Sind Gefühle gefährlich?

Our Emotional Participation in the World
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Kolumne
Published On:

April 17, 2018

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Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
Was ist heute heilig?
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Wie Menschen mit Gefühlen umgehen, ist von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich. Mit meinem Aufwachsen in Westafrika etwa verbinde ich einen hohen Geräuschpegel, insbesondere bei zwischenmenschlichen Interaktionen. Ich entsinne mich lautstarker Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum. Auf der Straße stritten sich Passanten, manche blieben stehen und mischten sich ein, andere reagierten amüsiert. Der Streit löste sich plötzlich auf, und jeder ging seines Weges. In unserem Wohngebäude hörten wir wütendes Wortgefecht, dann schallendes Lachen. Das Ausleben von Gefühlen fühlte sich frei, ungezwungen und natürlich an und bildete einen kulturellen Hintergrund, der emotionalen Ausdruck förderte.

Ganz anders zeigte sich das Thema Emotionen in einem aktuellen persönlichen Erleben. Bei einem Meeting drückte ich meinen Ärger darüber aus, dass sich ein Teilnehmer zum wiederholten Mal nicht an eine Vereinbarung hielt. Ich beobachtete, wie meine Stimme lauter wurde und wie sich eine Anspannung im (virtuellen) Raum ausbreitete. Ich nahm unmittelbar das Unbehagen wahr, das die Emotion bei den anderen auslöste und überlegte, ob ich den Ausdruck meiner Wut dämpfen sollte, um die Beklommenheit zu lindern. Da ich mein Verhalten als situativ, gegenwärtig und natürlich empfand, ließ ich ihn zu. Diese Situation spielte sich innerhalb weniger Minuten ab, wir fuhren dann mit unserer Agenda fort. Am nächsten Tag überraschte mich das Schreiben einer Teilnehmerin: Dieser Ausdruck von Wut beschäftige sie, es ließe sie nicht mehr los. Die Heftigkeit ihrer Reaktion gemessen an einem geläufigen Thema ließ mich aufhorchen. Ich nahm Angst wahr – die entsteht aber, wenn wir in Gefahr sind.

Gefühle werden oft mit dem Wort »Mut« in Verbindung gebracht. Mut bedeutet, »dass man sich traut und fähig ist, etwas zu wagen, das heißt, sich beispielsweise in eine gefahrenhaltige, mit Unsicherheiten verbundene Situation zu begeben« (Wikipedia). Und die Art, wie wir mit Emotionen umgehen, scheint das Wahrnehmen von Gefahr zu bestätigen.

Der freie emotionale Ausdruck löst oft das bekannte Muster von Flucht-Gegenangriff-Lähmung aus, das im Laufe unserer Evolution unserem Selbsterhaltungsinstinkt diente. Obwohl es bei unseren sozialen Interaktionen selten ums physische Überleben geht, schaltet sich meist eine dieser Reaktionen ein. Konfrontiert mit dem Ausdruck von Wut, Trauer oder Verzweiflung brechen wir die Kommunikation ab, z.B. durch weggehen oder ablenken, wir greifen den anderen verbal an oder wir erstarren in Hilf- und Machtlosigkeit. Jenseits dieser Grundmuster haben wir weitere Antworten entwickelt. In der vernunftbetonten Moderne wird der Ausdruck von Trauer oder Wut mit der sofortigen Lösungssuche und Problembeseitigung adressiert. Die Postmoderne mit ihrer Vorliebe für die Introspektion fühlt die Harmonie bedroht und lädt ein, in uns die Ursachen zu erforschen. Bei Menschen, die sich mit einer integralen Weltsicht beschäftigen, erlebe ich oft, dass sie sich auf die Meta-Ebene zurückziehen und die Rolle des Beobachters übernehmen. Dies schafft Distanz und emotionalen Schutz. Hier gaukelt uns der Verstand vor, dass wir uns »integral« verhalten und setzt die Meta-Ebene dem Zeugenbewusstsein gleich. Aber mit dem Zeugenbewusstsein entwickeln wir gerade die Fähigkeit, unsere Emotionen in aller Intensität zu spüren, ihnen authentischen Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig angstfrei den Raum für uns und andere zu halten. Obwohl diese Verhaltensweisen im Kern durchaus hilfreich sein können, zeugen sie von der Unfähigkeit, Emotionen auszuhalten und sind reaktiv. Sie dienen dazu, die vom emotionalen Ausdruck ausgelöste Angst zu beenden bzw. ihr auszuweichen.

Eine transformierende Haltung zum konditionierten Umgang mit Emotionen könnte in der Angstfreiheit von ihnen gründen.

Einen Großteil der Transformationsarbeit mit unseren Klienten widmen wir dem Aufdecken von familiären Verboten in Bezug auf Emotionen. Es ist auffällig, in wie vielen Familien Wut als »Jähzorn« und »Böses« bezeichnet und untersagt wird. Wir lernen sehr früh, dass unsere Emotionen und deren Ausdruck Angst und Hilflosigkeit bei unseren Bezugspersonen auslösen. Wir erfahren Gefühlsanwandlung als gefährlich, es gilt, sie zu verdrängen bzw. zu kontrollieren. Unser kultureller Kontext verstärkt noch dieses Erleben auf der individuellen Ebene. Im Nachkriegsdeutschland und in einem protestantischen Umfeld ist der Raum für kraftvollen emotionalen Ausdruck begrenzt. Vielleicht ist es solch unterdrückte Wut, die sich im jetzigen politischen Kontext ein Ventil sucht, und sich sogar als Neologismus »Wutbürger« in unserer Sprachgemeinschaft etabliert hat. Hier werden dem Begriff »Wutbürger« wieder eher negative Eigenschaften wie reaktionär, renitent, spießbürgerlich, egoistisch zugesprochen, auch wenn der Journalist Dirk Kurbjuweit die Angst als Auslöser identifiziert: Der »Angstbürger« würde daher »leicht ein Wutbürger, der sich gegen alle wendet, die anders leben, anders aussehen, anders glauben.« Da Wut wiederum Angst und Hilflosigkeit erzeugt, versäumen wir die Chance, uns kollektiv mit ihr auseinanderzusetzen und sie zu integrieren.

Eine transformierende Haltung zum konditionierten Umgang mit Emotionen könnte in der Angstfreiheit von ihnen gründen. Sie ermöglicht uns, die emotionale Kraft ohne reaktive Antwort auszuhalten, sie sein zu lassen und sie primär als eine Energieform wahrzunehmen. Vielleicht ist dies die Voraussetzung für ein Zuhören, das, jenseits von Laisser-faire oder Abwertung, neue Wege für das Miteinander öffnet. In unseren Gefühlen liegt das Potenzial von Lebendigkeit, es kann uns dabei unterstützen, unser Leben freier, friedvoller und kreativer zu gestalten.

Author:
Claudine Villemot-Kienzle
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