Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
January 24, 2022
Es ist unmöglich zu wissen, ob Diane Musho Hamilton die Frau geworden wäre, die sie heute ist – eine Zen-Lehrerin, Mediatorin und Autorin, die sich nicht nur dem Aufwachen, sondern auch dem emotionalen Aufwachsen verschrieben hat –, wenn sie nicht zwei Erfahrungen vor ihrem Eintritt ins Erwachsenenalter gemacht hätte, die sie zutiefst veränderten.
Mit acht Jahren hatte sie eine Blinddarmoperation. Während der Operation wurde ihr eine sehr starke Dosis Narkosemittel verabreicht. Bevor sie in die Bewusstlosigkeit sank, erlebte sie eine Nahtoderfahrung. Während unseres Gesprächs beschrieb sie diese Momente mit einem seltsamen, friedlichen Lächeln: »Ich merkte, wie ich alle Bezugspunkte verlor, und dann hatte ich die eindeutige Erfahrung, dass ich mich entschied, mich zu ergeben.« Trotz der Tausende von Kilometern, die zwischen unseren Bildschirmen liegen, entsteht ein Moment intimer Stille, bevor Diane ihre Geschichte fortsetzt. Nach der Operation musste sie eine Woche lang zuhause bleiben, um sich zu erholen. Als sie wieder in die Schule kam, war die Zweitklässlerin bestürzt darüber, was sie alles verpasst hatte. Sie strengte sich ein paar Tage lang an und versuchte verzweifelt, den Stoff nachzuholen, bis ihre Lehrerin sie auf den Flur mitnahm und sie in ein Geheimnis einweihte: »Hey, weißt du was? Es ist wirklich nicht so wichtig.«
Die grundlegendste Form der Intelligenz besteht darin, das menschliche Herz vollständig zu bewohnen.
Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf Diane, sie verlor dadurch ihren übertriebenen Ehrgeiz. Mit acht Jahren kam es ihr vor, als ob das Leben neu begann. Die folgenden neun Jahre lang führte sie ein recht unbeschwertes Leben in einer kleinen Stadt westlich von Salt Lake City, wo sie in den nahen Bergen ritt, mit ihren fünf Brüdern und Schwestern Zeit verbrachte, Sport trieb, Cheerleader wurde. In dieser Zeit fühlte sie sich am meisten zuhause in der Welt der Pflanzen, Tiere, Flüsse, des Himmels, der Berge. Das Motto ihrer Mutter »Vertrau dir selbst und lass mich in Ruhe« ließ Diane jede Menge Freiraum. Tatsächlich nimmt sie an, dass sie auf dem Rücken der Pferde anfing zu meditieren. »Da gibt es nicht so viel, über das man nachdenken kann, wenn man einige Stunden umhergeritten ist«, sagte sie mir lachend.
Das alles änderte sich ein weiteres Mal, als sie siebzehn wurde. Ein Flugzeugabsturz, ein Messerkampf, ein Autounfall – innerhalb von fünf Monaten verlor Diane sieben Freunde. Diese intensive Konfrontation mit der Sterblichkeit machte sie nachdenklich: »Was ist wichtig im Angesicht des Todes?« Ihre Aufmerksamkeit wandte sich nun dieser Frage zu, die in den nächsten Jahrzehnten zum Mittelpunkt ihres Lebens werden sollte: ein Leben auf der Suche nach dem Absoluten statt des Relativen, ein Leben, das sich dem Verkörpern und Teilen von sinnhaften Erfahrungen zuwandte statt der Suche nach Macht, Status oder Ansehen.
Als Diane im folgenden Jahr ihr Studium an der Universität in Salt Lake City begann, ging sie es völlig anders an, als sie es getan hätte, wenn sie nicht mit dem Tod ihrer Freunde konfrontiert worden wäre. Statt wie viele Studenten Bier zu trinken und Partys zu feiern, trank sie »jeden Tag einen Cocktail existenzieller Verzweiflung«. Ihr Leben kreiste um Fragen wie: Wie gebe ich diesem Leben Bedeutung? Was ist sinnvoll? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein, und wie kann ich dahin kommen, das zu verstehen und danach zu handeln? Von ihrer jetzigen Perspektive aus weiß sie: »Diese Fragen müssen gelebt werden wie Koans. Man muss sie verinnerlichen.«
Erst als Diane mit 22 Jahren die buddhistische Tradition kennenlernte, fand sie einen Trost für ihre allgegenwärtige Angst und universale Antworten auf drängende Fragen. Der buddhistische Pfad eröffnete ihr die unmittelbaren Erfahrungen, nach denen sie suchte, und gab ihr eine Art Landkarte für das Verständnis ihrer Erfahrungen, die über ihren Verstand hinausgingen. »Die buddhistische Tradition«, sinnierte sie während unserer Unterhaltung, »zeigt dir, dass wir den konzeptuellen Verstand häufig nutzen, um Trennung zu schaffen zwischen uns und unserer Erfahrung. Wir werden ermutigt, diese Trennung loszulassen. Und als ich die Trennung losließ, konnte ich Ganzheit erfahren.« Diane begann 1983, die Lehren von Choygam Trungpa Rinpoche zu studieren, während sie die Naropa-Universität besuchte. 1998 suchte sie, nachdem sie Mutter geworden war und sich neu orientieren wollte, bei einem buddhistischen Lehrer in ihrer Nähe Rat. Zufälligerweise gehörte dieser Lehrer der Zen-Tradition an; infolgedessen begann sie, viel Zeit auf ihrem Meditationskissen zu verbringen. Auf diese Weise wurde sie durch Buddhas größte Einsicht transformiert: Trennung schafft Angst, aber wenn wir Nicht-Trennung erfahren, entspannen wir uns, wir sind verbunden und wir spüren Frieden.
Diese gelebte Einsicht spielt auch heute eine wesentliche Rolle in Dianes Leben, das sich um die Verbindung von Meditation und Mediation dreht. Nach jahrelangen Versuchen, sich ein Leben auf der Grundlage ihrer Wünsche aufzubauen, erkannte sie: »Die Frage danach, was ich will, hat mir noch nie etwas gebracht.« Stattdessen begann sie, sich von dem, was sie gut konnte, leiten zu lassen. Für sie war es die Erkenntnis, dass sie gut darin war, Menschen bei der Lösung von Konflikten zu helfen. Daraufhin begann sie einen Weg der Mediation zur Überwindung von Dualität – damit aus zwei eins werden kann.
Diane sieht ihre vielfältige Arbeit als Mediatorin, Meditationsleiterin und Retreat-Leiterin als Ausdruck dafür, dass sie nicht nur der Schule des Aufwachens angehört, sondern auch der Schule des Aufwachsens in der menschlichen Entwicklung. Anstatt das Erwachen als das A und O zu sehen, ist sie davon überzeugt, dass eine gleichzeitige Konzentration auf die emotionale Entwicklung wesentlich ist in unserem Bemühen, globale Umweltschäden und soziale Ungerechtigkeit zu heilen. »Wir können in unserem emotionalen Körper heranwachsen, unsere Beziehungen heilsam gestalten, Traumata heilen, offen für Feedback sein, uns entwickeln und in zwischenmenschlichen Räumen freier werden.« Diese Arbeit wird spirituell, so glaubt sie, wenn wir uns mit dem beschäftigen, was am wichtigsten ist, und dabei über unsere Selbstsorgen hinauswachsen. Sie hält einen Moment inne, bevor sie fortfährt: »Die grundlegendste Form der Intelligenz besteht darin, das menschliche Herz vollständig zu bewohnen.«
Nachdem sie von verschiedenen einflussreichen Lehrern wie Ram Dass, Genpo Roshi und Ken Wilber lernte, konzentriert sich Diane derzeit darauf, von ihren Schülern und Schülerinnen zu lernen. Heute ist es für sie am wichtigsten, für junge Menschen da zu sein. Ihr Fokus sowohl in ihrer eigenen Dharma-Arbeit als auch in ihrer Gemeinschaft ruht auf der Idee, »ein Schüler großer Veränderungen« zu sein. Das verbindet Meditation und Mediation: die Fähigkeit, wirklich zuzuhören und zu entscheiden, wie wir auf die zahllosen Krisen antworten können, damit die kollektive Evolution unterstützt wird.
Unsere Krisen, da ist sich Diane sicher, fordern uns zu Veränderung auf. Wobei »ein Schüler großer Veränderungen« zu sein, auch Leiden und Gefahr beinhalten kann, die »ein Teil der menschlichen Erfahrung« sind. Für sie bedeutet es, mit dem Einfluss der Dualität auf unserem Planeten umgehen zu können. Wir sind aus einer Beziehung zur Wahrheit des Seins herausgefallen und leben in der Illusion, dass wir getrennt sind von der natürlichen Welt, als ob die natürliche Welt letztendlich nicht das Gleiche ist wie wir. »Wenn wir unsere Umwelt töten, töten wir uns selbst. Wir sehen das nicht. Die meisten Leute benehmen sich so, als ob wir nichts bewirken. Mit der Einsicht unserer Wirkung auf das Ganze beginnt die Arbeit von Meditation und Mediation.«
Als ich Diane frage, was in ihrer Arbeit die größte Bereicherung ist, antwortet sie schnell: »Das, was ich gerade jetzt mit dir erfahre. Ich werde vollständig genährt und inspiriert und fühle tiefe Dankbarkeit dafür, mit anderen ähnlich gesinnten Seelen verbunden zu sein, die dieses kurze Leben mit so viel Sinn, Ernsthaftigkeit und Liebe wie möglich erfüllen wollen.«
Ich kann mich ihrem Gefühl nur anschließen und freue mich über die Möglichkeit, diese Erfahrung hier weiterzugeben.