Sinn für das Heilige

Our Emotional Participation in the World
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Kolumne
Published On:

April 17, 2018

Featuring:
Alice Andrews
Dieter Duhm
Giannina Wedde
Hartmut Warm
Stefanie Spessart-Evers
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Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
Was ist heute heilig?
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Wir leben in einer säkularen Kultur, in der wir auf viele Konflikte und Krisen keine adäquate Antwort mehr zu finden scheinen. Kann uns die Beziehung zum Heiligen hier neue Perspektiven eröffnen? Wir haben fünf Menschen, die sich in ihrem Wirken mit dieser Dimension verbunden fühlen, gefragt:

Braucht unsere Kultur einen neuen Sinn für das Heilige?

Stefanie Spessart-Evers

Ich glaube, dass letztlich jeder Mensch einen »Sinn für das Heilige« mitbringt. In besonderen Augenblicken vermag sich eine tief berührende Qualität von absoluter Verbundenheit mit dem geheimnisvoll Lebendigen, das in allem wirkt, mitzuteilen, sei es in der Natur, in der Liebe, in Musik, Tanz oder sogar im Leidvollen. Sie wird unterschiedlich benannt: als »leuchtende Gegenwart«, »Augenblick der Ewigkeit«, »Einheitserfahrung« u. v. m. 

Doch dieser »Sinn für das Heilige« droht durch die Patina des Alltäglichen immer weniger spürbar zu sein. Gerade die Beschleunigung des Lebens durch Digitalisierung und damit verbundene Informationsüberflutung erschwert es zunehmend, den Kontakt zu uns selbst und unserer Tiefe zu bewahren. Denn der »Sinn für das Heilige« bezieht sich ja nicht auf Kognitives, sondern eher auf eine Art intuitiver Durchlässigkeit: einem vibrierenden Kontakt zu unserem Lebendig-Sein und zum Leben überhaupt – sodass wir manchmal etwas von dem erspüren, was über uns hinausweist. Wenn aber in uns nur noch wenig zum Mitschwingen oder Erklingen kommt, dann verlieren wir auch unsere Resonanzfähigkeit, auch die für »das Heilige«. 

Zeiten der Stille und Achtsamkeit können uns wieder mit uns und diesem »Klang des Lebendigen« verbinden – und manchmal einen Türspalt öffnen zu einer leuchtenden, zeitlosen Dimension.

Dr. Stefanie Spessart-Evers, Psychotherapeutin und Sachbuchautorin, u. a. »Vom leuchtenden Grund des Seins. Augenblicke der Ewigkeit«.

Giannina Wedde

Der Sinn für das Heilige kommt uns Menschen nie abhanden. Es herrscht allerdings beträchtliche Verwirrung darüber, wie es erfahrbar sei. Viele ahnen, dass das Heilige in ihnen ein Erleben von Verbundenheit auslöst, von Ganzheit und erfüllender Sinntiefe. Turbokapitalismus und Hyperindividualismus haben bodenlose Entfremdung und Beziehungsverlust angerichtet. Zudem sind wesentliche Strukturen innerhalb der Politik nur noch unter Aufbringung einer beträchtlichen Verdrängungsleistung zu ertragen. Etliche Menschen leben ohne blutvolle Weltbeziehung und in einer Art Verdrängungstrance. Aber weil die Sehnsucht nach Verbundenheit und dem Heil(igen) groß ist, kommt sie verzerrt wieder zum Vorschein: als pseudoreligiöse Selbstbezogenheit wie in der Esoterikszene, als Körper- und Jugendkult, als Wellnessindustrie, als fanatische Sportbegeisterung, als Pathos des Nationalismus oder als rückwärtsgewandter religiöser Fundamentalismus. 

Christliche Mystik wusste immer, dass der Mensch sich von Projektionen und dunklen Gewohnheiten lösen muss, um Raum für das Heilige zu schaffen. Das gilt mehr denn je. Unsere Kultur wird sich von zahlreichen Wahnvorstellungen trennen müssen. Ich bin jedoch keine Kulturpessimistin – ich glaube an den Menschen und sein Heimweh nach dem Heiligen. Impulse für die Begegnung mit dem Heiligen können überall, jederzeit, in und zwischen uns entstehen: Das Ende der verbindlichen religiösen Narrative hat ein paar Türen zugeschlagen, aber dafür zahllose neue geöffnet.

Giannina Wedde, Autorin, Liedermacherin und Begleiterin auf dem christlich-mystischen Weg.

Dieter Duhm

Ja, den braucht sie! Das Heilige ist das Heilende und Verbindende. Das Heilige, welches in ferne Götterhimmel und kalte Kirchen verbannt war, möge sich jetzt im realen Zusammenleben realer Menschen offenbaren und bewähren. Durch den Kanal des Vertrauens strömen die Heilkräfte des Lebens und der Liebe. 

Was ist das Heilige? Eine Welt, wo Menschen zusammenhalten und füreinander sorgen, auch wenn sie in Not sind, das ist ein Teil des Heiligen. Eine Welt, in der Kinder ihren Eltern und allen Erwachsenen voll vertrauen können, das ist ein Teil des Heiligen. Eine Welt, wo die sexuelle Zuwendung eines Menschen zu einem anderen in einem Dritten keine Angst, keine Eifersucht und keinen Hass mehr erzeugt, das ist ein Teil des Heiligen. Eine Welt, wo Tiere auf den Menschen zukommen, weil wir sie willkommen heißen und sie vor uns keine Angst mehr haben müssen, das ist ein Teil des Heiligen. Eine Welt, in der wir die Erde und das Wasser wieder als lebendigen Organismus wahrnehmen und pflegen, das ist ein Teil des Heiligen. Wenn Flüchtlingshelfer den Ertrinkenden ihre rettende Hand reichen, das ist ein Teil des Heiligen. Und wenn Menschen für einen todkranken Menschen beten und der daraufhin gesund wird, dann hat das Heilige eines seiner unzähligen Wunder vollbracht. 

Wir brauchen es nicht unbedingt »Gott« zu nennen, denn das Heilige hat keinen Namen, es ist die innere Kraft, die uns alle zusammenführt und mit allen Mitgeschöpfen für immer verbindet. 

Dr. Dieter Duhm, Soziologe, Psychoanalytiker und Autor, Gründer der Friedensgemeinschaft Tamera/Portugal.

Alice Andrews

Das Bedürfnis, Gegenstände, Orte und sogar -Ideen als heilig wahrzunehmen, wird von vielen Forschern als universell erkannt, wahrscheinlich ein Überbleibsel des »verhaltensmäßigen Immunsystems« unserer Vorfahren, das ihnen half, sich von dem »zu trennen«, was unrein und dem Leben nicht förderlich war. Den »heiligen Impuls« gab es schon lange, bevor die Religion ihn »entführt« hat; wir sehen Hinweise darauf sogar in den Grabstätten der Neandertaler. Interessanterweise kann sich dieser Impuls – wie Liebe – mit allem verbinden. Und ebenso wie Liebe fühlt sich das, was wir als heilig wahrnehmen, oft magisch an – was in uns eine Reaktion der Fürsorge und fokussierter Aufmerksamkeit hervorruft, die beide ihrer Natur nach nicht instrumentell und nicht an Gewinn und Nutzen orientiert sind. Deshalb sind sie so kraftvoll. Menschen sind bereit, für das, was sie lieben oder als heilig empfinden, zu sterben. Und darin ist Dunkelheit – aber auch Licht. Wie bei allen Quellen von Energie und Macht, ist es unsere Entscheidung, ob sie dem Leben dienen oder es zerstören. 

Die indigene und alte Weisheit, dass die Natur heilig ist, die heute von der Bewegung »Rights of Nature« und anderen ökologischen und spirituellen Bewegungen vertreten wird, dient dem Leben. Wie auch immer dieser »neue Sinn für das Heilige« sich entwickelt (und ich hoffe, in die Richtung einer naturalistischen Sichtweise des Kosmos), er wird eine gute Geschichte brauchen, mit Symbolen, die wir damit verbinden können, Ritualen, die wir lieben, und säkularen Orten, die mit dem Ziel geschaffen werden, heilige Erfahrungen wachzurufen.

Alice Andrews, Dozentin für Psychologie an der State -University of New York in New Paltz, Mitinitiatorin des Projekts »Sacred Naturalism«.

Hartmut Warm

Zunächst: Was aber ist das Heilige? Keine Definition soll hier gegeben werden, sondern eine persönliche Erfahrung, wie es sich kundtun kann: seltene Momente einer zuversichtlichen Ahnung, dass hinter der wahrgenommenen Erscheinung etwas Unermeßliches, Geheimnisvolles, Verehrungswürdiges und Unantastbares steckt. Hervorgerufen durch das Erleben von Schönheit und Ordnung in musikalischen Meisterwerken, in den Farben und zarten Details einer Blüte, in der totalen Stimmigkeit der einfachen Geometrie, in den Archetypen, die sich in den Bewegungsbeziehungen der Planeten offenbaren. Die Erfahrung dabei, dass sich Schöneres und besser Geordnetes nicht denken lässt, dass die Erfahrung mithin etwas Absolutes an sich hat.

Dann, die Ausgangsfrage impliziert: Braucht der individuelle Mensch einen Sinn für das Heilige? Und wenn dies zutrifft, wie sollte eine Kultur, die diesen Namen verdient, darauf verzichten können? Mit anderen Worten: Ist die Essenz der Kultur – d. h. das Schöpferische in Kunst, Geistigkeit und Wissenschaft, welches keiner Nützlichkeitserwägung folgt – nicht gerade das, was von der Ahnung jenes Geheimnisvollen impulsiert wurde und dann einen seiner Aspekte zum Ausdruck zu bringen versucht?

Schließlich: nach einem »neuen« Sinn wird gefragt. Der alte ist also scheinbar verloren gegangen. Das Frühere, was da abhandengekommen ist, wurde vor allem von außen, d. h. von Autoritäten, vermittelt. Der neue Sinn erfordert: Der einzelne Mensch wird vom Heiligen angeweht. Er nimmt diese zutiefst eigene Erfahrung ernst. 

Da wünscht man sich, dass »unsere Kultur« solches Erleben fördert und ihm Raum gibt. Zum Beispiel dadurch, dass fortan jede zweite Werbefläche im öffentlichen Raum etwas zeigt, beispielsweise ein Bild, ein Gedicht, eine Zeichnung, das von Ferne auf jenes unermesslich Geheimnisvolle hinweist und Sehnsucht nach ihm weckt.

Hartmut Warm, Autor von »Signatur der Sphären«, langjährige Studien zur Geschichte der Sphärenharmonie und zur planetarischen Astronomie.

Author:
evolve
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