Rationalität ist nicht, was du denkst

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 17, 2014

Featuring:
Dr. Otto Laske
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Ausgabe 02 / 2014:
|
April 2014
Weltinnenraum
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Die Dialektik menschlichen Wachstums


Otto Laske ist ein unabhängiger Denker zwischen den Welten. Er begann als Philosoph in der Tradition der Frankfurter Schule und ist heute in Boston als Entwicklungspsychologe, Coach, Sozialwissenschaftler und Künstler tätig. Aufgrund seiner Studien entwickelte Laske seinen eigenen entwicklungspsychologischen Ansatz, das Constructive Developmental Framework. Darin berücksichtigt er die psychologische, sozial-emotionalen und kognitive Dimension des Menschseins. Unsere Redakteurin Elizabeth Debold sprach mit Otto Laske über Rationalität, Intuition und die Kunst, dialektisch zu denken.

evolve: Beginnen wir mit einer grundlegenden Frage: Was ist Rationalität?

Otto Laske: Die Antwort auf diese Frage hängt von dem kulturellen Rahmen ab, in dem wir uns befinden. In der westlichen Kultur haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, dass das höchste Gut der Menschheit das Denken sei. Wir stehen derart unter dem Einfluss dieser Tradition, dass wir ein eingeschränktes Verständnis von allem haben was intuitiv ist. So wie ich es jedoch sehe, sind meine Gefühle ein Instrument der Erkenntnis meiner selbst, anderer und der Welt. Das ist rational aber nicht verbal. Es kann nicht in Begriffe gefasst werden. Wir können auf verschiedene Art und Weise rational sein: wir können uns Begriffen bedienen, unsere Intuition gebrauchen und unsere Gefühle mit einbeziehen. Stellen Sie sich einen Psychotherapeuten vor, der zu einem Patienten sagt, „Jetzt sind sie wütend“, und der Patient ist sich dessen nicht bewusst. Der Psychotherapeut kann das sagen, weil er seinen eigenen Körper oder sein Selbst als Erkenntnisinstrument gebraucht. Es ist eine völlig rationale Vorgehensweise, die er dabei anwendet.

Fühlen ist formbar

e: Wie verstehen Sie die Beziehung zwischen Fühlen und Denken?

OL: Leute, die das Gefühl gegen die Rationalität oder den Verstand setzen, argumentieren auf einer sehr abstrakten, nicht dialektischen Ebene, und sie erkennen dabei oft nicht, dass das Gefühl mit Denken durchtränkt ist: je voller das Gefühlserleben ist, desto mehr Denken ist beteiligt. Zum Beispiel bin ich heute Morgen um 6:30 Uhr aufgestanden, weil ich mein Auto zur Werkstatt bringen wollte. Ich war etwas verärgert darüber und dachte: Warum haben die das Problem nicht früher erkannt, als sie mir das Auto verkauft haben? Ich hatte deshalb eine sehr negative Einstellung in Bezug auf mein Vorhaben. Aber während ich zur Werkstatt fuhr, wurde mir bewusst, dass es ein wunderschöner Morgen ist – der Blick auf meinen Wohnort Gloucester im frühen Morgenlicht, das sich im Meer spiegelte. Während ich in meinem Denken eine Welt der Konzepte schuf, die mit der Umgebung zu tun hatte, durch die ich gerade fuhr, verblasste mein Ärger und mein negatives Gefühl veränderte sich in eines der Akzeptanz und Positivität. Mein anfängliches Gefühl wandelte sich also in einem begrifflich gestalteten Prozess zu einem anderen Gefühl. Es veränderte sich fast ins völlige Gegenteil. Wenn Sie sich selbst beobachten, können Sie feststellen, dass Sie Ihre Gefühle wesentlich verändern können, wenn Sie ein größeres Bild der Situation gewinnen.

Unser Gefühl ist mit Denken durchtränkt.

e: Warum ist es wichtig, ein größeres Bild von der Welt zu bekommen?

OL: Eine Fähigkeit des Verstandes ist es, ein größeres Bild zu erschaffen. Auch die Untersuchungen des Entwicklungspsychologen Jean Piaget belegen das. Er sagte, dass wir als Neugeborene mit dem Bewusstsein beginnen, das Zentrum der Welt zu sein. Es existiert noch kein anderer, keine Mutter, kein Bruder. Als „Subjekt“ – das Individuum, das eine subjektive Erfahrung hat – beginnen wir als ein riesiges Subjekt: es gibt einfach nur unsere eigenen Bedürfnisse und eine aufblühende, geschäftige Verwirrung. Aber am Ende unseres Lebens fühlen und erfahren wir uns als ein winziges Teilchen eines riesigen Kosmos, der unabhängig von uns weiter existieren wird. Mein Lehrer Robert Kegan, ein Entwicklungspsychologe aus der Kohlbergschule, beschreibt es so: wir beginnen als ein riesiges Subjekt und enden als ein ganz kleines. Als riesiges Subjekt haben wir zunächst gar kein, oder jedenfalls ein ganz kleines Objekt – das, was wir reflektiv objektivieren können. Am Ende nimmt unser Bewusstsein ein riesiges Objekt wahr – das große Bild der Welt und unsere Erfahrung darin – und von uns selbst ist nur ein sehr kleines Subjekt geblieben. In dieser Bewegung vom riesigen zum kleinen Subjekt und dem winzigen Objekt zum riesigen Objekt kommen Denken und Fühlen zusammen.

Nur was getrennt ist, kann vereint werden

e: Können Sie mehr darüber sagen wie sich Denken und Fühlen verbinden?

OL: Aus einer wissenschaftlichen Sicht würde ich auf Gefühl als Thema der sozial- emotionalen Entwicklung und auf das Denken als Thema der kognitiven Entwicklung verweisen. Nicht um sie zu trennen und sie gegensätzlich zueinander zu stellen, sondern um sichtbar zu machen, was es für sie bedeutet, zusammenzukommen. Wie Hegel sagte, kann man nichts vereinen, was man nicht vorher getrennt hat. Damit meinte er, dass man die Einheit von etwas – das große Bild – nur in dem Maße sehen kann, wie man die Elemente, die diese Einheit bilden, differenziert. Man benötigt das Teil sowohl wie das Ganze, um die Einheit zu sehen. Dies ist von grundlegender Bedeutung für das dialektische Denken, über das ich später sprechen werde.

Man benötigt das Teil sowohl wie das Ganze, um die Einheit zu sehen.


Die Frage nach der Beziehung zwischen Fühlen und Denken ist eine Frage über die menschliche Entwicklung zum Erwachsensein. Die Amygdala, das primitive Gehirn, das wir mit Tieren teilen, und der frontale Cortex, den wir als  spezifisch „menschlich“ betrachten, brauchen ein ganzes Menschenleben um zusammenwachsen. Zu Beginn sind sie nicht fest durch Nervenfasern verbunden, so wie es am Ende des Lebens der Fall ist.
Ich erinnere mich an das Interview mit einer älteren Dame zur „Erforschung der Lebensspanne“, wie wir es nannten. Das Gespräch kam auf die Beziehung zwischen Denken und Fühlen und sie sagte: „Wissen Sie, reine Freude kenne ich eigentlich nicht mehr, denn sie ist so vermischt mit dem, was ich über Trauer weiß. Meine Gefühle sind nun sehr viel komplexer als sie es waren, als ich zwanzig oder dreißig war. Aufgrund meiner Erfahrung bin ich nicht mehr so vertraut mit dieser Idee der reinen Freude.“ Sie sprach über die kognitive Entwicklung und nicht nur über die Entwicklung ihrer Gefühle.
Denken und Fühlen sind am Anfang des Lebens getrennt und am Ende des Lebens vereint. In den Zwischenstufen erreichen sie verschiedene Ebenen des Gleichgewichts. In den meisten Fällen sind sie asynchron zueinander, so dass Menschen, die ihr Denken nicht vollständig entwickelt haben, ein Ungleichgewicht zwischen ihrer sozial-emotionalen und kognitiven Entwicklung erleben.

e: Was ist der Unterschied zwischen der sozio-emotionalen und kognitiven Entwicklung?

OL: Ich bezeichne Robert Kegans Arbeit über Sinnbildung als sozio-emotionale Entwicklung. „Meaning-Making“ bzw. Sinnbildung basiert auf Gefühl wie auch Kognition. Ich nenne Sinnbildung „sozio-emotionale“ Entwicklung, um sie von kognitiver Entwicklung, dem konzeptionellen Erfassen der Welt, abzutrennen. Beide Entwicklungsstränge konstituieren Rationalität. Die ungelöste Frage ist, wie sie sich im Einzelnen aufeinander beziehen.
Aber schauen wir uns ein Modell der Erwachsenenentwicklung an. Kegan spricht von fünf Phasen, von der Stufe 1, dem Kleinkind, bis Stufe 5. Ich werde mit Stufe 2 beginnen, die er „instrumentell“ nennt. Wir sind alle dort gewesen; wir waren alle Jugendliche: Meine Welt ist eine, in der ich eigentlich sehr wenig über andere Menschen und ihre Gefühle und Gedanken weiß. Wenn ich an meine erste Liebe denke, so dachte ich, ich sei verliebt in diese andere Person, aber ich war vor allem verliebt in mich selbst. Ich wollte eigentlich nur wissen, dass sie mich liebt. Indem Kegan diese Stufe als „instrumentell“ bezeichnet, sagt er, dass man andere als ein Instrument zur Erfüllung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse (und Illusionen) benutzt.

Zur Selbstbestimmung und darüber hinaus

e: Was ist auf dieser Stufe die Beziehung zwischen der eigenen Fähigkeit zur Vernunft und den eigenen Gefühlen?

OL: Das ist eine interessante Frage. Auf der einen Seite sind Fühlen und Denken das Gleiche und andererseits liegen Welten zwischen ihnen. Gefühle kommen aus meinen eigenen Impulsen, sie sind ursprünglich und nicht von Gedanken durchdrungen. In diesem Sinne sind sie abstrakt und eng, obwohl starke Gefühle – wenn wir sie empfinden – uns in völliges Chaos stürzen können! In Stufe 3, die Kegan als „von anderen abhängig“ bezeichnet, fühle ich, dass ich bin wie jeder andere auch. Ich definiere mich durch das, was andere von mir erwarten. Dadurch werde ich natürlich voll und ganz von anderen abhängig.
Meine Aufgabe ist es nun, mich aus dieser Abhängigkeit zu anderen zur Stufe 4 hin zu bewegen, wo ich all diese verinnerlichten Stimmen anderer hinter mir lasse. Auf dieser Reise von der Abhängigkeit von anderen zur Selbstbestimmung (self-authoring) werde ich erfahren, dass ich eine authentische Stimme und unechte Stimmen in mir habe. Ich benutze immer das Beispiel von Martin Luther in Worms im 16. Jahrhundert, um zu erklären, was mit Selbstbestimmung gemeint ist. Als er gebeten wurde, seine Ansichten zu widerrufen, sagte Luther (so wird behauptet): „Hier stehe ich, ich kann nicht anders … Ihr könnt mich gefangen setzen oder gar töten für meinen Glauben.“ Das ist Selbstbestimmung. Sie sind innerlich nicht mehr abhängig von anderen. Dazu gehört der Mut, man selbst zu sein, dem eigenen Weg zu folgen und dafür geächtet und getötet oder rausgeschmissen zu werden. Laut der empirischen Forschung scheint die Mehrheit der Menschen auf Stufe 3 oder zwischen 3 und 4 zu bleiben, aber nur ein Fünftel der Erwachsenen in unserer Kultur schaffen es zur Stufe 4, der Stufe der Selbstbestimmung.

In der Dialektik ist das, was getrennt ist, gleichzeitig untrennbar.


Wenn Sie aber nun in dieser wunderbaren Haltung von Integrität leben, was ist dann Ihre nächste Entwicklungsaufgabe? Ihre nächste Aufgabe ist es, diese Stufe hinter sich zu lassen, um dem selbstgebauten Käfig der Integrität zu entkommen. Auf dieser Stufe beginnen zu sehen, dass wir uns nicht weiterentwickeln können, ohne dass wir andere ausgewählte Personen zu Hebammen unserer eigenen Entwicklung machen. Also tritt man hier in die Sphäre der Intimität, nicht nur im sexuellen Sinn der Liebe, sondern der Offenheit gegenüber anderen ein, die einem die eigenen Grenzen aufzeigen können. Diese sog. Stufe 5 ist nicht leicht zu beschreiben. Nach Kegan ist dies die Stufe des Selbstbewusstseins (self awareness), wo ich kein Interesse mehr an Struktur (Formung) habe, sondern an Transformation. Ich bin nicht länger dadurch definiert, wo ich geboren wurde, wie ich erzogen wurde und was mein Beruf ist. Im Angesicht der Sterblichkeit, bin ich jetzt ein kleiner Teil in einem riesigen Kosmos, der nach mir weiter bestehen wird. Ich sehe mein kleines Leben in einem größeren Bild. Und die Gefühle, die ich über mein Leben und über das Leben anderer habe, werden vermittelt durch meine kognitive Entwicklung, die nun eines sehr großen Objekts fähig ist.

e: Das heißt, die Art und Weise wie wir fühlen, verändert sich über die Zeit hinweg, während wir die Fähigkeit entwickeln, den Kontext, in dem wir uns befinden, zu verstehen.

OL: Ja, und wieweit uns das möglich wird, das hängt von dem Ausmaß unserer kognitiven Entwicklung ab. Um die Sicht eines selbstbestimmten Menschen zu halten, braucht man ein bestimmtes kognitives Profil. Letztendlich würde ich sagen, dass die kognitive Entwicklung und die sozio-emotionale Entwicklung zusammenfallen und zusammenführen, genau wie das Fühlen und das Denken. Wir alle kennen Menschen, die emotional reifer sind als kognitiv. Dann ist aber das Gleichgewicht, um das auch Piaget besorgt war, oft nicht da und kann nicht da sein, weil die Person noch Reifeschritte vor sich hat.

Bewahrende Negation

e: Wie können wir kognitive Entwicklung beschreiben?

OL: Einige Forscher beschreiben kognitive Entwicklung in Stufen, aber diesem Ansatz folge ich nicht. Ich richte mich nach Michael Basseches, der mein Lehrer in Harvard war, und spreche von Phasen. Wenn man über die Entwicklung des logischen Denkens hinausgeht, sehe ich keine klare Abgrenzung zwischen verschiedenen Perioden. Zwischen 1978 und 1984 tat Basseches den bahnbrechenden Schritt das dialektische Denken empirisch, aufgrund eines semi-strukturieren Interviews, zu erforschen, anstatt darüber zu spekulieren, wie es vor ihm und nach ihm getan wurde.

e: Was ist dialektisches Denken?

OL: Für mich ist dialektisches Denken der Gipfel erwachsenen Denkens sowie auch eine Art zu leben. In der Dialektik ist das, was getrennt ist, gleichzeitig untrennbar. Wir sagen ein Apfel ist etwas anderes als eine Birne. Logischerweise unterscheidet sich ein Apfel von einer Birne, sie haben unterschiedliche Namen, sie schmecken unterschiedlich und deshalb sind sie verschieden. Aber es ist nur dann sinnvoll zu sagen, dass Birnen und Äpfel verschieden sind, wenn wir gleichzeitig anerkennen, dass sie etwas gemeinsam haben: es sind beides Früchte. Als Früchte sind sie identisch, aber in ihrer Individualität sind sie verschieden. Die dialektische Auffassung ist, dass Einheit und Verschiedenheit eine höhere Einheit bilden. Die Schwierigkeit beim Erlernen oder Praktizieren dialektischen Denkens besteht darin, Einheit und Verschiedenheit zusammenzudenken.

Intuition ist aber immer auf Information und Wissen gegründet.


Logisches Denken hingegen hält an Unterscheidungen starr fest und schaut auf alles von A Abweichende, also auf Nicht-A, als „falsch“. Das ist eine bestimmte Weise Komplexität radikal zu reduzieren, ohne zu bedenken, dass wir in einer sich stets wandelnden Welt leben, in der A und Nicht-A stets miteinander verbunden sind. Dialektisches Denken hingegen kennt diese Zusammenhänglichkeit an, und ist deswegen realistischer, wird aber auf Schulen und Universitäten nicht mehr gelehrt, ist also praktisch eine verlorene Kunst.
Was das logische Denken vom dialektischen Denken unterscheidet, ist kurz gesagt die Bedeutung von Negation. Wenn wir etwas im logischen Denken negieren, sagen wir, dass es falsch ist. Da A gezwungen wird immer A zu sein, wird „Nicht-A“ als falsch, also unwichtig, deklariert. („Du bist entweder mein Freund oder mein Feind“.)  Im dialektischen Denken wenden wir hingegen eine bewahrende Negation an. Bewahrende Negation bedeutet, dass wir das, was wir als Nicht-A negieren, nicht als „falsch“ vernichten, sondern im Gedächtnis bewahren, um es auf A zur Anwendung zu bringen. Wir transzendieren A durch Nicht-A und schließen beide in einer höheren Synthese ein. Unsere Vorstellung von dem, was „A“ ist, wird dadurch natürlich reichhaltiger, denn wir haben das, was als „Nicht-A“ querstand, mit einbezogen. Dies beinhaltet ferner, dass für einen dialektischen Denker das, was abwesend ist, genauso real ist wie das, was anwesend ist. Dies hat einen guten ontologischen Zweck.
Wenn nämlich Abwesenheit nicht den gleichen ontologischen Status wie Anwesenheit hätte, ließen sich Entwicklung und Veränderung gar nicht denken. Beide sind Tendenzen, die bewirken, dass Abwesenheit so angefüllt wird, dass Anwesenheit entsteht. Wir sprechen von Emergenz als das, was wirklich real ist.

Intuition entwickelt sich

e:  Wie sehen Sie den Zusammenhang von Dialektik und Intuition?

OL: Nach anfänglichem Lernen wird dialektisches Denken zu einem weitgehend intuitiven Entdeckungsvorgang, in dem Sinne, dass man als dialektischer Denker viele Intuitionen darüber entwickelt, was in den menschlichen Worten und/oder in der Welt fehlt. Es ist eine Intuition vom Abwesenden, dem was noch nicht da ist, was sein könnte, oder von dem, was nötig ist. Dies gilt auch im künstlerischen Bereich wo Erwartungen ausgetragen werden von dem, was ein künstlerisches Material von einem schöpferischen Menschen erfordert. Intuition ist aber immer auf Information und Wissen gegründet, und da Wissen immer verschiedene Ebenen von Verständnis beinhaltet, ist von Ebenen der Intuition zu sprechen. Es gilt also nicht „die Intuition“.

Unser kognitiver Entwicklungsstand entscheidet über die Art unserer Spiritualität


Meine Intuition über einen Menschen entwickle ich durch die Einschätzung dieser Person aufgrund empirischer Beobachtungen oder, als Psychologe, durch Messungen. Ich sammle also empirische Befunde über den Menschen. In meinen künstlerischen Arbeiten sammele ich Wissen über das Material, mit dem ich arbeite. Abhängig von meinen Gedanken über das Material, das ich benutze – sei es das Entwicklungsprofil eines Menschen oder eine Malerei – erarbeite ich mir höhere Intuitionen, als diejenigen, mit denen ich den Prozess begonnen habe. Deshalb denke ich, dass Intuitionen eine Entwicklung durchlaufen.

e: Heißt das nun dass wir Denken und Fühlen in unserer Intuition integrieren?

OL: Die dialektische Perspektive des Denkens wäre folgende: Solange wir Fühlen und Denken zum Gegensatz machen oder das eine höher schätzen als das andere, folgen wir einer formalen Logik, statt einer dialektischen Betrachtung. Aber diese logisch-trennende Betrachtung ist nicht ganzheitlich. Wir brauchen beides – Denken und Fühlen –, um den Menschen ganzheitlich zu sehen. Es ist aber unser Entwicklungsschicksal, dass wir als Menschen diese Einheit nur allmählich, über unsere Lebensspanne hin, verwirklichen können (und viele schaffen es nie).
Nun wird ja heute viel spiritueller Entwicklung gesprochen, obwohl diese niemand schon hat messen können. Eins ist mir deutlich, dass man auf jedem Entwicklungsstand „spirituell“ sein kann, aber eben nur auf der Ebene des gegenwärtigen sozial-emotionalen und kognitiven Entwicklungsstands von Erwachsensein. Der kognitive Entwicklungsstand eines Menschen wird auch entscheiden, mit welcher Art von Spiritualität man sich zufrieden gibt.
Ich bin vorsichtig optimistisch für unsere Zukunft als Menschheit, wenn wir die Bedeutung eines dialektischen Denkens mehr und mehr erkennen. Durch eine dialektische Haltung wird Transformation möglich. Aber Transformation ist nie einfach, sie wird uns nicht geschenkt.

Nur ein Fünftel der Erwachsenen in unserer Kultur schaffen es zur Stufe der Selbstbestimmung.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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