Unsere Sehnsucht nach Transzendenz

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

April 17, 2018

Featuring:
Andrew Delbanco
Walker Percy
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Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
Was ist heute heilig?
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Sex, Gender und das Heilige

In einer Zeit, in der viele Menschen die Verbindung zum Ganzen des Lebens verloren haben, werden die unterschiedlichen Dimensionen unserer Geschlechtlichkeit oft als Wege gesehen, um einen tieferen Sinn im Leben zu finden – sei es in dem Versuch, Sex als heilig zu erklären, oder traditionelle Geschlechterrollen zu stärken. Aber können solche Versuche wirklich unsere Sehnsucht nach einem Leben in Einheit erfüllen?

»Die erstaunlichste Eigenschaft unserer Zeit ist die ungestillte Sehnsucht nach Transzendenz«, schrieb der US-amerikanische Professor Andrew Delbanco schon 1999. Delbancos Bemerkung hat für mich einen tiefen Sinn. Die rastlose Suche des Menschen nach dem Ganzen, dem Endgültigen, nach existenzieller Bedeutung und nach Sinn ist atemberaubend. Das ist die Tiefendimension der Transzendenz. In einem globalen Kontext, der sich eher durch ökonomisches Denken als durch menschliche Werte definiert, bekommt das menschliche Herz wenig Möglichkeiten, transzendente Einheit direkt zu erfahren. Transzendenz ist die wahre Heimat des Herzens. Das Heilige offenbart sich im Transzendenten – in einem kurzen Blick ins Unendliche, der lebendigen Erkenntnis, nicht getrennt zu sein oder in einem intuitiven Erfassen der Ganzheit, auf die wir uns in unseren besten Augenblicken oder in der spirituellen Praxis ausrichten. Das, was wir als heilig betrachten – unverletzlich, existenziell –, wird zu dem festen Grund, auf dem unsere Werte ruhen.

Delbanco stellt fest, dass der Horizont der Transzendenz geschrumpft ist, von Gott über die Nation auf das Selbst. Dabei hat er die USA im Fokus, doch auch in Deutschland und in ganz Europa hat sich dieser Horizont verengt. Einerseits zeigt diese Entwicklungsrichtung die Bildung des autonomen, in seinen Entscheidungen freien Individuums, doch andererseits zeigt sie auch einen Verlust an Vertrauen und Hoffnung im Leben und in der Gesellschaft – und wir bleiben allein zurück.

Transzendenz ist die wahre Heimat des Herzens.

Ich frage mich, was Delbanco über unsere heutigen Versuche, hier im Westen diese Sehnsucht zu stillen, denken würde. Ich könnte so viele kulturelle Trends aufzeigen – von der New-Age-Spiritualität über Extremsport bis zum krisenhaft ansteigenden Missbrauch von Opiaten –, durch die das isolierte Selbst, ohne sich einem Größeren hinzugeben, nach einem letzten Sinn, nach der ultimativen Erfahrung sucht. Aber ich möchte meine Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, dass viele Menschen ihre Sehnsucht nach Transzendenz auf die Geschlechtlichkeit (im Sinne von Sex und von Gender) richten. Es ist interessant, dass dies sowohl für spirituell aufgeschlossene postmoderne Menschen gilt, die das Heilige im Sex suchen, wie auch für Traditionalisten, die sich an das Sakrament der Ehe und an einen wieder erstarkenden Nationalismus klammern. Ich möchte erkunden, weshalb sexuelle und Gender-Identität unsere Sehnsucht nach Transzendenz letztlich nicht stillen können, unsere Verbindung in einem größeren Ganzen das hingegen vermag.

Das Sakrament der Verlorenen

Wenn sich der Horizont der Transzendenz auf das Selbst verengt, wird der Sex zum »letzten ›Sakrament der Verlorenen‹«, zitiert Delbanco den Romancier Walker Percy. Das Wort »verloren« sticht für mich heraus. Was soll das bedeuten? In gewisser Hinsicht sind wir im Kosmos heimatlos und verloren. Die engen Bande, die uns mit dem Leben und mit der Lebendigkeit verbinden, sind durchtrennt. Die Unmittelbarkeit und das ehrfurchtgebietende, ungeheure Ausmaß dessen, wer wir sind und wo wir uns befinden, kann uns zu der Demut führen, die nötig ist, um als Teil eines Ganzen zu leben. Ohne sie leben wir in Unsicherheit – und versuchen, mithilfe intimer Beziehungen in der Schönheit und Verletzlichkeit eines anderen kleinen Selbst Halt zu finden. Doch gleich, wie wunderbar oder wie wesentlich er auch sein mag, Sex kann das Gewicht unserer Sehnsucht nach Transzendenz nicht tragen.

Ich kann mir vorstellen, dass einige diesen Aussagen widersprechen werden und argumentieren, dass meine Liebe für Transzendenz – eine Liebe, die ich gemeinsam mit Religionen habe, die man oft als patriarchal, absolutistisch bezeichnet – die Heiligkeit unseres Körpers, der Natur und die von Mutter Erde ignoriert. Andere könnten anführen, dass die Sexualität, weil sie den göttlichen Lebensfunken in uns berührt, immer heilig ist (natürlich nur, sofern kein Missbrauch im Spiel ist). Nach meinem Verständnis ist Transzendenz aber nicht das Gegenteil von Immanenz, sondern ihre Erfüllung. Unsere Körperlichkeit wird erst heilig durch die Erkenntnis des Nicht-Getrennt-Seins von allem . Es gibt in der gegenwärtigen spirituellen Szene viele, denen das »Alles ist heilig« so leicht von den Lippen geht. Ja, das stimmt, aber wenn diese Aussage nicht von dem gelebten und verkörperten Gewahrsein getragen wird, dass es in und zwischen uns eine lebendige, heilige und allseits verbundene, unendliche Bewusstheit gibt, läuft sie auf dasselbe wie der Satz hinaus, nichts sei heilig. Dann ist es nur ein Konzept.

Während der vergangenen sechzig Jahre waren Tantra, NeoTantra, Workshops, Bücher und Vorträge über »Sacred Sex« überaus populär. Gleichzeitig hat sich die Pornografie explosionsartig ausgebreitet. Beide streben, wenn auch auf ganz unterschiedlichen Wegen, danach, Trennung und Entfremdung durch Sex zu überwinden. Sei es durch den kurzen Rausch der Erleichterung oder durch ein andauerndes Gefühl ekstatischer Vereinigung. Wir suchen durch die Sexualität etwas überwältigend Bedeutsames, das unserem Leben einen tieferen Sinn verleiht, oder möchten zumindest für einen Augenblick dem Schrecken der Verlorenheit entkommen.

Unsere Körperlichkeit wird erst heilig durch die Erkenntnis des Nicht-getrennt-Seins von allem.

Heilender und heiliger Sex

Menschliche Intimität, in der wir die Verletzlichkeit von Leib und Seele miteinander teilen, ist äußerst kostbar. Für mich steht nicht in Frage, wie wunderbar, berauschend und lebensbejahend Sex sein kann. Ich frage mich nur, ob er wirklich heilig ist. Die Verwandtschaft zwischen dem Wort »heilig« und dem Wort »heil« verweist auf zwei Aspekte, die beide enorm wichtig sind: Einmal geht es um das »Heil«, das heißt, das Gebrochene und Fragmentierte wird ganz, zum anderen um den Bezug zum Göttlichen, eben zum »Heiligen«. Die Sexualität sollten wir wohl eher im Licht ihres heilenden Potenzials betrachten denn als ein Mittel, unsere Sehnsucht nach Transzendenz zu stillen.

Für viele – vielleicht alle – Menschen ist die Sexualität der Ort, an dem wir auf die Ängste und Begierden unserer Kindheit stoßen. Die Psyche des Menschen hat einen natürlichen Drang, von selbst ganz zu werden und die Anteile zu heilen, in denen wir gebrochen sind oder festsitzen. Sie versucht das aber oft dadurch, dass sie uns zwingt, dieselben Dramen, dieselbe Zurückweisung immer und immer wieder zu wiederholen. Das wird im Fall der Pornografie besonders klar, wo dieselben Muster von männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung bis zum Erbrechen durchgespielt werden. Heilende Sexualität schafft einen Raum des Vertrauens, in dem unser Selbst – Leib und Seele – seine innewohnende Ganzheit gemeinsam mit einem anderen Menschen erfahren kann.

Allerdings gibt es einen Weg, wie Sex »den Schleier« der Trennung »lüften« kann, um die transzendente Einheit des Lebens zu offenbaren. Jenny Wade, Autorin von »Transcendent Sex«, hat untersucht, wie sexuelle Intimität zur unerwarteten Öffnung für zutiefst transzendente spirituelle Erfahrungen werden kann. Mit anderen Worten, Sex kann zu einer Erfahrung der grenzenlosen Quelle des Lebens selbst führen – oder zu einer Erfahrung der vielen Schichten der Realität jenseits des Begreifens durch unseren Verstand. In diesem Sinn kann uns Sexualität einen Zugang zu tiefer Transzendenz gewähren, auch wenn die sexuelle Begegnung an sich nicht die Quelle dieser göttlichen Transzendenz sein mag.

Vater/Mutter, männlich/weiblich

Delbanco zeichnet den Rückgang unseres Horizonts der Transzendenz – oder dessen, was wir als Quelle des Heiligen in unserer Kultur erahnen – von Gott über die Nation zum Selbst. Gleichzeitig gibt es derzeit eine regressive Bewegung, die die Nation, ethnische Reinheit und Tradition wieder als Kontext für einen gemeinsamen transzendenten Sinn und Zweck etablieren möchte. Zentrales Anliegen dieser Menschen ist es, die traditionellen sexuellen und Gender-Rollen wieder zu stärken. Diese Neo-Traditionalisten sehen, wie die postmoderne Kultur die Welt ins Chaos stürzt, die immer zügelloser wird und in der – so würden sie sagen – nichts mehr heilig ist. Deshalb suchen sie ihre Zuflucht in den kleinen, reinen Annehmlichkeiten einer Welt von Mutter, Vater und Kindern.

Ich kann durchaus den Wunsch verstehen, die eigene Identität als Mann oder Frau in einen höheren Bereich von größerem Sinn und weiterer Bedeutung zu heben. Der Druck des avantgardistischen, postmodernen Individualismus, der die Geschlechtsidentität als beliebig formbar und losgelöst von biologischen und kulturellen Gegebenheiten betrachtet, droht die Fundamente des traditionellen Lebens zu dekonstruieren und zu unterminieren. Kein Wunder, dass dies als unmittelbare Bedrohung für ein traditionalles Verständnis von Gemeinschaft wahrgenommen wird. Nimmt man die »Invasion« von Muslimen hinzu, deren Gebräuche und Lebensstil sich so andersartig anfühlen, dann beginnt die bislang unhinterfragte Autorität der christlich-abendländischen Identität als Quelle von Sinn und Orientierung zu bröckeln. Die Traditionalisten versuchen sich zu wehren, indem sie wieder eine Leitidee von Heimat behaupten, um die Würde und den Wert des heiligen Familienlebens zurückzugewinnen.

Es gibt in der gegenwärtigen spirituellen Szene viele, denen das »Alles ist heilig« so leicht von den Lippen geht.

Komischerweise ähnelt das Insistieren der Traditionalisten, die traditionellen Rollen von Vater und Mutter, Ehemann und Ehefrau seien heilig oder zumindest sakrosankt, durchaus der Sakralisierung des Weiblichen (und manchmal auch des Männlichen) in postmodernen spirituellen Kreisen. Es unterscheidet sich auch nicht besonders von der Forderung einer Transgender-Orientierung, dass das Recht, selbst entscheiden zu können, ob man männlich oder weiblich ist, als sakrosankt, also unantastbar anzusehen ist. Bei all diesen kulturellen Bewegungen gestaltet das Ideal oder der Archetyp der eigenen Geschlechtsidentität das Leben und Potenzial der betreffenden Menschen. Dies kann einen engen Raum der Kreativität schaffen – nämlich die Möglichkeit, sich ein Idealbild der eigenen Geschlechtlichkeit zu erarbeiten – sowie eine gewisse Sicherheit in dem Glauben, dass man weiß, wer man selbst ist. Aber kann das wirklich unseren Durst nach Transzendenz stillen?

Ich glaube nicht. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass der Versuch, die Geschlechtlichkeit zu heiligen oder in Richtung eines tieferen Sinns oder weiterer Bedeutung zu überhöhen, das Heilige profaniert. Dann ersticken wir nämlich den tiefsten Wunsch des Herzens nach Nicht-Getrennt-Sein – nach einer Verbindung –, der weit über das hinausgeht, was wir in der Sexualität und in unseren Vorstellungen von Geschlechtsidentität vorfinden.

Das Heilige, das aus Bezogenheit erwächst

Delbanco bemerkt unter Verweis auf Alexis de Tocqueville, dass wir, wenn sich der Horizont der Transzendenz auf das Selbst reduziert, allein gelassen sind mit »den unvollkommenen Freuden dieser Welt«, die »das Herz niemals zufriedenstellen« können. Diese »unvollkommenen Freuden« sind endlich, materiell, begrenzt durch unsere Sterblichkeit und Getrenntheit. Wenn wir versuchen, das Letztgültige in den Armen eines anderen Menschen oder in einem Gender-Archetyp zu finden, mögen wir glauben, eine Boje gefunden zu haben, an der wir uns in den Stürmen des Lebens festklammern können. In Wahrheit erlöst uns dieses Klammern nicht von unserer existenziellen Angst. Eher macht es uns noch unsicherer und weniger geerdet, weil wir von unserem Partner abhängig sind oder davon, unsere Geschlechtlichkeit »richtig« zu leben. Das Göttliche ist grenzenlos, ewig, und deswegen zeigt es uns, dass wir sowohl unendlich als auch unendlich klein sind. Und dass es nichts zu fürchten gibt. Das Herz findet seine wahre Heimat im Grenzenlosen, nicht in den Beschränkungen unserer abgetrennten Identität und unserer Impulse.

Das Herz findet seine wahre Heimat im Grenzenlosen, nicht in den Beschränkungen unserer abgetrennten Identität und unserer Impulse.

Aber ich möchte nicht so verstanden werden, dass ich mir des Potenzials intimer Beziehungen oder der Heiligkeit jedes einzelnen Menschen nicht bewusst bin. Im Gegenteil. Meine Hoffnung für die Zukunft liegt auch darin, dass »Heiligkeit« wieder Teil aller unserer Beziehungen, auch der zur Natur und zum Leben selbst wird. Leben ist heilig und jeder Aspekt des Lebens beinhaltet diese Heiligkeit. Das ist kein Konzept, keine nette Idee, nichts, woran wir uns festklammern könnten. Das Leben schwingt in Resonanz mit dem Heiligen, wenn es eingestimmt ist auf eine tiefe Erkenntnis der unendlichen Tiefe des Bewusstseins und des lebendigen schöpferischen Potenzials zwischen uns. Erstaunlicherweise kommt diese Erkenntnis heute in den unterschiedlichen Ecken der progressiven spirituellen Welt zum Vorschein. Eine Neugier, eine neue Offenheit für das Mögliche ruft Experimente hervor, Bewusstheit in intersubjektiven Zusammenhängen zu ko-kreieren. In diesem gemeinsamen »Wir«-Raum emergiert ein Feld der Lebendigkeit, das man nicht anders als heilig nennen kann.

Unser Bedürfnis nach Transzendenz ist das Bedürfnis, das Heilige wiederzuentdecken als eine reale, lebendige Dimension des Lebens, das wir miteinander und mit allen lebenden Wesen teilen. Es bricht mir das Herz – in ganz positivem Sinn –, wenn ich sehe, wie wir uns so inständig wünschen, eine Heimat im Kosmos zu finden, selbst wenn uns das zu extremem Sex führt oder zur extremen Rechten treibt. Diese unablässige Sehnsucht, dieses unablässige Hinausgreifen über uns selbst, dieses Ringen um die Antwort auf die Frage, weshalb wir hier sind, das alles macht uns erst wirklich zu Menschen. Eine liebevolle, grenzenlose Intimität erwartet uns, wenn wir aufhören, mit Sexualität und Geschlechtlichkeit umzugehen, als wären sie der Schlüssel zum Himmel. Diese Nähe, diese Intimität ereignet sich im Zusammenspiel mit anderen, und doch reicht sie tiefer als wir selbst. Erwecken wir diese Heiligkeit, diese Liebe wieder in uns, sind wir gerufen, unsere Identität und unser verzweifeltes Getrennt-Sein zu transzendieren und nach Hause zu kommen, gemeinsam, in das Geheimnis dessen, wer wir sind.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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