Transformative Geschichten
Die Filmserie »Shifting Landscapes«
April 16, 2020
Unsere Entwicklungsmodelle legen oftmals nahe, dass Reife in höheren Fähigkeiten mentaler Komplexität liegt. Aber ist dem wirklich so? Lassen wir in dieser Sichtweise wichtige Aspekte menschlicher Reife ausser Acht? Und welche Formen von Reife brauchen wir heute in krisengeschüttelten Zeiten?
Was wird uns davon abhalten, aufeinander loszugehen?« Diese Frage stellte sich Joanna Macy, die beliebte Tiefenökologin, als sie über die Lawine an Krisen nachdachte, die der Zusammenbruch des Ökosystems auslösen wird. Ihr ganzes Lebenswerk ist einzig der Versuch, darauf eine Antwort zu finden. Es ist eine Frage, die mich nie loslässt. Krisen, so heißt es oft, aktivieren das Beste und das Schlechteste im Menschen. Wenn wir uns die couragierte, aus dem Herzen kommende, kollektive Antwort der Italiener auf die Krise ansehen, die das Coronavirus in ihrem Land ausgelöst hat, dann macht das Mut. Denn Angst und Unsicherheit können in Krisenzeiten sehr wohl dazu führen, dass wir aufeinander losgehen.
Krisen offenbaren die Nahtstellen, an denen die menschliche Psyche nicht ausreichend gefestigt ist. Sie zeigen, wo etwas auseinanderbrechen kann. Unabhängig davon, ob die Krise eine persönliche, familiäre oder gar globale ist: Sie kommt einem Stresstest gleich, der zeigt, wo wir als Menschen wirklich stehen. Krisen führen häufig zu einer Transformation und erzwingen neue Fähigkeiten, um unser Leben mit mehr Komplexität und Subtilität zu verstehen.
Komplexität wird häufig als Merkmal menschlicher Entwicklung gesehen. In einer schnelllebigen und unsicheren Welt ist es eine wichtige Fähigkeit, eine große Menge an Informationen und Emotionen zusammenzubringen, zu verstehen und dann darauf zu reagieren. Paradoxerweise glaube ich als Entwicklungspsychologin nicht, dass diese Fähigkeit den Umgang mit Krisen erleichtert oder verbessert. Vielleicht braucht es etwas, was schwerer definierbar und zutiefst menschlich ist: Ich würde es als Reife bezeichnen.
KRISEN OFFENBAREN DIE NAHTSTELLEN, AN DENEN DIE MENSCHLICHE PSYCHE NICHT AUSREICHEND GEFESTIGT IST.
Es ist etwas ganz anderes, Bücher über die menschliche Entwicklung zu lesen, in denen beschrieben wird, wie wir in einem stetig zunehmenden Prozess immer mehr Perspektiven einnehmen können und zu größerer Komplexität im Denken fähig sind, als in der Praxis Kinder in ihrem chaotischen und ungewissen Prozess des Heranwachsens zu begleiten. Mehr als zehn Jahre lang habe ich zugehört, wenn Mädchen darüber sprachen, wie sie im Verlauf der Jahre ihres Heranwachsens ihr Leben und ihre Beziehungen immer wieder neu verstanden. Und eine der wichtigsten Erkenntnisse aus jener Zeit war für mich, dass jeder Schritt, jeder Übergang von einer sogenannten niedrigeren Entwicklungsstufe hin zu einer höheren mit Verlust einhergeht. Bestimmte Empfindungen, Wahrnehmungen, Einsichten verschwinden in dem Maße, in dem Kinder durch Sozialisation größere Fähigkeiten in abstraktem Denken und der Erschließung ihres Umfelds entwickeln.
Unsere Forschung ergab, dass Mädchen – einige, nicht alle – klare Einsichten in die Dynamik der Machtverhältnisse zwischen erwachsenen Frauen und Männern haben. Beim genauen Zuhören ließ sich eine Kritik unserer gegenwärtigen Kultur erkennen. So erzählte mir ein 10-jähriges Mädchen, dass sie sich Sorgen um ihre Mutter mache, da diese durch Heirat den Namen ihres Vaters angenommen habe und damit »verschwunden sei«. Sie hieße nun »Frau John Smith« und sei damit ein Anhängsel ihres Vaters und keine eigenständige Person mehr. Aber mit der Zeit änderte sich ihre Einstellung. Bei unserem letzten Treffen lag sie mit ihrer Mutter, die vom Vater geschieden war, im Streit und drohte damit, von zuhause auszuziehen. War sie ein Fall für verlangsamte Entwicklung oder verstand sie zu viel für ihr Alter und konnte damit nicht umgehen? Oder beides? Als Carol Gilligan, meine Mentorin und federführend bei diesem Forschungsprojekt, sich zum Ende der Studie mit Teilnehmerinnen traf und ihnen von den aufschlussreichen und häufig beunruhigenden Erkenntnissen erzählte, die die Studie in Bezug auf Geschlechterdynamik ergeben habe, brach es aus einer 18-Jährigen heraus: »Aber als wir klein waren, waren wir dumm!« Der Glaube, dass Entwicklung nur Fortschritt bedeute und dass man mit zunehmendem Alter immer klüger werde, lässt die Intelligenz früherer Erkenntnisweisen unberücksichtigt.
Jede neue Entwicklungsstufe überschreibt die zuvor gültige Form des Verstehens. Darum erinnern sich so viele Menschen so wenig an ihre frühe Kindheit. In ihrer Bedeutungsgebung orientieren sich Kleinkinder und Kinder nicht an Konzepten, sondern an ihren Sinneswahrnehmungen – spürbar in ihrem Körper. Die westliche Kultur schult uns wortwörtlich in begrifflichem und abstraktem Denken. Wenn wir die Pubertät erreichen, bilden die Ideale und Werte der eigenen Kultur den Rahmen für die Bewertung des eigenen Lebens und des Lebens anderer. Darum hatte das Mädchen die Einsicht, dass irgendetwas in der Gesellschaft ihre Mutter auslöscht. Aber ist nun der neue Bezugsrahmen – der die Einsicht des Kindes höchstwahrscheinlich als dumm abtut – tatsächlich der reifere?
Eine weitere unvergessene Geschichte aus der Zeit meiner Entwicklungsstudien geht auf Ron Slaby zurück, der sich mit dem Thema Gewalt und Mobbing bei Jungen befasst. Ron unternahm eine Wildwasserrafting-Tour mit einer Gruppe Erwachsener (Betreuer) und Jungen im Teenagealter, die als gefährdet galten, straffällig zu werden. Das Etikett »gefährdet« bedeutet oft, dass die Jungen leicht wütend und impulsiv reagieren oder »keine Impulskontrolle« haben. Da viele dieser Jugendlichen aus armen Verhältnissen stammen und in Vierteln leben, in denen Gewalt an der Tagesordnung ist, haben sie eine Menge Gründe, wütend zu sein. Eine höhere Entwicklungsstufe bedeutet jedoch, dass man Impulse – Angst, Wut, Sex – besser kontrollieren kann, wodurch ein gewisser Raum zwischen Impuls und Aktion entsteht, sodass ein anderes Verhalten möglich wird. Dies ist ein wichtiger Aspekt der Reifung.
Nun war es so, dass Ron und seine Gruppe einen Wildwasserfluss entlangfuhren, als ein Boot einen Stoß erhielt, ein Mann das Gleichgewicht verlor und in den Wasserstrudel fiel. Ohne zu überlegen sprang einer der Jungen hinterher und packte ihn. Die Aktion war riskant und die Rettung des älteren Mannes verlangte dem Jüngeren viel ab. Aber er schaffte es.
Danach reflektierte Ron das Geschehen. Die anderen Erwachsenen auf ihren Booten zögerten, als ihr Freund und Kollege ins Wasser fiel – ihr Überlebensinstinkt und ihre Fähigkeit, zu zögern und eine Risikobewertung vorzunehmen, hätte den Mann eventuell das Leben kosten können. Der Junge jedoch reagierte bloß darauf, dass der Mann gerettet werden musste. Für Ron lag schmerzhafte Ironie darin, dass dieser Junge, der so selbstlos auf die Not eines anderen Menschen reagiert hatte, sowohl als entwicklungsverzögert als auch potenziell gefährlich angesehen wurde. Vielleicht war er es ja auch oder würde es werden. Aber in diesem Fall war er tatsächlich der Retter.
Nie werde ich ein weiteres erschreckend eindringliches Beispiel einer lebensrettenden Reaktion aus einer »niederen« Entwicklungsstufe vergessen: die Geschichte von Lara Logan, einer Journalistin. Sie berichtete über die Feiern auf dem Tahrir-Platz nach Mubaraks Rücktritt: Sie befand sich inmitten einer vorwiegend aus Männern bestehenden Volksmenge. Ein Mann schrie, dass sie Israelin und Jüdin sei (was falsch war), und eine Meute von zwei- bis dreihundert Männern griff sie an, trennte sie von ihrem Kamerateam, riss ihr die Kleider vom Leib, es kam zu sexuellen Übergriffen, sie wurde hierhin und dorthin gezerrt. In einem entscheidenden Moment stellte Lara Augenkontakt zu einer Frau her, die einen schwarzen Tschador trug und mit ihren Kindern und einigen anderen Frauen an einem Zaun lehnte. Die Frau griff nach Lara und wickelte sie in eine Decke, während die anderen Frauen einen engen Kreis um sie bildeten. Die unbekannte Frau rettete Lara das Leben, im Angesicht einer Meute wütender Männer und in einem Land, in dem sexuelle Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung ist. Befand sich diese Frau auf einer »hohen« Entwicklungsstufe, war sie in der Lage, Komplexität zu verstehen? Wahrscheinlich nicht. Aber sie reagierte mit Entschiedenheit auf eine gefährliche und dynamische Situation und rettete Lara Logans Leben.
DER GLAUBE, DASS ENTWICKLUNG NUR FORTSCHRITT BEDEUTE, LÄSST DIE INTELLIGENZ FRÜHERER ERKENNTNISWEISEN UNBERÜCKSICHTIGT.
Unsere Betonung der kognitiven oder mentalen Entwicklung und die Abstimmung unserer Reaktionen mit unserem Verstand scheinen nicht ausreichend zu sein. Wenn es wirklich um Leben und Tod geht: Würde man sich nicht jemanden wünschen, der die Fähigkeit hätte, sich voll und ganz der konkreten Situation hinzugeben und Leben zu retten? Ist das nicht großmütige Reife?
Diese Reaktionen auf Krisen – ein Mädchen, das sich Sorgen um seine Mutter macht, ein Teenager, der ins Wasser springt, eine Frau, die einer Meute Männer die Stirn bietet – sind vielleicht nicht die besten Beispiele für Reife. Ich will mit ihnen hinterfragen, dass Entwicklung – um Voltaires Figur Pangloss zu paraphrasieren – immer zum Besseren und schließlich zur Weisheit der Reife führt. So einfach ist es nicht. Auf diesem Weg verlieren wir Fähigkeiten und Empfindungen, die wir einst hatten, und dieser Verlust ist ein Riss in der menschlichen Psyche, der oft nicht nur eine Schwächung des Selbst, sondern auch der Gesellschaftsstruktur bedeutet. Sensibel zu sein gegenüber dem verborgenen Schmerz eines anderen Menschen oder instinktiv für den Schutz des Lebens einzutreten: Das sind wunderbare Eigenschaften, die ich für einen Ausdruck von Reife bei Erwachsenen halte. Reife, so meine ich, spiegelt nicht einfach nur die höhere kognitive Entwicklung. Die Fähigkeit, größere komplexe Zusammenhänge zu erfassen und unterschiedliche Perspektiven zusammenzubringen, schafft eine Grundlage für Reife, aber das ist nicht alles. In besonderen Krisenzeiten wird dieses noch deutlicher, wenn es nämlich mehr als durchdachte Antworten braucht, um menschlich zu bleiben und Verbundenheit herzustellen.
Die Erfahrung der Entwicklung enthält eine Reihe von Krisen, beginnend mit dem ersten Mal, wenn ein Säugling untröstlich weint, weil die Mutter ihn allein lässt, bis hin zu der schockierenden Erkenntnis, dass es in der Gesellschaft nicht wirklich einen Raum für die eigenen kühnen Hoffnungen und Träume gibt, oder bis zum Verlust eines geliebten Menschen, der für uns alles an emotionaler Stütze bedeutet hat, oder auch so etwas wie der Coronakrise oder der drohenden Zerstörung unseres Ökosystems. Diese Krisen können eine Wende hin zu Reifung bedeuten, weil wir scheitern oder das Leben in unserer Familie oder Gesellschaft in ein Scheitern gerät. Aber eine Wende wohin?
Es scheint zwei Wege zu geben, die uns aus dem Scheitern führen können. Der eine besteht darin, unseren Verstand zu erweitern, unsere Erfahrungen zu objektivieren, zu verstehen und zu kontrollieren. Wir entwickeln uns also im kognitiven Bereich, indem wir eine komplexe Fähigkeit zur Rationalisierung entwickeln.
Und in unserer Bedeutungsgebung glauben wir dann: »Als ich klein war, war ich dumm.« Die westliche Kultur mit ihren Wurzeln in der Philosophie der Griechen und der Aufklärung setzt auf diese Art Entwicklung, deren Weg über solch höhere Entwicklungsstufen wie Schau-Logik (bei Ken Wilber) verläuft. Hier kann der Verstand die aufregendsten Möglichkeiten begrifflich denken und an ihre Umsetzung gehen. Diese zunehmende Fähigkeit zu kognitiver Komplexität neigt aber auch dazu, sich vom subtilen Puls des Lebens und der Intelligenz, die aus Ganzheit und Verbundenheit entsteht, abzuspalten.
DIE ZUNEHMENDE FÄHIGKEIT ZU KOGNITIVER KOMPLEXITÄT NEIGT DAZU, SICH VOM SUBTILEN PULS DES LEBENS ABZUSPALTEN.
Damit kommen wir zum anderen Weg der Entwicklung, dem weniger begangenen, der mich mit meiner Hilflosigkeit konfrontiert – dieser besteht darin, dass ich mich nicht von der Conditio humana lösen kann, denn ich trage sie in mir. So stehe ich mit leeren Händen da und stelle fest, dass ich tiefer eindringen und die Teile meines Selbst reintegrieren muss, die der Entwicklungsprozess in unserer Kultur der Abspaltung getrennt hat. Statt mich auf den Weg der Schau-Logik zu begeben, der meinen Glauben an meinen eigenen, getrennten kreativen Geist verstärkt, könnte ich den Weg der Verbundenheit mit dem Leben und anderen Menschen gehen. Hier öffnet sich die Tür zu einem kollektiven Bewusstsein – ein Weg, der noch nicht Bestandteil der Entwicklungsmodelle ist. Dies könnte das Terrain von Reife in unserer Zeit sein: Das »Ich« wird zum gestaltenden Akteur eines neuen »Wir« und erschließt damit einen bislang nicht erforschten Weg, der dem Ganzen dient und aus der Liebe für den ko-kreativen Impuls erwächst, aus dem das Leben selbst sich immer weiter entfaltet.