Sein und Teilen

Our Emotional Participation in the World
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Kolumne
Published On:

October 19, 2017

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Issue 16 / 2017:
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October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Vor ein paar Wochen saß ich in Alice Springs mit einer Gruppe älterer Künstlerinnen auf einer Wiese. Im Redgum-Baum, dessen flatternde Blätter etwas Schatten spendeten, kreischte ein Kakadu-Pärchen. Die Damen waren von weither in die Stadt im trockenen Outback Zentralaustraliens gereist. Sie kamen aus entlegenen Communities wie Tennant Creek und Utopia. Diese Orte sind winzige Siedlungen im gelb- und ockerfarbigen Nirgendwo, in deren Bungalows die Nachkommen der australischen Ureinwohner ein trauriges Leben führen, arbeitslos zumeist.

Die Frauen auf der Wiese hatten es etwas besser getroffen. Organisiert von verschiedenen Kooperativen, malen sie in der überlieferten Bildsprache ihrer Kulturen farbige Leinwände. Diese Bilder wurden bei der »Desert Mob«-Kunstmesse in Alice verkauft, der größten des Kontinents. Ich hatte die Frauen zu einer Runde »Flat White« eingeladen, dem australischen Milchkaffee, den ich in Pappbechern von der Verkaufsstelle im Wohnwagen zum Grasstück balancierte, und so saßen wir da, tranken, rauchten und schwiegen.

Irgendwann fragte ich, was auf den Gemälden mit ihren rhythmisch angeordneten Punkten, Strichen und Bögen zu sehen sei. Landschaft, sagten sie mir. Und wer in dieser Landschaft lebt, meinten sie. Die Farben und Strukturen stellen nicht nur Steine, Bäume, Wasserstellen und Tiere dar – sondern auch die Identität der Menschen, die in dieser Landschaft leben. Darum dürfen wir auch nicht alles abbilden, sagten sie. Einfach einen Baum malen? Einen Felsen? Das ist gefährlich. Es kann sein, dass dieser die Identität einer anderen Stammesgruppe trägt – oder eines anderen Individuums. Wir müssen vorher fragen.

Wer beim Malen eines Baums Gefahr läuft, die Identität eines anderen Menschen zu verletzten, der bewegt sich in einem Kosmos, in dem alles mit allem zusammenhängt. Eine solche Welt ist fundamental geteilt. Sie kann daher nicht einfach neu geordnet werden – und sei es, indem man sie so abbildet, wie man es gerade will. Eine solche Welt existiert, wie sie ist, als ganze – und dieses Sein umgreift alles, beteiligt alle, macht alle zu Teilhabenden.

Jedem Sein liegt automatisch immer schon ein Teilen zugrunde.

Mir schoss durch den Kopf, auf der Wiese mit den Künstlerinnen: Seit hunderten, ja vielleicht seit tausenden von Jahren versucht die westliche Moral, den Menschen das Teilen schmackhaft zu machen. Vor allem die christliche Religion plädiert seit jeher für brüderliches Geben und dafür, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben. Man könnte das Mantra der Barmherzigkeit fast als Kern der westlichen Zivilisation feiern. Und noch im aktuellen Nachhaltigkeitsdenken ist Teilen, neu verteilen, gerecht zuteilen ein Thema. Der Mensch teilt nicht von selbst, so könnte man die Haltung unserer Kultur zusammenfassen – darum muss man es ihm beibringen.

Aber gerade unsere Kultur des »Teile brüderlich« hat in den letzten Jahrhunderten Systeme wie die der Aborigines fast restlos zerstört, in denen Teilen keine explizite Rolle spielte, weil es im Sein bereits eingeschrieben war. Es gehört zu den Gepflogenheiten solcher Kulturen, den anderen zum Sein einzuladen. Vielleicht sind sie darum so verletzlich. »Einfach dasitzen und sich miteinander verbunden fühlen«, meint der führende australische Philosoph und Ethiker Simon Longstaff, der selbst teilweise von den Aborigines abstammt, ist eine fundamentale Kulturtechnik der ursprünglichen Australier.

Für Menschen westlicher Prägung – selbst für Kritiker des heutigen Beutekapitalismus – muss sich das wie ein naives Romantik-­Klischee anhören. »Sei!« hatte in unserer Kultur nie eine moralische Konjunktur. »Sei!«, das klingt nach Ineffizienz, Schwärmerei, Romantik und anderen Formen der Taugenichtserei. Sein ist uns suspekt. Wenn aber der Kosmos wie in der Weltanschauung der Aborigines ein feinstes Gewebe von Beziehungen, Abhängigkeiten, Verantwortungen und Verpflichtungen ist, dann heißt: »Ich lasse dich sein und spüre, wer du bist« nicht: Jeder macht sein Ding. Sondern: Jeder ist das, was er ist, mit allen Konsequenzen. Dann ist Sein – und jemanden sein lassen – die Voraus­setzung, dessen Rolle in der Ordnung der Dinge zu verstehen. Dieses Verstehen geht jeder Handlung voraus.

Anders als bei uns, wo oft als Erstes ein »Du musst« steht (etwas leisten, schlank sein, toll aussehen, brüderlich teilen), gilt hier als Erstes: Sei was du bist. Den Rest übernimmt die Weisheit der Welt, die verfügt, dass jedem Sein automatisch immer schon ein Teilen zugrunde liegt. Diese Weisheit verbürgt, dass alles, was wirklich sein darf, immer auch alles andere mitträumt. Denn Sein als immer schon Geteiltsein ist die Logik der Ökologie. Ökosysteme sind Netze von gegenseitiger Abhängigkeit: Wird darin einem Organismus das Sein zugestanden, folgen alle notwendigerweise mit. Die Biene braucht Nektar und Pollen, die Blüte braucht Bodenorganismen und Tiere, die ihre Samen verbreiten.

Die Logik des Lebens ist somit ein »Ich bin, weil du bist.« Dieses Prinzip liegt auch der Ehrfurcht der Künstlerinnen von Alice Springs zugrunde, nicht die Identität eines anderen in einem Bild zu rauben. Ihr Mittel ist das Zulassen. Setz dich hin und bleibe verbunden. Erlaube dir deine eigene Echtheit. Sei – und das Teilen folgt von selbst.

Dr. Andreas Weber ist Biologe, Philosoph, Journalist und Autor. Sein neues Buch heißt »Sein und Teilen«. www.autor-andreas-weber.de

Author:
Dr. Andreas Weber
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