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Wie Aktivist*innen in Ökodörfern neue Kraft finden
Von vielen Seiten ist ein lauter Ruf zu hören, dass Menschen, die intensiv am äußeren Wandel arbeiten, sich auch inneren Prozessen zuwenden, und die Menschen, die sich vor allem ihren inneren Prozessen gewidmet haben, aktiv werden. Das Projekt »Zähneputzen« vermittelt zwischen diesen Welten: Indem die junge Gruppe seit letztem Herbst erschöpften Aktivist*innen aus der Besetzung des Hambacher Forsts, von EndeGelände, Extinction Rebellion und Fridays for Future Retreats in Ökodörfern vermittelt, soll die Klimagerechtigkeitsbewegung einen längeren Atem und Ökodörfer politische Impulse bekommen. evolve sprach mit Karim Dillhöfer, der als Teil des Kernteams vom Projekt »Zähneputzen« erzählt.
evolve: Worum geht es euch mit dem Projekt »Zähneputzen«?
Karim Dillhöfer: Das Projekt »Zähneputzen« ist unser Versuch, Menschen im Ganzen darin zu unterstützen, sich für eine zukunftsfähige Welt einzusetzen. Dabei verstehen wir die gesamte Gesellschaft als großes Ökosystem. Dieser Organismus steht gerade vor großen Herausforderungen und einige Teile beschäftigen sich vor allem damit, auf diese Probleme hinzuweisen, Veränderungen anzustoßen. Doch auch diese zukunftsorientierten Teile des Gesamtorganismus brauchen Räume zur eigenen Regeneration. Sonst wird die Gefahr zu groß, im Aktivismus ängstlich oder hart zu werden, auszubrennen, Feindbilder zu entwickeln. Aus dieser Beobachtung ist das Projekt »Zähneputzen« entstanden, um Menschen, die sich radikal für den sozial-ökologischen Wandel einsetzen, mit Räumen zur Integration zu unterstützen. »Zähneputzen« heißt das Projekt, weil die Zähne für die Behauptungskraft in jedem Organismus stehen und es uns im Kern darum geht, die aktivistischen Teile unseres Gesellschaftsorganismus zu pflegen.
e: Wie sieht eure Arbeit konkret aus?
KD: In der Kerngruppe sind wir gerade sieben Menschen. Über unsere Website können uns Menschen schreiben. Seit Herbst bekommen wir zwei oder drei Anfragen pro Woche und vermitteln die meisten weiter. Als ein Netzwerk sind wir mit vielen Ökodörfern, Gemeinschaften und politischen Kommunen in und um Deutschland verbunden und vermitteln Menschen aus dem sozial-ökologischen Aktivismus Retreats an diesen Orten für wenig oder gar kein Geld. Allein, als Gruppe, für kurze Zeit oder länger. Dabei steht im besten Fall jemand aus der Gemeinschaft vor Ort zur Verfügung, um den inneren Prozess mit therapeutischer und spiritueller Erfahrung zu begleiten.
e: Was sind die Herausforderungen, mit denen ihr umgehen müsst?
KD: Schwierig ist natürlich zu beurteilen, wer das Angebot nutzen darf. Immer wieder lehnen wir Anfragen politischer Gruppen ab, die sich treffen wollen, um Aktionen vorzubereiten. Das entspricht nicht unserem Anliegen. Doch schwieriger ist zu unterscheiden, wen wir als Aktivist*in unterstützen wollen, und wer das Angebot ohne einen entsprechenden Hintergrund nutzen will. Außerdem mussten wir vor Kurzem zum ersten Mal eine Anfrage ablehnen, da wir den Eindruck hatten, dass die Person mehr Hilfe brauchte, als die Gemeinschaften leisten können. Um diesen Menschen professionelle Unterstützung zu vermitteln, arbeiten wir mit Psychologists for Future zusammen, die psychologische Unterstützung für Klimaaktivisti*nnen anbieten. Die vermitteln uns auch Menschen, denen ein Retreat in Gemeinschaft helfen kann. Doch jedes Mal, wenn wir nicht helfen können, fällt es uns schwer, »Nein« zu sagen.
Ein anderer großer Punkt sind Herausforderungen in unserem Team. Diese Konflikte drehen sich vor allem darum, welche Bedeutung wir psycho-sozialen Prozessen und Freundschaft zwischen uns geben, also wieviel Zeit wir zusammen verbringen oder ob wir das Ganze als Arbeitsprojekt sehen. Da sind wir konfrontiert mit unseren eigenen Strategien, um mit Stress umzugehen. Diese Reibungen empfinde ich als das anstrengendste am Projekt. Auch unser Projekt ist nur ein Versuch, in diesem Sinne sind wir ganz unperfekt in einem Erfahrungsprozess.
e: Was ist eure größere Vision, wenn es nicht nur darum geht, sich erst auszubrennen, um sich dann in einer Gemeinschaft zu erholen?
KD: Unsere Vision ist, dass wir uns alle als Teile eines größeren Systems verstehen. Dann merken wir, dass innere Reflexion durch Meditation, Gespräche oder Naturaufenthalte ebenso wichtig ist, wie auf die Straße zu gehen und konsequent für den Wandel der kollektiven Strukturen einzustehen. Beide Seiten gehören zusammen.
e: Wenn ihr von »Retreat« sprecht, verstehe ich das als einen spirituellen Rückzug. Welche Bedeutung hat dieser Bereich des Transpersonalen für »Zähneputzen«?
KD: Da haben wir unterschiedliche Perspektiven in der Gruppe. Für mich ist es spirituell, wenn Menschen sich Zeit und Raum für sich nehmen. Gerade im Aktivismus, wo für innere Werte eingetreten wird, ist es tief spirituell, sich zurückzuziehen und wieder an dieser ursprünglichen Dimension der Werte anzuknüpfen. Diesen Menschen wollen wir Erfahrungen tiefer Beziehung zu sich selbst, anderen Menschen und der Natur ermöglichen, damit sie diese Arbeit überhaupt länger übernehmen können. Die Methoden lassen wir dabei offen, statt buddhistische, schamanistische, taoistische oder integrale Perspektiven vorzugeben.
e: In politischen Gruppen erlebe ich viel Distanz und Kritik an Spiritualität. Was siehst du als Hintergrund dieser Ablehnung?
KD: Ja, es gibt nicht nur an religiösem Dogmatismus, sondern auch an realitätsverlorener Selbstoptimierung wichtige Kritik. In der auf Selbstverwirklichung ausgerichteten New-Age-Spiritualität gibt es ja auch einen Trend, in dem jede Auseinandersetzung mit äußeren Strukturen abgelehnt wird. Das reproduziert privilegierte Perspektiven und verkennt reale Zusammenhänge.
Weder eine weltabgewandt-spirituelle noch eine politisch-mechanistische Lebensweise sind länger tragbar.
WIR SIND EINGEBETTET IN EINE SYSTEMISCHE INTELLIGENZ, DIE ÜBER UNS HINAUSGEHT UND DURCH UNS WIRKEN MÖCHTE.
In der linken Klimagerechtigkeitsbewegung stehen wir in Tradition mit marxistisch-sozialen Bewegungen und sind stark vom Denken der Moderne geprägt. In diesem mechanistischen Weltbild drückt sich politisches Handeln darin aus, auf die Straße zu gehen und diese Megamaschine mit Druck in die Knie zu zwingen. Daraus ergibt sich die Vorstellung, dass es nicht wichtig wäre, mir Zeit für mich selbst zu nehmen. Inzwischen kommen wir in der Bewegung an einen Punkt, wo deutlich wird, dass das innere Hinhören, wie es in spiritueller Praxis und Selbsterfahrung geschehen kann, mindestens so wichtig ist wie die konkrete Handlung. Denn wir sind eingebettet in eine systemische Intelligenz, die über uns hinausgeht und durch uns wirken möchte.
Große Systeme bleiben anpassungsfähig, wenn sie sich an der Natur orientieren, in der einzelne Elemente mit kleinen Antworten zur Entwicklung beitragen. Wenn wir den kleinen Antworten lauschen, kann daraus eine große Transformation entstehen. Daher ist Meditation, in der Natur sein, Schreiben, Lesen und Musizieren ebenso wichtig wie auf die Straße zu gehen und an den Machtverhältnissen zu rütteln.
Author:
Gerriet Schwen
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