Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
November 6, 2020
Schon vor vielen Jahren diagnostizierte der Philosoph Martin Heidegger dem Westen eine tiefgreifende Sinnkrise, die mit unserem gegenständlichen Umgang mit der Welt zu tun hat. Johannes Niederhauser hat sich intensiv mit dem Denken Heideggers beschäftigt und führt es für die heutige Zeit weiter. Wir sprachen mit ihm über die existenziellen Dimensionen unserer Sinnkrise.
evolve: Wir und die Welt stecken in einer Sinnkrise, das ist wohl unbestritten. Diese Krise hat auch wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Dimensionen, aber es gibt auch eine tiefere, philosophische Ebene dieser Krise, die nicht so offensichtlich ist. Wo sehen Sie als Philosoph die eigentliche Sinnkrise unserer Zeit?
Johannes Niederhauser: Vielleicht sollten wir zu Beginn das Feld abstecken, auf dem wir uns bewegen wollen. Wenn wir über die Sinnkrise sprechen, müssen wir aufpassen, nicht selbst zu einem Ausdruck davon zu werden. Allein der Begriff der »Sinnkrise« deutet darauf hin, dass »etwas«, nämlich der Sinn, nicht mehr vorhanden sei. Aber er war nie als ein »Etwas« vorhanden. Auch die Rede über die Sinnkrise kann selbst sinnlos werden, wenn sie sich um sich selbst dreht und so etwas wie »Sinn« offeriert. Wir brauchen nur in einen Buchladen zu gehen, um zu sehen, wie viele Bücher sich mit der Sinnsuche und Sinnfindung beschäftigen und so »etwas« wie »Sinn« feilbieten.
Sinn ist nichts einfach Gegebenes. Sinn kann nur erschlossen werden. Wenn wir von einer Sinnkrise oder vom Sinnverlust sprechen, dann meinen wir vielleicht am ehesten, dass uns die Fähigkeit oder die Kunst abhandengekommen ist, Sinn zu erschließen. Denn Sinn wird nicht gemacht. Sinn ergibt sich. Er verschenkt sich. Aber er kann nur ein Geschenk sein, wenn wir ihn als solches annehmen und weitertragen.
Nietzsche sagte Ende des 19. Jahrhunderts, dass die Geschichte der nächsten 200 Jahre der Nihilismus sein wird, die radikale Sinnlosigkeit. Der Tod Gottes, den er diagnostizierte – damit meinte er den christlich moralischen Gott –, führt zu einer radikalen Entwertung aller höchsten Werte. Für Nietzsche ist deshalb eine Umwertung aller Werte nötig, um uns zur Geburt einer neuen Welt zu führen. Wenn das nicht geschieht, dann bleiben wir kleben in der Sinnlosigkeit, in einem passiven Nihilismus, wie er es nannte.
Aber was wir heute erfahren, ist vielleicht noch stärker als der Tod Gottes. Denn der Mensch scheint in seiner Subjektivität an der äußersten Grenze seiner eigenen Selbstgewissheit angekommen zu sein. Heute schleicht sich eine große Ungewissheit ein. Die Moderne begann mit der selbstgesetzten Selbstgewissheit des Menschen gegenüber der gegenständlichen Welt, einer Welt, in der alles kontrolliert und manipuliert werden kann. Doch diese Kontrollversuche beginnen uns heimzusuchen.
Der verlorene Grund
e: Nach dem Tod Gottes blieb uns nur mehr unsere Selbst-Setzung als selbständige Subjekte, die die Welt machen und kontrollieren. Aber auch das bricht jetzt weg.
JN: Mit der Selbst-Setzung sprechen Sie etwas Wesentliches an. Martin Heidegger sprach vom »Gestell« als dem »Wesen« der Technik. Damit meint er den Bereich, in dem eine gewisse Weltauslegung überhandnimmt, nämlich das Stellen und Setzen. Das Ge-Stell duldet keinen Widerstand. Nietzsche wollte den Menschen aus der Subjektivität radikal neu setzen. Er nannte das den Willen zur Macht, den es so zu leben gilt, dass neue, lebensbejahende Werte gesetzt werden, die das Leiden und die Tragik der Existenz mittragen und affirmieren. Sein Denken scheitert letztendlich an seinem Subjektivismus. Dennoch müssen wir seine Warnung vor der vergessenen Tragik ernst nehmen.
Wir sind mit unseren Selbst-Setzungen Münchhausen im Sumpf nicht ganz unähnlich. Wir versuchen uns durch Setzungen selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Nur gelingt es nicht und es ist ein ungeheurer Kraftaufwand, der, frei nach Schopenhauer, zunehmend die Kosten nicht deckt. Deshalb sehen wir auch die Beschleunigung und Ermüdung der Gesellschaft. Schon Nietzsche spricht von einem unheimlichen Räderwerk, das von einem ökonomischen Optimismus aufgezogen wird.
Dieser Kraftaufwand nimmt uns die Muße als Fundament unseres Seins. Denn unsere Selbst-Setzung als Mensch fußt auf nichts mehr, sie findet keinen Grund und Halt mehr und kennt kein Maß.
e: Aber hat sich diese Dynamik seit Nietzsche nicht in einem gewissen Sinne auch umgedreht? Wir werden doch heute immer selbst mehr durch die Technik und ihre systemische Wirklichkeit gesetzt und bestimmt.
JN: Es gibt den Moment, wo sich diese Selbst-Setzung dermaßen nach außen kehrt, dass sie zurückschlägt. So versteht Heidegger die Herausforderung durch die Technik. Er sagte deshalb auch, die Atombombe sei schon vor 500 Jahren explodiert. Damit meinte er Rebellion gegen das Sein, die sich im Selbst-Setzen des menschlichen Subjekts ausdrückt. Die Metaphysik von René Descartes ist dafür exemplarisch. Mit ihm beginnt der Mensch, sich selbst zu setzen, wie man in Descartes’ »Meditationen« nachlesen kann. Der Mensch ist nun nicht mehr der Empfänger und Bewahrer der »Gabe des Seins« und des Sinns.
Wenn etwas eine Gabe ist, kann es sich natürlich auch radikal entziehen. Wenn wir ehrlich sind, spüren wir auch diesen Entzug des Seins. Aber wir reagieren nur darauf, indem wir dagegen vorgehen. Der Sinn kann auch ausbleiben, im alten Sinne dieses Verbs. Es gibt keine Garantie für Sinnhaftigkeit. Dabei kann gerade durch ein echtes Loslassen Sinn erstehen. Vielleicht hilft hier ein Beispiel: In Deutschland kann man von Jochen Schweizer »Erlebnisse« in kleinen Boxen kaufen. Zum Beispiel »Lebensfreude« oder ein »romantisches Wochenende«. Hier ist das Erlebnis zu einer Setzung geworden. Man bildet sich ein, vorherbestimmen zu können, wie etwas sein wird, und zwar rein durch die Setzung äußerlicher Parameter und Vorstellungen.
Was sich hier über die Jahrhunderte aufgebaut und aufgestaut hat, fordert den Menschen heraus, sich immer wieder selbst zu setzen, und gleichzeitig wird er immer mehr in dieses Räderwerk eingefügt. Im Englischen spricht man von der Streamlined Existence. Unser Leben ist eigentlich vorgegeben. Man kennt die Verlautbarungen: Die Menschen werden immer älter, alles wird immer besser. Das sind die Phantasmen des technischen Fortschritts. Dabei ist alles vorgefertigt, das Leben wird ein Programm, das abläuft.
Aber das, was sogar dieses vorgefertigte Leben noch begrenzt, nämlich der Tod, wird grundsätzlich ausgeblendet. Der bekannte Spruch von Descartes lautet ja: »Ich denke, also bin ich«. Was man auch so umformulieren kann: »Ich stelle mir etwas vor, also bin ich.« Für Descartes und damit für den modernen Menschen ist diese Selbstbezüglichkeit Gewissheit. Für Heidegger müsste es aber vielmehr heißen: »Ich bin nur im Hinblick auf meinen Tod.« Mein Leben ergibt Sinn, weil ich sterblich bin. Das ist die einzig wahre Gewissheit des Menschen.
ALLES IST VORGEFERTIGT, DAS LEBEN WIRD EIN PROGRAMM, DAS ABLÄUFT.
Descartes bezweifelt die Existenz der Welt und von Anderen, um so die Selbstgewissheit zu sichern. Im radikalen Zweifel landet das Ich bei sich. Ich bin mir nur meiner eigenen Existenz ganz sicher. Diese Gewissheit wird zur absoluten Wahrheit. Wenn diese Gewissheit wegbricht, herrscht die Sinnkrise. Und der Versuch, durch irgendwelche Modelle oder einfache »Lösungen« Sinn zu generieren, verschärft die Situation nur.
Die Fantasie der Optimierung
e: Und was zeigt sich, wenn ich das nicht tue?
JN: Ein ganz anderer Zugang zur Welt. Man kann diesen Zugang »mußevoll«, würdevoll und liebend nennen. Es ist ein liebender Zugang und Umgang im echten Sinne des Wortes Liebe. Denn Liebe, ein Wort, das verwandt ist mit Glauben, das heißt, dass man etwas sein lässt. Ich lasse die Dinge sein, wie sie sind, und dieses Seinlassen erschließt Welt, wie sie aus sich selbst aufscheint. Immer natürlich mit meinem Beisein. Der Mensch nimmt am Geschehen teil und die Antworten, die wir darauf geben, sind wesentlich.
Wenn ich auf einen Menschen zugehe und setze, dass ich diese andere Person in- und auswendig kenne, z. B. meine Partnerin, dann erschließt sich mir nichts Neues mehr. Der andere ist mir ja schon bekannt. Oder wenn ich durch meine Nachbarschaft laufe und sage: »Das kenne ich schon alles«, dann bleibt diese Gegend für mich verschlossen. Da erwartet mich nichts mehr.
Wenn ich allerdings mit der Offenheit hingehe, dass ich vielleicht noch nicht alles gesehen habe und jetzt einmal einfach nur schaue, was passiert, dann kann sich etwas zeigen. Wenn ich ruhig darauf achte, wie jemand anderes wirklich ist oder sich eine Gegend wirklich für mich erschließt, ohne sie vorher schon zu überfallen, etwa mit Vorstellungen wie »entspannte Tage im sonnigen Rheintal«, dann gibt es die Möglichkeit, etwas Echtes zu erfahren. Man muss darauf achten, wie oft wir mit unseren Vorstellungen die Dinge schon überfallen, bevor sie sich zeigen können.
SINN IST NICHTS EINFACH GEGEBENES. SINN KANN NUR ERSCHLOSSEN WERDEN.
e: Das wäre ein anderer Welt-Zugang als der der Technik, wo im Prinzip alles zu gemachten Wirklichkeiten wird. Wir machen alles, es geschieht nicht mehr. Aber das Ganze scheint nicht aufzugehen.
JN: Ja, hier zeigt sich die Sinnkrise. Es ist exakt dieser immer energischere, immer stärker aushöhlende, erdrückende und ermüdende Versuch der Kontrolle sämtlicher Lebensbereiche. Der Mensch wird hier zu einer Datei, die eigene Existenz zu einem optimierbaren Format.
Die Fantasie der Optimierung schlägt aber zurück. Wenn wir etwa über die Digitalisierung sprechen, wird oft gesagt, dass wir die Digitalisierung meistern müssen. Wenn wir noch die Kontrolle hätten, dann gäbe es nicht die Notwendigkeit, so darüber zu reden. Hier zeigt sich, dass uns etwas entgleitet. Dieses Entgleiten könnte aber auch eine Gelegenheit sein, ein anderes Geschehen von Welt zuzulassen.
Denn im Moment des Loslassens zeigt sich auf einmal eine andere Gegenwart, in der die Welt dann eben nicht mehr ein optimierbares Objekt ist, sondern ursprünglich. Eine Welt, die geschieht. Eine geschichtliche Welt, die mehr ist als ein hyperreales Konstrukt. Wir kommen wieder in eine Erfahrung, in der der Mensch merkt, was Schicksal ist. Was es heißt, die Aufgabe anzunehmen, sterblich zu sein. Es wird heute viel von Verantwortung gesprochen. Was heißt es, Verantwortung für die Sterblichkeit zu übernehmen? Und dafür in einer Zeit eines radikalen Sinnentzugs zu leben? Wir müssen irgendwie mit dem Tod Gottes und diesem radikalen Verlust umgehen. Das ist unsere Aufgabe. Und dazu gehört dieses Entgleiten, die Fähigkeit, wirklich diesen radikalen Entzug zu denken.
Die mögliche Schönheit des Seins
e: Aber könnte das uns nicht auch in eine Welt der künstlichen Intelligenz führen, die letztlich alles durchprogrammiert, sodass wir bis selbst zu einem Anhängsel einer algorithmisch gesetzten Wirklichkeit werden?
JN: Ja und nein. Die Frage ist, was lassen wir da fahren? Künstliche Intelligenz versucht, durch Algorithmen und Digitalisierung die Welt perfekt manipulierbar zu machen. Aber es braucht immer den Menschen. Der Mensch ist immer als Medium notwendig. Und sei es nur für Kapitalströme, sozusagen als Durchlauferhitzer des Kreditsystems, das schnell zusammenbrechen würde, wenn keiner mehr konsumiert. Auch dieses äußerst sinnlose Treiben braucht noch den Menschen!
In dieser Situation loszulassen würde bedeuten, den Willen zur Kontrolle und zur Manipulation loszulassen. Und dadurch könnte sich langsam eine Entmächtigung dieser Schattenwelt der totalen Kontrolle ergeben.
Heidegger spricht davon, dass der »eigentliche Nihilismus« darin besteht, dass sich das Sein immer schon entzogen hat. Das Sein selbst ist der Entzug. Die Revolte der Moderne gegen das Sein besteht in dem Versuch, das Sein zu setzen und verfügbar zu machen. Heidegger meint, wir können die Technik nicht willentlich überwinden. Dann wären wir zurück im Räderwerk. Deswegen spricht Heidegger von der Gelassenheit, vom Loslassen und von einem »Verwinden«.
MAN SIEHT SELBST DIE EIGENE EXISTENZ ALS ETWAS, DAS ES ZU PERFEKTIONIEREN GILT
In diesem Zusammenhang spricht er auch vom »Geviert« der Welt, in welcher der Mensch sterblich ist und in der es eine Göttlichkeit oder eine Heiligkeit gibt. Die Dinge sind hier heilig, weil sie begrenzt, einzigartig und unverfügbar sind und eben nicht austauschbar. Durch die Unverfügbarkeit zeigt sich eine ganz andere Gegenwart von Welt. Das »Geviert« ist kein Versprechen einer Utopie nach dem Gestell der Technik. Das Geviert ist vielmehr nur als Rettung im Gestell der Technik möglich, dann, wenn ich etwas sein lasse und es auf mich zukommen lasse. Und indem man diese Setzungen loslässt, geschieht Freiheit.
e: Und das ist ein Ausweg aus dem Nihilismus?
JN: Es kommt darauf an, was man mit Nihilismus meint. Die Sinnkrise rührt ja vielleicht auch daher, dass wir meinen, wir müssten die ganze Zeit für uns selbst Bedeutung oder Sinn setzen. Da kommen dann die angesprochenen Vorstellungen ins Spiel. Die Gefahr ist, dass dies inflationär betrieben wird und ich so am nächsten Tag wieder wegstoßen kann, was ich heute als sinnvoll oder als wichtig für mich empfunden habe.
Das Nichts, der Tod, der radikale Entzug, die Vergänglichkeit, die Endlichkeit schwingen immer schon mit in einem Augenblick, in dem etwas sein gelassen wird. So ist der als endlich verstandene Augenblick einmalig. Wenn ich den Entzug zulasse, kann sich der Entzug selbst auffächern. Darin zeigt sich die Einmaligkeit und damit die Schönheit des Seins, eben genau wegen der Endlichkeit. Das sind die Augenblicke, in denen sich die Möglichkeit einer radikal anderen Welt zeigt, die möglich ist.
Wir müssen ernst nehmen, was es bedeutet, dass wir diese Ersatz-Aktivitäten wie den Konsum haben, dieses Auffüllen der Leere mit materiellen Dingen. Vielleicht ist die Aufgabe, sich darauf einzulassen, dass es so wirklich keinen Sinn gibt. Wenn wir tatsächlich am Endpunkt der Subjektivität angekommen sind, wie ich meine, dann sind Phänomene wie radikale Vereinzelung und Isolation die schmerzhaften Geburtswehen einer neuen Zeit.
Wir müssen sehen, in welcher geschichtlichen Situation wir sind, die sich auch mit Sinnkrise und Nihilismus bezeichnen lässt. Gott ist tot und spricht nicht mehr zu uns. Der Entzug des Göttlichen ist auch Thema von Hölderlins Empedokles. Dies ist maßgebend für die Moderne.
In einer solchen Zeit gibt es zwar manche, die eine »Sinn-Pille« feilbieten. Unsere Aufgabe scheint mir eher zu sein, sich in dieser Zeit auf schmerzhafte Fragen einzulassen, ohne sich einer Antwort sicher zu sein. Es gibt vermutlich nicht einfach ein Erwachen aus der Sinnkrise. Es braucht zunächst ein Erwachen zur Sinnkrise.«