Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
July 17, 2023
Welche Rolle kann das Heilige in einer säkularen, pluralistischen, offenen Gesellschaft spielen? Diese Frage vertiefen der integrale Denker Ken Wilber und der Benediktinermönch Bruder David Steindl-Rast in ihrem Dialog.
evolve: Was ist eurer Ansicht nach die Rolle der Religionen in unserer postmodernen säkularen Gesellschaft?
David Steindl-Rast: Das Wort Religion kommt von der Wurzel »religare«, was so viel bedeutet wie »wieder verbinden« – die zerbrochenen Verbindungen zwischen uns und unserem wahren Selbst, zwischen uns und allen anderen Lebewesen und zwischen uns und dem großen Mysterium, das die, welche das Wort benutzen wollen, Gott nennen. Das Wiederherstellen und Heilen dieser zerbrochenen Verbindungen kommt aus unserer Religiosität, und es ist – idealerweise – die Aufgabe jeder Religion, sie durch Lehre, Moral und Ritual zu verwirklichen.
Nun können wir fragen, auf welche Weise die verschiedenen Religionen aus der uns allen gemeinsamen Religiosität entspringen. Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte und inspiriert durch besonders religiöse Menschen – die Religionsstifter – bringt eine Gemeinschaft Religiosität zu einem für ihre Kultur stimmigen Ausdruck. Daraus kann eine Tradition entstehen, die in der Geschichte fortbesteht. Religiosität ist also der Mutterschoß, aus dem die Religionen geboren werden.
Ken Wilber: Die Religionen gehen davon aus, dass es einen ewigen, absoluten und letztendlich unbeschreibbaren Urgrund des Seins gibt. Wir Menschen scheinen eine innewohnende Fähigkeit zu haben, unsere Einheit mit diesem Urgrund des Seins zu erkennen. Und darauf fokussieren sich die mystischen Traditionen in Ost und West.
DSR: Man könnte sagen, dass Religiosität eine uns angeborene Fähigkeit ist, die der Fähigkeit zu sprechen ähnelt. Alle Menschen werden mit der Sprachfähigkeit geboren, aber um zu reden, müssen wir eine bestimmte Sprache sprechen. Ebenso ist allen Menschen Religiosität angeboren, die ihren Ausdruck aber in einer bestimmten Religion finden muss – einer traditionellen oder einer privat entwickelten.
KW: Ich denke, die Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion oder Spiritualität ist wichtig, wenn wir überlegen, wie sich Religion weiterentwickeln kann, insbesondere in unserer säkularen Welt. In der Tat ist Spiritualität oder Religiosität ein Impuls, den alle Menschen besitzen. In der Vergangenheit wandten sich die meisten Menschen den religiösen Institutionen zu, die als Vermittler für den Ausdruck ihrer Religiosität dienten. Wir können zumindest theoretisch unterscheiden zwischen diesem religiösen Impuls, den jeder Mensch besitzt, und der Art, wie er ihn zum Ausdruck bringt.
Ein neuer Ausdruck von Religion
e: Wir leben heute, speziell in Europa, in einer Zeit, die wir als pluralistischen Säkularismus bezeichnen könnten. Es gibt zwei Fundamente: Unsere Gesellschaft ist säkular, d. h. das wissenschaftliche Paradigma bestimmt die Rahmenbedingungen, nicht der religiöse Glaube. Und unsere Gesellschaft ist pluralistisch und offen – ohne eine dogmatische Grundlage der Religion. Hier stellt sich die Frage, wie der religiöse Impuls einen neuen Ausdruck finden kann, der sich in Kommunikation mit unserer säkularen pluralistischen Gesellschaft befindet.
»Religiosität ist der Mutterschoß, aus dem die Religionen geboren werden.« David Steindl-Rast
DSR: Wie Ken bereits sagte, können wir alle in einer direkten spirituellen Erfahrung unsere Einheit mit dem Urgrund des Seins erkennen. Wir können uns also einer Wahrheit bewusst werden, die außerhalb von Raum und Zeit ist und sich nicht verändert. Aber ihr Ausdruck sollte sich verändern, weil die Zeiten sich ändern und neue Bedürfnisse auftreten. Um zu beschreiben, wie ich diese zwei Dimensionen in meiner eigenen Religion erlebe, verwende ich die Metapher von rostigen Rohren. Die Formen sind verrostet, aber das Wasser, das hindurchfließt, ist immer noch das lebensspendende Wasser. Ich kann entweder auf den Rost schauen oder ich kann das Wasser trinken. Unser säkulares Klima ist jedoch kalt und das lebensspendende Wasser gefriert durch unsere kalte Gleichgültigkeit. Wir brauchen also eine Form der Lehre, die uns zurückführt zu der spirituellen Erfahrung, von der Ken gesprochen hat. Wir brauchen Rituale, die uns helfen, diese Erfahrung immer wieder lebendig zu erneuern. Und wir brauchen eine Moral, die zeitgemäß ausdrückt, wie Menschen handeln, wenn sie sich dessen bewusst sind, dass sie zusammengehören. Aber sehr oft gefriert die Lehre und wird zu Dogmatismus, das Ritual wird zu Ritualismus und die Moral wird zu Moralismus. Wie können wir dann dieses Eis wieder auftauen und in lebensspendendes Wasser verwandeln? Wir können dieses gefrorene Wasser nur durch die Wärme unseres eigenen Herzens auftauen – durch das Feuer unserer Religiosität. Dann wird es wieder lebendiges Wasser für uns selbst und für alle, denen wir begegnen. Deshalb ist es so wichtig, immer und immer wieder zu unserer Religiosität tief in unserem Herzen zurückzukehren. Nichts anderes kann uns genug innere Wärme geben, um das Eis von Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus wieder aufzutauen.
KW: Ja, besonders wichtig ist die direkte Erfahrungskomponente der Spiritualität. Das ist der Prozess, der in der integralen Theorie als »Aufwachen« bezeichnet wird. Diese Erfahrungen interpretieren wir dann durch Ideen und Konzepte, die unsere spirituelle Intelligenz formen. Diese Intelligenz wächst und entwickelt sich durch verschiedene Entwicklungsstufen, die immer umfassender werden und in der Lage sind, mehr Perspektiven zu sehen. Das bezeichnen wir als »Aufwachsen«. Das trifft für alle Formen der Intelligenz zu, wie zum Beispiel die emotionale, moralische oder ästhetische Intelligenz. Sie bewegen sich durch eine Abfolge von Stufen; wir bezeichnen sie als archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch/relativistisch bis hin zu integral oder systemisch.
Eine Brücke bilden
e: Ein Aspekt unserer globalen Krise ist, dass Menschen, die aus traditionellen Gesellschaften kommen, die einen Bezug zum Heiligen haben, in einer Art Schockzustand sind – da unsere postmoderne relativistische Gesellschaft jeden Bezug zu dieser heiligen Dimension verloren zu haben scheint. Aus deren Sicht ist die postmoderne westliche Gesellschaft gottlos. Dies verstärkt auch verschiedene Formen des Fundamentalismus.
»Wir in der westlichen Gesellschaft haben aber den persönlichen Bezug zum großen Geheimnis verloren.« David Steindl-Rast
Meine Frage ist: Können Menschen, die ein tiefes Bewusstsein der Würde der modernen Kultur, der westlichen Aufklärung, der Errungenschaften des postmodernen Pluralismus haben, neue Wege finden, um das Heilige auszudrücken und sich auf das Heilige zu beziehen? Und könnte das auf eine Weise geschehen, die eine Brücke zwischen der säkularen Gesellschaft und den religiösen Empfindungen bildet?
DSR: Ich kann die Gefühle religiöser Menschen völlig verstehen, die auf unsere westliche Gesellschaft blicken, sie unreligiös nennen und in dieser Hinsicht kritisieren. Wir müssen zugeben, dass unsere Gesellschaft die Beziehung zum göttlichen Geheimnis verloren hat und dadurch verantwortungslos geworden ist. Wir können uns heutzutage herausnehmen, was immer wir wollen, und sind niemandem gegenüber verantwortlich. Der Grund dafür ist, dass wir einen absolut erstaunlichen Aspekt des großen Mysteriums aus dem Blick verloren haben: Wir können zum Mysterium in einer ganz persönlichen Beziehung stehen. Wir in der westlichen Gesellschaft haben aber den persönlichen Bezug zum großen Geheimnis verloren und damit auch das Bewusstsein unserer Verantwortung. Wir denken nur selten über das große Geheimnis nach und erkennen es noch seltener als unser »Ur-Du«. Wir haben den Sinn für diese tiefste aller persönlichen Beziehungen eingebüßt. Das göttliche Geheimnis ist aber mein eigentliches »Du«. Ich kann nur »ich« sagen, weil ich ganz persönlich auf dieses Geheimnis bezogen bin. Nur in dem Maße, in dem uns das bewusst wird, erleben wir Verantwortungsbewusstsein – das Angerufenwerden vom Geheimnis und das Antworten auf diesen Ruf. Das große Geheimnis begegnet uns konkret als das Leben. In jedem Augenblick gibt uns das Leben irgendeine Gelegenheit, die wir als Aufruf zu einer Antwort verstehen dürfen. Wenn wir lernen, hinzuhorchen und zu antworten, dann und nur dann leben wir verantwortungsvoll – wir antworten dadurch letztendlich dem großen Geheimnis. Wir müssen dieses Mysterium nicht »Gott« nennen. Ich bin sehr vorsichtig mit dem Wort Gott; es wird zu oft missbraucht. Wenn wir uns des Lebens als Mysterium bewusst werden und uns bemühen, dem täglichen Leben in jedem Augenblick gerecht zu werden, dann ist das genug, um unser verlorengegangenes Verantwortungsbewusstsein wiederzugewinnen.
KW: Eine unserer Hauptschwierigkeiten mit der Beziehung zum Mysterium sehen wir in der historischen Entwicklung der Religionen. Wenn wir zum Beispiel das Christentum betrachten, begann diese Religion mit einer Vielzahl von mystischen Erfahrungen. Man kann kaum eine Seite im Neuen Testament lesen, wo nicht irgendjemand durch einen Feuerring um den Kopf gekrönt wird oder eine weiße Taube herabkommt. Sogar Jesus Christus beschrieb sein mystisches Erwachen im Fluss Jordan. Doch als die ersten zwei oder drei Jahrhunderte voranschritten, sammelte das Christentum all seine Mythen, und die Religion selbst wurde mythisch. Der Theologe James Fowler nennt diese Stufe »mythisch-wörtlicher Glaube«, weil die Wahrheit in der Bibel, insbesondere für Fundamentalisten, empirisch und absolut wahr ist: Moses teilte wirklich das Rote Meer, Lots Frau erstarrte wirklich zu einer Salzsäule, Jesus Christus wurde wirklich von einer biologischen Jungfrau geboren. So wurde die Religion in ein mythisch-wörtliches Glaubenssystem gesperrt. Die westliche Aufklärung war der Versuch, sich aus dem mythisch-wörtlichen Denkmodus zu befreien und ein rational-wissenschaftliches Denken zu entwickeln. Deshalb begannen die modernen Wissenschaften und damit die moderne Physik, Chemie, Astronomie, Geologie usw. All diese Disziplinen entstanden mit dem Auftauchen dieser neuen rationalen Bewusstseinsstufe.
»Besonders wichtig ist die direkte Erfahrungskomponente der Spiritualität.« Ken Wilber
In Anbetracht dessen würde ich sagen, dass das heutige Hauptproblem mit der westlichen Religion darin besteht, dass sich ihre grundlegenden interpretativen Voraussetzungen häufig noch auf der mythisch-wörtlichen Stufe bewegen.
DSR: Du richtest dein Hauptaugenmerk auf die Religionen. Aber ich denke, wir befinden uns heute weltweit in einer sehr dringlichen Situation. Wir können nicht warten, bis die Religionen langsam heranwachsen. Wenn wir einer Religionsgemeinschaft angehören, müssen wir unser Bestes tun, um in ihr diesen Reifeprozess zu unterstützen. Aber nur alle gemeinsam – als Menschheitsfamilie über die Religionen hinaus – können wir der gegenwärtigen Herausforderung gewachsen sein. Wir brauchen etwas, das zu allen Menschen spricht, ob sie sich mit einer religiösen Tradition identifizieren oder nicht – wir brauchen eine weltumspannende Ethik. Wir bräuchten daher ein Bildungssystem, das Ethik bewusst fördert. Das wäre ein Ansatzpunkt, um unsere heutige verantwortungslose Gesellschaft dazu zu bringen, Verantwortung für uns persönlich, für die Menschheitsfamilie und für den ganzen Planeten zu übernehmen.
KW: Damit stimme ich überein. Und ich möchte noch etwas hinzufügen: Wenn wir zurückgehen zur westlichen Aufklärung, zum Beginn der modernen Wissenschaften, hätten sich die modernen Wissenschaften auch zusammen mit einer modernen Interpretation der Religion entwickeln können. Weil aber die Religion und ihre populären Anhänger so stark mit den dogmatischen Glaubenssätzen identifiziert waren, blieb sie dem mythischen Glaubenssystem verhaftet, was es nahezu unmöglich machte, sich zu einer Ausprägung der Religion zu bewegen, die mit der Wissenschaft vereinbar ist. Denn es gibt durchaus rationalere Erklärungen für Dimensionen, die selbst nicht rational sind. Wir können über sie rational sprechen, und es gibt Praktiken, die man ausführen kann, um im Inneren diese Dimensionen zu finden und so aufzuwachen.
Weil wir aber diese Stufen des Aufwachsens nicht sehen können, wenn wir nach innen schauen, hat keine Religion auf der Welt ein Verständnis für die spezifische Natur dieser Stufen des Aufwachsens entwickelt. In unserer Menschheitsgeschichte gab es kein System, in dem beides praktiziert wurde: Aufwachen UND Aufwachsen. Die Menschen praktizieren entweder nur das eine oder das andere, und damit praktizieren sie im Grunde die Spaltung. Denn das Ideal wäre eine authentische Erfahrung des Aufwachens, die wir von der höchstmöglichen, umfassendsten Entwicklungsstufe aus interpretieren. Aufgrund dieser Spaltung gibt es die Trennung zwischen der modernen Wissenschaft und der mythischen Religionen.
Ehrfurcht lernen
DSR: Deshalb wäre der nächste Schritt, dass wir die Lehren unserer eigenen Religion – sofern wir einer angehören – mit einer aufgeklärten Weltsicht verbinden, welche die Wissenschaft ernst nimmt.
Das bedeutet aber auch, dass wir eine neue Haltung innerhalb der Wissenschaft brauchen, eine Wissenschaft mit Ehrfurcht vor unserer Umwelt. All das, was Wissenschaft uns lehrt, kann Heranwachsenden auf solche Art vermittelt werden, dass es ihre Ehrfurcht stärkt. Das ist eine große Bereicherung. Es ist auch eine wundervolle Art, den Menschen, die keine Verbindung mehr zu einer Kirche haben, etwas zu vermitteln, was früher die Kirchen ihren Gläubigen zu geben vermochten: ein Gefühl von Ehrfurcht und Verantwortung.
In einer vereinfachten Form müsste dieser Ansatz auch in unsere Schulen gebracht werden. Deshalb setze ich mich für eine spirituelle Praxis ein, die einfach genug ist, um allen, auch Kindern, zugänglich zu sein: dankbar leben. Diese Praxis ist ganz einfach: Stop – Look – Go, oder Innehalten – Hinschauen – Handeln. Innehalten, weil wir sonst von Ablenkungen mitgerissen werden. Wenn wir es schaffen innezuhalten, können wir gelassen hinschauen und fragen: Welche Möglichkeit bietet mir das Leben jetzt an? Sobald wir diese Möglichkeit klar erkennen, heißt es zugreifen, das heißt handeln. Im Handeln antworten wir und zeigen Verantwortung, indem wir uns der Möglichkeit öffnen, die uns das Leben hier und jetzt anbietet. Diese drei einfachen Schritte, Innehalten – Hinschauen – Handeln, bringen uns in den gegenwärtigen Augenblick. Und im Jetzt zu sein ist ja das Ziel aller spirituellen Übungen. ■