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Nicolás Amaya hat das Projekt »Human online« mitbegründet, das einen virtuellen Raum anbietet, wo sich Menschen treffen können, um einige Momente in stiller Präsenz miteinander zu teilen. Wir sprachen mit ihm über die Kraft der Gegenwart und was sie in unserem Zusammenleben bewirken kann.
evolve: Welches Grundanliegen steht hinter eurem Projekt?
Nicolás Amaya: Die Kernidee ist ganz einfach: Wir wollen Technologie und die globale Vernetzung durch das Internet nutzen, um Menschen in Präsenz miteinander zu verbinden. Denn wir sind zwar durch das Internet verbunden, aber oft wird durch die Art dieser Verbindung die Trennung nur noch stärker. In der Art, wie wir das Internet und den Computer nutzen, sind wir oft von uns selbst getrennt oder wir konsumieren Inhalte. Wir sind in Kontakt mit der ganzen Welt, weil wir Nachrichten aus der ganzen Welt lesen können, aber sind nicht wirklich auf eine präsente, gefühlte Art damit verbunden.
Mir wurde klar, dass die Erfahrung, sich einfach in Stille anzuschauen, sehr kraftvoll ist, und tatsächlich auch über den Bildschirm funktioniert. In diesem Moment sind wir beide miteinander über eine Videokonferenz verbunden – wir können uns ansehen, aber wir können uns auch gegenseitig spüren. Für mich hat diese essenzielle Verbindung eine eigene Schönheit.
Unser Projekt stellt eine Website zur Verfügung, die jederzeit die Möglichkeit bietet, sich mit einem Menschen zu verbinden, den du nicht kennst und von dem du nicht weißt, wo er sich befindet. Ihr könnt überall auf der Welt sein und verbringt einfach eine Minute damit, euch gegenseitig anzusehen, einfach nur in Stille miteinander zu sein. Das ist die Kernerfahrung, die wir anbieten und wir möchten, dass sie jederzeit zur Verfügung steht.
e: Gibt es zusätzlich ein Gespräch, das die Beteiligten über die Erfahrung führen können?
NA: Die Frage, ob wir die Menschen auch zu solchen Gesprächen ermutigen sollten, haben wir uns von Anfang an selbst gestellt. Aber wir haben das Gefühl, dass da etwas sehr Reines und Echtes ist, wenn wir einfach nur diese stille Minute miteinander verbringen. Wir wollen niemand Besonderen treffen; keinen besonders attraktiven Menschen oder jemanden aus dem eigenen Land. Es ist egal, ob der Mensch alt oder jung ist, es ist einfach nur irgendein anderer Mensch auf unserem Planeten.
e: Welche Intention hat dich zu dieser Idee geführt?
NA: Eine Motivation ist der Wunsch nach Momenten echter Verbundenheit. Es ist ein Akt von Großzügigkeit, sich gegenseitig Raum zu geben. Wenn wir normalerweise jemanden in die Augen sehen, sind wir meistens aus irgendeinem Grund an dieser Person interessiert. Aber in dieser Erfahrung richtet sich unser Interesse auf alle Menschen. Wenn wir miteinander in der Stille sind, zeigt sich ein stiller, langsamer Teil in uns, der sich in anderen Begegnungen oft nicht zeigen kann.
Eine andere Motivation ist meine Erfahrung mit der digitalen Welt, die ich erstaunlich finde, weil wir etwas kreieren können, und unmittelbar danach ist es für die ganze Welt verfügbar. Das finde ich faszinierend, und gleichzeitig können diese Erfahrungen zu innerer und äußerer Trennung und Fragmentierung führen. Deshalb wollte ich in der digitalen Welt einen Raum schaffen, der uns das Gefühl einer direkten Verbundenheit gibt.
Und die dritte Motivation ist die Tatsache, dass wir uns auf Human Online direkt mit jemandem von irgendwo auf der Welt verbinden können, weil es in der Stille keine Sprachbarrieren gibt. Direkt bedeutet, dass es nicht vermittelt ist, nicht durch irgendetwas, irgendeine Information – es ist wie eine grundlegende menschliche Erinnerung: Hey, wir sind verbunden.
e: Welche Wirkung erhoffst du dir für die Menschen, die sich in diesen Raum begeben?
NA: Mein Traum wäre, dass immer Menschen in diesem virtuellen Raum wären, sodass jeder Mensch auf diesem Planeten wüsste: Wenn ich will, kann ich jederzeit dorthin gehen und eine authentische Verbindung mit einem anderen Menschen von irgendwo auf diesem Planeten aufnehmen. Auf einer persönlichen Ebene könnte es wie eine Minimeditation sein.
Hinzukommt, wenn ich mich direkt mit Menschen aus anderen Teilen dieser Welt verbunden fühle, dann sind sie mir nicht gleichgültig. Wir leben in einer fragmentierten Welt, in der alle anderen außerhalb von mir sind. Der größte Traum wäre, dass mehr Wir-Gefühl für uns alle entstehen würde, dass wir mehr Fürsorge füreinander entwickeln, um den anderen zu erreichen, insbesondere in Konfliktfeldern. Beispielsweise ist mein Traum, ein Event zu kreieren, bei dem viele Israelis und Palästinenser zusammenkommen und sich gegenseitig in die Augen sehen – und sich einfach auf diese essenzielle Weise miteinander verbinden.
Es ist ein Akt von Großzügigkeit, sich gegenseitig Raum zu geben.
e: Wenn wir unsere Welt und das Ausmaß der Gewalt und Konflikte betrachten, dann könnteman einwenden, dass tiefere Verbindung von Individuen nicht viel ausrichten kann. Was kann diese Art von Erfahrung, die ihr schaffen möchtet, in einer Weltsituation bewirken, in der vielfach die Kräfte der Trennung stärker zu werden scheinen?
NA: Natürlich gibt es im Augenblick sehr viele drängende Probleme und tiefes Leid. Dafür habe ich keine Antwort. Neulich habe ich einen Bericht über den Jemen gelesen. Es kann wirklich überwältigend sein, zu lesen, was dort gerade geschieht – und genauso über die politische Situation in vielen anderen Ländern. Warum ich so begeistert bin von unserem Projekt liegt darin, dass sich etwas in den Menschen verändert, wenn sie Mitgefühl empfinden. Wenn ich mich öffne, bin ich in der Lage, mehr zu spüren. Ich bezeuge etwas, und das bedeutet, ich halte einen Menschen, jemanden außerhalb von mir, in meiner Bewusstheit.
Meine Hoffnung liegt darin, dass wir Strukturen jenseits des momentanen Systems schaffen können, wenn Menschen auf der ganzen Welt sich miteinander verbunden fühlen und füreinander Mitgefühl und Fürsorge empfinden. Die Idee hinter unserem Projekt ist, dass wir uns gegenseitig tiefer sehen, mit wachsender Sensibilisierung und Bewusstheit füreinander und mit gegenseitiger Zuwendung.
e: Siehst du eine spezielle Sehnsucht für solche Erfahrungen bei jüngeren Leuten, die als Digital Natives aufgewachsen sind?
NA: Das ist wirklich eine gute Frage. Wir wissen es nicht, aber wir sind gespannt, es herausfinden, weil auch junge Digital Natives unser Zielpublikum sind. Aber ich wünsche mir, dass es auch etwas für Menschen ist, die sich isoliert fühlen. Sogar älteren Leuten, die sich vielleicht in einer isolierten Situation befinden, könnte es eine Gelegenheit geben, in diesen Online-Raum zu kommen, wo jederzeit jemand ist, der wirklich mit ihnen präsent ist. Bislang haben wir viele Menschen im mittleren Alter auf der Website, die häufig als Singles leben und eine echte Präsenz suchen, das Gefühl, dass jemand da ist, der sie sieht und ihnen seine Gegenwart schenkt. Ich denke, das ist etwas, was wir manchmal in unserer Gesellschaft vermissen. Wir sind sehr schnell, wir sprechen über viele Dinge, aber oft vermissen wir, dass jemand da ist – und wir haben nicht die Zeit dafür, dass unsere langsameren Anteile sich zeigen können.
Author:
Mike Kauschke
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