kommen. Dann muss man sich mit den Hindernissen befassen, die dem Prozess im Wege stehen. Wir arbeiten kreativ mit den hemmenden Kräften, denn sie können uns helfen, unsere aktivierende Kraft zu verfeinern.
e: Sie haben sich auch intensiv mit Stadtplanung beschäftigt? Was muss sich Ihrer Meinung nach in der Gestaltung unserer Städte ändern?
ME: Zu diesem Thema schreibe ich im Moment meine Doktorarbeit. Der Titel meiner Arbeit lautet »Was wäre, wenn Frauen die Stadt gestalten würden?« Ich habe Interviews zu Fuß durchgeführt und bin mit 274 Frauen in drei Städten und fünf Stadtvierteln spazieren gegangen. In meiner Forschung sehe ich Frauen als Expertinnen ihrer Stadtteile. Die Gestaltung unserer Städte war immer ein Vorrecht von Architekten und Planern. Die meisten Städte wurden von Männern entworfen, und deshalb funktionieren Städte in der Regel besser für Männer als für Frauen.
Ich bin mit Frauen in ihren Vierteln spazieren gegangen und habe sie gefragt: Was ist das Potenzial? Was ist das Besondere an diesem Viertel? Wie würde es aussehen, wenn Sie die Stadt gestalten würden? Dabei suche ich nach Mustern, die aus dem Denken und der Erfahrung der Frauen kommen. Ein wichtiger Parameter ist der Sinn für den Ort. Dieser hat während der Pandemie stark zugenommen, weil die Menschen mehr Zeit in ihren Vierteln verbrachten. Weitere Qualitäten sind innerhalb von 20 Minuten erreichbare Grünflächen und dass alles, was man zum täglichen Leben braucht, in fußläufiger Nachbarschaft liegt. Und dann ist da noch die Sicherheit, damit sich Frauen Tag und Nacht ungestört bewegen können.
So erweitert man das gesamte Gespräch, so dass Städte nicht auf Mobilität, sondern auf Nähe ausgelegt sind. Frauen sind mehr mit den täglichen Aufgaben beschäftigt, der Schule, Arztbesuchen oder dem Einkauf. Das wäre sehr gut für die Städte und für den Planeten, denn wenn wir anfangen, auf lokaler Ebene zu leben, werden wir die Kohlenstoffemissionen senken und einen stärkeren Sinn für Gemeinschaft entwickeln. Wir werden unsere Widerstandsfähigkeit stärken. Wenn wir mit den Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert werden, können wir besser darauf reagieren. ■
Das Gespräch führte Mike Kauschke für die Ausgabe 35/2022.