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Chance und Gefahr für eine neue, ethische Wirtschaft
Viele glauben, dass wir jetzt in eine neue Ära des Internets – Web 3.0 – eintreten, wo die Gesellschaft in dezentralen, über das Web miteinander verbundenen Netzen organisiert ist. Im Web 3.0 kommunizieren, handeln, planen und entscheiden die Menschen über das Internet – von der Verwaltung öffentlicher Infrastruktur bis hin zur Beantragung einer Hypothek –, ohne dass es einer zentralen Behörde bedarf. Dieser Paradigmenwechsel in unserem Verständnis von Macht, Hierarchie und Governance könnte sich in Zukunft stark auf die Funktionsweise von Organisationen und Gemeinschaften auswirken. Im folgenden Kurzinterview spricht Tarn Rodgers Johns mit Angela Kreitenweis darüber, wie Token dazu dienen können, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.
evolve:Lassen Sie uns zunächst ein wenig über Token-Wirtschaftssysteme sprechen. Was sind sie, und wie lassen sie sich mit den heutigen Wirtschaftssystemen vergleichen?
Angela Kreitenweis: Ich vergleiche Wirtschaftssysteme, die auf Tokens basieren, immer gerne mit Systemen, die bereits existieren. Wenn wir über die Wirtschaft sprechen, denken wir oft an nationale Volkswirtschaften. Was den meisten Verbrauchern jedoch nicht so klar ist, ist die Tatsache, dass wir im täglichen Leben bereits an globalisierten Wirtschaftssystemen teilnehmen. Amazon ist zum Beispiel ein Wirtschaftssystem in sich. Darin gibt es Verbraucher, Produzenten und Verkäufer aus der ganzen Welt. Dieses globale System wird jedoch nach Amazons Geschäftsbedingungen betrieben. Das System lässt bestimmte Handlungen zu, z. B. dass wir Dinge kaufen, dass wir bestimmte Garantien haben und dass wir manchmal etwas zurückschicken wollen. Innerhalb dieses Systems können wir auch unsere Rolle ändern und zum Verkäufer werden. Eine Token-Wirtschaft könnte ähnlich sein, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied. Als Token-Inhaber könnten wir alle Eigentümer einer dezentralisierten Version von Amazon sein, und wir alle könnten uns an der Verwaltung dieses Systems beteiligen – weil es eine öffentliche Infrastruktur ist. Eine solche dezentralisierte Version des elektronischen Handels wird bereits aufgebaut, und zwar bei Boson Protocol.
Im Web 3.0 gibt es dezentrale Systeme, an denen sich jeder beteiligen kann, ohne dass es Zwischenhändler gibt. Eine solche Grundlage erlaubt uns, neue Wirtschaftssysteme für neue Zwecke zu schaffen, die wir wie nie zuvor auf einen bestimmten Zweck hin optimieren können. Wir können neue Regeln schaffen, die für viel mehr Beteiligte fair sind, und neue plattformbasierte Wirtschaftssysteme als öffentliche Infrastrukturen kreieren. Darum geht es beim Token-Engineering.
Im Web 3.0 gibt es dezentrale Systeme, an denen sich jeder beteiligen kann, ohne dass es Zwischenhändler gibt.
Dezentrale Infrastrukturen
e:Tokens sind also ein Medium, mit dem Transaktionen durchgeführt werden – sie repräsentieren einen bestimmten Wert?
AK: Das ist natürlich nur ein Element. In einer Token-Wirtschaft können Tokens verschiedene Funktionen von Geld übernehmen: Tauschmittel, Rechnungseinheit oder Wertaufbewahrungsmittel. Wie jede andere Währung ermöglichen sie den Verkauf oder die Darstellung eines bestimmten Vermögenswerts. Ein Token kann eine Rechen-einheit sein, um einen bestimmten Beitrag zu belohnen, z. B. eine Verifizierung oder Aufbereitung. Ein Token kann auch Zugriffsrechte oder Stimmrechte gewähren. Es geht also darum zu entscheiden, welche Form das Token haben soll, und die Regeln anschließend in einer Software zu kodieren.
e:Was ist Token-Engineering, und warum brauchen wir es?
AK: Wenn man eine große Plattform, z. B. eine E-Commerce-Plattform wie Amazon, auf einer öffentlichen Infrastruktur wie eine Blockchain betreiben will, muss man sicher sein, dass sie robust und widerstandsfähig ist. Diese Systeme müssen ständig aktualisiert werden und sich ständig weiterentwickeln. Token-Engineering wurde erstmals 2018 erwähnt und ist die jüngste technische Disziplin, seit sich die Softwareentwicklung in den 1960er-Jahren etabliert hat. Es handelt sich um einen multidisziplinären Ansatz, der Kryptografie, Softwaretechnik, KI, Datenwissenschaft, Betriebstheorie, Wirtschaft und Sozialwissenschaften wie Verhaltens-ökonomie, Philosophie, Recht, Ethik und Politikgestaltung miteinander verbindet.
Token-Engineering betrachtet die Entwicklung von Token-Systemen als technische Disziplin. Der Gedanke, dass wir für diese neuen Krypto-Wirtschaftssysteme einen Engineering-Ansatz brauchen, kam erstmals 2018 auf, als es eine Welle von ICOs [Initial Coin Offerings] gab. Unternehmen begannen, Krypto-Tokens zu schaffen und sie an Investoren im Austausch für deren Investitionen zu vergeben. Einerseits konnten die Projekte mit diesem Modell viel Geld aufnehmen. Andererseits war klar, dass viel zusätzliche Forschung nötig war, um dieses Modell robuster und sicherer zu machen.
Zu keinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte standen uns so viele Daten über wirtschaftliche Transaktionen zur Verfügung. In einem Token-System machen die Tokens all diese wirtschaftliche Aktivität sichtbar. Wir können diese Wirtschaftssysteme in Echtzeit beobachten. Wir können künstliche Intelligenz und Methoden des verstärkenden Lernens einsetzen, um potenziellen Angriffsvektoren entgegenzuwirken und Anfälligkeiten früh zu beseitigen. Das können wir in einem traditionellen Wirtschaftssystem nicht.
Werte programmieren
e:Lassen Sie uns ein wenig über die ethischen Aspekte sprechen. Wie kann eine Token-Wirtschaft oder ein mit Token aufgebautes System gestaltet – oder ingenieurtechnisch erstellt – werden, um Anreize für bestimmte Verhaltensweisen zu schaffen? Was sind dabei die Gefahren, und worin liegt der Nutzen?
AK: Wie ich bereits erwähnt habe, können wir bestimmte Richtlinien und Regeln in ein Token-System hineinkodieren. Im Beispiel von Amazon werden die Richtlinien des Kaufens und Verkaufens durch die Software verstärkt. Darüber hinaus können wir ein bestimmtes menschliches Verhalten durch Anreize fördern – zum Beispiel durch die Schaffung von Tokens, die nach einer bestimmten Zeit ablaufen, um so Ausgaben zu fördern, die das Ökosystem weiterentwickeln.
Wir haben die Token-Engineering-Community gegründet, weil wir erkannt haben, dass dies auch eine ethische Herausforderung darstellt. Wenn man mit einer Designlösung ein bestimmtes Ergebnis anstrebt, kann man die Folgen oder negativen Auswirkungen nicht voraussehen. In der KI gibt es das klassische Beispiel der Büroklammer: Wenn der Mensch eine KI erschaffen würde, deren Aufgabe es wäre, die Produktion von Büroklammern zu maximieren, dann würde sie schließlich alle Ressourcen der Erde verbrauchen, um ihr Ziel zu erreichen. Dies wäre ein unbeabsichtigter Nebeneffekt mit schwerwiegenden Folgen für die Menschheit. Hier kommt der Engineering-Ansatz ins Spiel. Anreize können negative Nebeneffekte haben, und das ist eine große Verantwortung.
In der Token-Engineering-Community geht es nicht darum, Menschen zu optimieren, vielmehr wollen wir die größtmögliche Freiheit bieten und gleichzeitig sichere Bedingungen für alle Teilnehmenden des Systems gewährleisten. Wir hoffen, dass die Token-Ökonomie uns helfen wird, die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu lösen, z. B. wenn es um den Klimawandel, geringere CO2-Emissionen oder mehr Fairness in der globalen Wirtschaft geht.
Wir können bestimmte Richtlinien und Regeln in ein Token-System hineinkodieren.
e: Können Sie das etwas näher erläutern?
AK: Wir haben hier eine riesige Chance, neue Wege zu finden, um Wirtschaftssysteme in Richtung Nachhaltigkeit zu optimieren. Ein Beispiel ist eine Gruppe, die kürzlich an der Token Engineering Academy war. In einem unserer Programme befasste sich ein Team mit der Herausforderung, dass es nur nationale Märkte für [Kohlenstoff-]Emissionszertifikate gibt. Unternehmen kaufen Zertifikate, um eine bestimmte Menge an CO2 ausstoßen zu dürfen, aber die Märkte sind alle lokal und national – was einschränkend sein kann. Das Team hat Märkte entwickelt, die sicherstellen, dass ein Zertifikat für eine nationale Institution ausgestellt und verifiziert wird, gleichzeitig aber weltweit gehandelt werden kann.
Ein weiteres Beispiel ist ein aktuelles Projekt, bei dem es darum geht, Anreize für den zweiten oder dritten Lebenszyklus von Batterien zu schaffen. Elektroautos haben einen sehr kurzen Lebenszyklus, aber wir können die Batterien dann immer noch für andere Zwecke verwenden. Bei diesem Projekt würden die Batteriehersteller die Batterien mit einer Garantie vermieten oder leasen. Der erste Lebenszyklus der Batterien wäre in den Autos, danach können sie ersetzt und an die Hersteller für andere Zwecke zurückgegeben werden. Es gibt also viele Möglichkeiten, neue Anreize für Nachhaltigkeit zu schaffen.
Unsere bestehenden Systeme in öffentliche Infrastrukturen umzuwandeln, zu denen wir einen erlaubnisfreien Zugang haben sowie Teilhabe an verschiedenen Entscheidungsprozessen, um die Regeln festzulegen – das ist der nächste Schritt.
Die Vision einer neuen Wirtschaft
e:Wie wollen Sie mit der Token Academy ein Netzwerk von Token-Engineers schaffen?
AK: Wie ich bereits sagte, ist der Ansatz von Token-Engineering multidisziplinär. Im Kern geht es um weit mehr als um Technologie: Es geht um Menschen und die Gesellschaft. Warum sollen wir diese neuen Wirtschaftssysteme schaffen? Wenn wir nur unsere traditionellen, fehlerhaften Systeme wiederholen, verpassen wir eine riesige Chance. Wir haben die Akademie im Jahr 2020 ins Leben gerufen, weil wir erkannt haben, dass es einen enormen Bedarf an wirtschaftlichem Wandel gibt, der aber auch mit Verantwortung verbunden ist, wenn man ihn richtig angeht. Inzwischen hatten wir mehr als 700 Teilnehmende aus 21 Zeitzonen. Alle unsere Kurse finden online statt. Wir haben Menschen aus verschiedenen Disziplinen in unseren Programmen – Ingenieurwesen, Softwaretechnik, KI, Finanzen und Sozialwissenschaften – und setzen sie in Forschungsgruppen ein.
Wir befähigen Leute, in einem multidisziplinären Umfeld an bestimmten Krypto-Herausforderungen zu arbeiten. Es ist ein großes Vergnügen, diese Art der Zusammenarbeit zu ermöglichen und die Kreativität und die hochwertigen Ergebnisse zu sehen, die dabei herauskommen, von neuen Formen von Anreizen über neue Infrastrukturen bis hin zu wissenschaftlichen Arbeiten. Es ist einfach wunderbar zu beobachten, wie Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund zusammenkommen und diese gemeinsame Vision von neuen Wirtschaftssystemen verwirklichen. Das ist es, was mir an der Akademie so gut gefällt.
Wir haben eine riesige Chance, neue Wege zu finden, um Wirtschaftssysteme in Richtung Nachhaltigkeit zu optimieren.
e: Kryptowährungen entwickeln sich gerade zu einer neuen Anlageklasse auf den traditionellen Finanzmärkten. Stellt dies eine Herausforderung für Menschen wie Sie dar, die die Wirtschaft neu gestalten wollen?
AK: Das hat zwei Seiten. Ich würde behaupten, ohne das Interesse der Investoren und ohne diese riesige Menge an Geld, die in Krypto-Projekte fließt und jetzt verfügbar ist, wäre diese Entwicklung nicht möglich. In gewisser Weise gab es noch nie einen Moment in der Geschichte, in dem so viel Geld an Menschen weitergegeben wurde, die im Grunde sehr idealistisch sind. Die Leute in dieser Gemeinschaft kommen vom Peer-to-Peer und Open Source. Diese Investitionen ermöglichen es den Menschen im Krypto-Bereich, DAOs [dezentralisierte autonome Organisationen], neue Formen des Eigentums und öffentliche Infrastrukturen zu entwickeln, um die extraktiven Plattformen zu überwinden. Es ist ein bisschen wie ein Märchen.
Gleichzeitig gibt es natürlich auch eine Kehrseite. Die Investoren haben nicht alles verlernt, was sie in der Vergangenheit angetrieben hat. Es besteht immer noch dieses Spannungsverhältnis zwischen Gewinnmaximierung und dem höchsten Zweck, dem besten Design und auch dem Potenzial, etwas zu bewirken und zu verändern. Aber wir stehen nicht zum ersten Mal in der Geschichte vor dieser Herausforderung. Ich würde sagen, dass ich die Chancen größer einschätze als die Gefahren, aber es gibt zweifellos immer noch ein Spannungsfeld.
e:Ich frage mich: Könnte es zu einem Interessenkonflikt kommen? Wenn Sie zum Beispiel in Ethereum investieren und den Preis dieser Kryptowährung steigen sehen möchten, wären Sie dann nicht daran interessiert, DAOs und Tokens zu fördern, die auf einer Ethereum-Blockchain laufen?
AK: Wenn wir über Interessenkonflikte sprechen, verweist jeder auf die großen Investoren und ihr ständiges Streben nach Rendite-maximierung. Sicher, sie sind nicht nur dabei, weil sie eine bessere Welt schaffen wollen. Einige von ihnen sind es aber. Und auch im DAO-Bereich sehen wir dieses Verhalten bei einzelnen Teilnehmern, die nur eine Handvoll Tokens halten. Sogar dort kann man das Interesse an der Renditemaximierung beobachten. In allen Gemeinschaften gibt es dieses Spannungsverhältnis zwischen kurzfristiger Gewinnmaximierung und langfristiger Ambition und Vision. Damit müssen wir uns auf vielen Ebenen ausein-andersetzen. Ich bin zuversichtlich, weil ich viele Projekte sehe, die sich aktiv darum bemühen, dieses Problem anzugehen und zu lösen. So etwas habe ich in der Unternehmenswelt noch nicht erlebt.
Es wird immer klarer, dass wir nur gemeinsam auf die Herausforderungen der Gegenwart antworten können. Nötig ist eine Weisheit, die aus der Verbundenheit entsteht. Aber wie finden wir Zugang dazu? In Experimenten mit intersubjektiven Feldern, in denen Menschen zusammenkommen, um Fragestellungen miteinander zu bewegen und Entscheidungen zu treffen, wird diese Möglichkeit erforscht. Wir haben sechs Menschen, die sich mit intersubjektiven Feldern beschäftigen, gefragt:In sozialen Feldern scheint sich ein Raum jenseits des Individualismus zu öffnen. Was ist dieser Raum und warum ist er heute relevant?
Der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke beschäftigt sich intensiv mit der Sinnkrise, mit Weisheit und mit der Erneuerung unserer kulturellen Grundlagen aus der Wertschätzung des Heiligen heraus. Dabei sieht er den dialogischen Prozess des Forschens im Dialogos als eine Qualität dieser kulturellen Transformation. Wir sprachen mit ihm über diesen grundlegenden Wandel unseres Denkens und unseres Seins in der Welt.
In der Praxis des Emergent Interbeing wird ein Feld zwischen Menschen lebendig, in dem die Kräfte des Lebens in seiner evolutionären Entfaltung wirken. Je freier wir sind von festgefügter Identität, desto mehr sind wir Ausdruck und Mitgestaltende eines gemeinsamen Werdens.