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Ist die allgemeine Führungskrise auch eine Krise der Männlichkeit?
Ein männlicher Führungsstil gilt vielen als eine Grundursache unserer globalen Probleme und die Lösung scheinen mehr Frauen in Führungspositionen zu sein. Elizabeth Debold wirft einen genaueren Blick auf die Dynamik von Geschlechteridentität und Leadership und hinterfragt diese weitverbreitete Annahme.
In „Die Schlafwandler“, der faszinierenden Geschichte der Ereignisse, die Europa im Jahre 1914 in den Krieg führten, stellt der Historiker Christopher Clark eine interessante Frage: War die Krise der Männlichkeit die unbewusste Triebkraft hinter den Entscheidungen, die zu dieser Katastrophe führten? Er glaubt nicht, dass Europa heute schlafwandelnd in einen neuen Krieg geht – mit Ausnahme von Wladimir Putin. Aber die kriegerischen Auseinandersetzungen, mit denen wir heute konfrontiert sind – oft getragen von der Gewalt junger Männer – deuten daraufhin, dass an der Schnittstelle von Führung und Männlichkeit etwas geschieht, das uns alle angeht. Auf lokaler und globaler Ebene scheinen wir gleichzeitig inmitten einer Krise der Führung und der Männlichkeit zu sein. Junge Männer, die nichts zu verlieren haben, verändern mit Waffengewalt die Grenzen von Nationalstaaten und das Gebiet der globalen Politik. Grundlegende Veränderungen in den letzten 50 Jahren haben viele Männer, besonders aus den Familien der Unterschicht oder mit wenig Möglichkeiten, in die Frage geführt, wer sie sind und was sie tun sollen. Sicher greifen dabei nur die wenigsten jungen Männer zur Gewalt. Aber Studien über die Schulleistungen oder Beschäftigung und Arbeitslosigkeit bei jungen Männern zeigen, dass viele von ihnen mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
Angela Merkel, Hillary Clinton und Barack Obama bringen eine Art der Führung zum Ausdruck, die nicht im männlichen Heroismus gefangen ist.
Unter progressiv Denkenden ist die männliche Führung bzw. die Führung von Männern – die typischerweise als übertrieben unabhängig, kalkulierend, engstirnig rational und letztendlich abgetrennt von größeren Zusammenhängen gesehen wird – die Ursache der meisten Missstände auf unserem kostbaren Planeten. Zu oft besteht die Reaktion darauf in der Forderung, mehr Frauen und „weibliche“ Eigenschaften in der Führung zu berücksichtigen, um diese Missstände wieder zu beseitigen. Aber das ist zu vereinfacht gedacht – und kann leicht nach hinten losgehen. Aufgrund der Art und Weise, wie sich die männliche Identität ausbildet, könnte das Herbeirufen des Weiblichen den Antrieb zur Dominanz bestimmter Männer nur noch verstärken. In diesem Artikel möchte ich erklären, warum ich dieser Ansicht bin, und einige Anregungen zur Entstehung einer neuen Leadership geben, die nicht in der Polarität von männlich und weiblich stecken bleibt.
„Junge Männer, was ist los mit euch?“
Als Reaktion auf die selbst ernannte „Scharia-Polizei“ in Wuppertal fragte Roland Nelles auf „Spiegel Online“: „Junge Männer, was ist los mit euch?“ Seine Frage bezog sich nicht nur auf dieses Ereignis. Es ist nicht überraschend – und auch kein Zeichen von Schwäche –, dass junge Männer mit den Fragen ihrer männlichen Identität Schwierigkeiten haben. Im Blog „Art of Manliness“ wird angemerkt, dass die drei Bereiche, die traditionell als Grundlage der männlichen Identität galten – Schutz, Fortpflanzung, Ernähren – nicht mehr in traditioneller Weise notwendig sind. In der Shell-Jugendstudie aus dem Jahre 2010 sagten die Jungen, dass sie arbeiten und das Geld nach Hause bringen wollen und die Frauen zu Hause sein sollten. Mädchen hingegen hatten kein Interesse an solch traditionellen häuslichen Rollen. Der Philosoph Jürgen Habermas sieht die Rolle des Vaters und die Familie als wichtige Triebkräfte der sozialen Evolution. Ohne einen offensichtlichen Zugang zur Rolle des Vaters in der Familie können aber junge Männer schnell den Zugang zum sozialen Leben und den positiven Aspekten des Mannseins verlieren. David Courtwright erklärt in Violent Land, dass Soziologen festgestellt haben, dass in der Geschichte und in allen Kulturen eine große Anzahl junger unverheirateter Männer mit Gewalt und „sozialen Störungen“ einhergehen. Paradoxerweise wurden unsere Gesellschaften buchstäblich auf dem Rücken solcher jungen Männer gebaut. Sie starben auf den Schlachtfeldern, schufteten im Bergbau, fielen von Wolkenkratzern und bahnten sich den Weg durch Dschungel oder durch die Wüste, um ihr Glück zu finden. Die meisten fanden nicht mehr als ein kurzes und oft entbehrungsreiches Leben. Die sozialen Konventionen, die Männer darin unterstützen, bei ihren Familien zu bleiben, haben sich spürbar gelockert. Laut eines Berichts des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit dem Titel „Boys’ Day—Future Prospects for Boys“ respektieren die meisten jungen Männer zwei eher archetypische männliche Identitäten: den starken Mann und den Ernährer bzw. Geldverdiener. Aber in einer sozialen Realität, in der die meisten jungen Männer wenig Gelegenheit sehen, die Rolle des Ernährers oder Geldverdieners einzunehmen, ist es nicht überraschend, dass einige Männer das Gefühl haben, dass sie wenig zu verlieren haben und schließlich die Rolle des „starken Mannes“ in ihrer primitivsten Ausdrucksform einnehmen: Dominanz.
Bedrohung durch das Weibliche
Mann zu sein bedeutet, keine Frau zu sein. Das scheint eine offensichtliche und banale Aussage zu sein, aber ich möchte damit einen bestimmten Punkt ansprechen: Die männliche Identität wird oder wurde meist als eine Antithese zum Weiblichen und allem, was damit in Zusammenhang gebracht wird, gebildet. Dominanz – ein Gefühl der Überlegenheit – wird zu einem Akt der Selbstverteidigung. Die Dschihadisten des Islamischen Staates, die darauf bestehen, dass Frauen sich verschleiern, sind nicht die Einzigen, die sich vom Weiblichen bedroht fühlen. Wir sehen es auch in den wütenden Reaktionen auf Hillary Clinton oder in gewalttätigen und herablassenden Bemerkungen, mit denen Männer im Internet die Texte von Frauen kommentieren, oder an der Tatsache, dass es eine Beleidigung ist, wenn man einem Jungen sagt, „Du bist wie ein Mädchen”. In einer Studie, die von Michael Kimmel beschrieben wird, fragte man Jungen und Mädchen vor dem Teenager-Alter, was sie tun würden, wenn sie am nächsten Tag als das andere Geschlecht aufwachen würden. Die Mädchen sprachen über die neuen Gelegenheiten, die ihnen nun offen stehen würden, die Jungen sagten in großer Zahl, dass sie sich umbringen würden. Das ist keine rationale Antwort und zeigt nicht die Liebe, die Jungen für Frauen und Mädchen in ihrem Leben empfinden. Aber es ist eine instinktive Antwort, eine existenzielle Angst.
Die systemischen Interaktionen in unseren Organisationen, Städten und der Welt lassen es nicht mehr zu, dass wir mit Befehl und Kontrolle in die Zukunft gehen.
Neueste Forschungen über die Entwicklung von Jungen erklären diese Zusammenhänge. In Kulturen, in denen nur Frauen die Kinder pflegen und die Männer nicht anwesend und nicht Teil der Nähe im Alltag sind, kommen Jungen in eine verwirrende Situation. In diesem zarten Alter beginnen sie zu verstehen, dass sie als Jungen anders sind als ihre Mütter. Der Verstand eines Vorschulkindes ist noch nicht so weit entwickelt, aber sein Herz ist weit geöffnet: Nicht wie die Mutter zu sein, bedeutet, dass man sich von dem Menschen entfernt, der einem bis dahin die ganze Welt bedeutete. Das führt zu einer Krise. Diese Krise sehen wir, wenn Jungen wütend sind, sich zurückziehen oder rastlos werden – Verhaltensweisen, die wir bei Jungen für „natürlich“ erachten. In der Tat hat Walter Ong beobachtet, dass Männer oft die ganze Umgebung als weiblich „codieren“ – verschlingend, allgegenwärtig, etwas, von dem „man“ sich abheben muss. Die Jungen gehen dann vom Zuhause der Mutter in die Frauenwelt der Schule: Sie sind umzingelt! Sie flüchten sich in die Rolle von Superhelden, Sportmannschaften und Spielen mit anderen Jungen oder in die magischen Welten hinter der harten, glänzenden Oberfläche des Computers. In diesem Zusammenhang verändert sich heute etwas: Mehr Männer verbringen Zeit mit ihren Söhnen und in der Kultur gibt es mehr Raum für Männer und Frauen, das volle Spektrum ihres Menschseins zum Ausdruck zu bringen – und nicht nur die Hälfte, die traditionell dem jeweiligen Geschlecht zugeschrieben wird. Viele verschiedene Faktoren tragen also zur Geschlechtsidentität eines Kindes bei – biologische Voraussetzungen, Eltern, Kultur, Schule, Freundschaften, Mentoren, tägliche Traumata oder Beleidigungen und auch die großen Ereignisse, die ein Leben in einzigartiger Weise prägen. All diese Aspekte können Jungen helfen und unterstützen, zu wunderbaren Männern heranzuwachsen. Aber für viele gibt es zu wenige Optionen und mit Beginn der Pubertät geraten die Jungen wieder unter den Druck, mit den Normen und Optionen für Männlichkeit, die in ihrer Kultur vorherrschen, konform zu gehen. Für viele führt dies zu einer zweiten Krise. Ohne unterstützende Beziehungen mit Männern und Frauen kann diese instinktive Reaktion – die Angst davor, ein Mädchen zu sein – zur unbewussten Triebkraft des Mannes werden. Diejenigen Jungen mit einer engen Perspektive und wenigen Möglichkeiten können bis ins Extrem gehen, um zu beweisen, dass sie keine Frauen sind. Die Angst davor spüren wir heute überall auf der Welt.
Führung befreien
Während die Welt immer näher zusammenwächst, einsteht in der Führung eine Reibung zwischen verschiedenen Weltsichten und unterschieldichen Verständnissen von Männlichkeit. Natürlich bringen die mittelalterlich denkenden Dschihadisten, die den Tod nicht fürchten und die vollkommene Zerstörung der Ungläubigen erreichen wollen, eine Männlichkeit zum Ausdruck, die immer durch Dominanz bestätigt werden muss. Putin, dessen Land sich ökonomisch gerade so über Wasser halten kann, posiert als der unbesiegbare Stammeskrieger, der die Unfähigkeit der NATO verhöhnt, indem er die Grenzen andere Länder missachtet. Obama ist in einer schwierigen Lage: Als Farbiger löst er in der Vorstellungswelt weißer Amerikaner die Angst vor dem „schwarzen Mann“ aus. Sein kühles und abgehobenes Auftreten einer intellektuellen Männlichkeit, die sich auf rationaler statt körperlicher Überlegenheit gründet, wird oft als Passivität und Schwäche interpretiert. In den USA haben rechte Kreise das Gerücht am Leben erhalten, dass Obama homosexuell sei. (Laut diesen Quellen ist auch Hillary Clinton homosexuell – ein Grund dafür ist wahrscheinlich, dass sie sich anscheinend wie ein Mann verhält. Merkels „Mutti-Image“ hat sie vielleicht vor solchen merkwürdigen Projektionen bewahrt.)
Dominanz – ein Gefühl der Überlegenheit – wird zu einem Akt der Selbstverteidigung.
Die verschiedenen Weltsichten, die Führende zum Ausdruck bringen, gründen oft in unterschiedlichen Geschlechteridentitäten. Zu oft verstehen sie einander nicht. Wenn dieser Mangel an Verstehen sich mit dem unbewussten instinktiven Bedürfnis verbindet, die eigene Identität durch Dominanz vor allem zu schützen, was als weiblich gesehen wird – schwache Männer, unterlegene Rassen, blasphemische Ungläubige oder verdorbene Frauen – dann sind unsere Führenden „Schafwandler“. Der Tod des „heroischen Führers“, wie es Experten beschreiben, deutet auf einen Wandel der Leadership hin, die sich auf männlichen Eigenschaften gründet. Führungspersonen wie Angela Merkel, Hillary Clinton und Barack Obama bringen trotz ihrer Fehler und Unzulänglichkeiten eine Art der Führung zum Ausdruck, die nicht im männlichen Heroismus gefangen ist. Sie müssen aber verstehen, dass viele andere politische Führungspersonen weltweit ihr Handeln aus einer engen, dualen Sichtweise von Dominanz und Unterordnung, männlich und weiblich, sehen. Diese Perspektive muss in die Überlegungen für das Handeln einbezogen werden. Das bedeutet nicht, dass man mit gleichen Mitteln antwortet, sondern vielmehr die wahrscheinliche Reaktion vorhersieht. Zudem müssen wir dringend auf die Krise der Männlichkeit reagieren, die viele dazu veranlasst, auf reaktive und primitive Formen der männlichen Identität zurückzugreifen. Der deutsche Politologe Peter Neumann glaubt, das Jungen und junge Männer sich radikalisieren, weil ihnen ein „Zu-Hause-Gefühl“ fehlt. Jungen haben in ihrer frühen Kindheit ein dringendes Bedürfnis nach fürsorglichen, nahen Verbindungen mit Männern. Programme, die die Generationen der Väter, Großväter und Söhne verbinden oder Projekte mit „Ersatz-Großvätern“ oder „Mentoren“ sind Möglichkeiten, wie dies geschehen kann. Wie können vernachlässigte junge Männer ein Zuhause und einen Sinn oder Lebenszweck finden? Es muss so viel getan werden, um gegen den Klimawandel anzugehen oder die Infrastruktur zu verbessern. Öffentliche Arbeitsprojekte, die nicht nur eine Beschäftigungsmaßnahme, sondern wichtige Beiträge zum Aufbau der Gesellschaft sind, könnten eine positive Möglichkeit sein, um jungen Männern und Frauen eine neue Gelegenheit zu geben, an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken.
Die verschiedenen Weltsichten, die Führende zum Ausdruck bringen, gründen oft in unterschiedlichen Geschlechteridentitäten.
Heroische Führung ist nicht nur deshalb überholt, weil sie eine alte und zunehmend problematische Form von männlicher Leadership ist. Die systemischen Interaktionen in unseren Organisationen, Städten und der Welt lassen es nicht mehr zu, dass wir mit Befehl und Kontrolle in die Zukunft gehen. Die Fähigkeiten, die wir als Männer und Frauen entwickeln müssen, um Gruppen in einer Weise zu leiten, dass die Einzelnen sich bestärkt und wertgeschätzt fühlen, sind weder männlich noch weiblich. Sie basieren auf Qualitäten beider Geschlechter: zuhören und entschlossen handeln, Intuition und Analyse. Sie rufen nach einer neuen Sensibilität und Differenziertheit der Wahrnehmung in der Zusammenarbeit über Unterschiede hinaus, die nur wenige Männer und Frauen heute wirklich entwickelt haben. Wir haben die Möglichkeit in unseren Diskussionen über Leadership und ihre neuen Erfordernisse und Praktiken die Führung selbst aus einer männlichen Einseitigkeit zu befreien – in Bezug darauf, wer führt und wie wir führen.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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